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5. Jahrgang. 1903
Zeitschrift
für
Fädaaoatscbe P$y(l)olodie,
PatMogie und Hygiene.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
- Inhalt von Heft 1/2. - -
Ori^nai-Artlkei.
A. Döring, Über sittliche Erziehung und Moral Unterricht.
Georg Flatau, Die Psychologie der Zwangsvorstellungen.
A. Gusinde, Neue Versuche und Hilfsmittel im Oesangunterricht.
Karl Lösch hörn, Zur Behandlung und Bewertung der griechischen Dichter-
lektüre auf Gymnasien.
L Maurer, Beobachtungen über das Anschauungsvermögen der Kinder. I.
Sitzungsberichte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin. - Verein für Kinderpsychologie zu Berlin.
Berichte und Besprechungen.
M. C. Schuyten. - Hermann Walsemann. - Bcrthold Otto. - J. Trüper. -
Wilhelm Münch. - K. Marbe.
Mitteilungen.
Kinderforschung an der Clark-University. - Preisausschreiben. - Ober schul-
hygienischen Unterricht an höheren Lehranstalten. - Entwickhing der Hilfs-
schul Pädagogik in Berlin. - Aufruf.
Blbllotheca pädo-psychologica.
BERLIN S.W.
Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung
G. m. b. H.
JIhrllch erscheinen 6 tiefte k 5—6 Bösen.
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Zeitschrift
für
Pädagogische Psycboloate«
PatMofile und ^%kM
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
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— V. Jahrgang
Berlin SW.
Hermann Walther, Verlagsbuchhandlung, O. m. b. H.
1903.
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Inhalt des fünften Jahrganges.
1903.
Sdte
A. Abhandlungen.
A. Döring, Über sittliche Erziehung und Moralunterricht . . 1 — 20
Georg Flatau, Die Psychologie der Zwangsvorstellungen. . . . 21 — 35
A. Gusinde, Neue Versuche und Hilfsmittel im Gesangunterricht 36—49
Karl Löschhom, Zur Behandlung und Bewertung der griechischen
Dichterlektüre auf Gymnasien 50 — 61
L. Maurer, Beobachtungen über das Anschauungsvermögen der
Kinder. 1 62—85
Hermann Gutzmann, Zur vergleichenden Psychologie der Sprach-
störungen 161—178
Arno Fuchs, Beobachtungen an schwachsinnigen Kindern . . . 179 — 192
F. Kemsies und A. Grünspan, Über Rechenkünstler 193 — 207
Heinrich Idelberger, Hauptprobleme der kindlichen Sprachent-
wickelung. 1 241—237
Leo Hirschlaff, Zur Gesundheitspflege des Nervensystems . . . 298 — 322
Marx Lobsien. Kinderideale L 323—344
Dewey-Gurlitt, Die Schule und das öffentliche Leben I. . . . 345—364
Heinrich Idelberger, Hauptprobleme der kindlichen Sprachent-
wicklung n 426 — 466
Marx Lobsien, Kinderideale II 457 — 494
B. Sitzungsberichte.
Verein fflr Kinderpsychologie zu Berlin«
Döring, Über sittliche Erziehung und Moralunterricht .... 91 — 93
Gusinde, Neue Versuche imd Hilfsmittel im Gesangsunterricht 94 — 96
Diskussion 95—100
Kemsies. Die Schwachbefähigten auf höheren Lehranstalten . . 218 — 221
Fuchs, Beobachtungen an schwachsinnigen Kindern 221 — 228
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Eitz, Die Tonwortmethode in psychologischer und musikpada-
^ogischer Hinsicht 86 — ^90
Simmel, Über ästhetische Quantitäten 208—214
Liebmann, Die Sprache der Geisteskranken 215—218
Treitel, Über die neueren Theorien der Schallleitimg und
-empfindung 367—867
Gramzow, Über Gustav Ratzenhofer und seine positivistische Welt-
ansicht 368—870
Hellpach, Über die Aufgaben der Sozialpsychologie 371—372
.. Seite
Dessoir, Über eigene Beobachtungen an dem Medium „Eusapia
Palladino" 372—374
Moll, Spiritistische Wahngebilde 374—379
Gusinde, Beiträge zur Methodik des Schulgesangunterrichts in
ästhetischer und psychologischer Hinsicht 879 — 885
Arbeitsplan für das Winterhalbjahr 1903/4 405
Schmidt, Psychologie und Philosophie 496—498
Oppenheimer, Das Gesetz der Strömung in der Nationalökonomie 498 — 503
Pappenheim, Sehen und Darstellen 508 — 506
Brzlehungs- und Farsorce-Vereln fflr seistic zurflckgebllebene Kinder
zu Berlin.
Sammelbericht 223—224
Psychologische Gesellschaft zu Breslau*
Jahresbericht 1902/1903 390—391
Stern, Die Kinderpsychologie als theoretische Wissenschaft . . 391 — 394
Stern, Die Kinderpsychologie als angewandte Wissenschaft . . 394 — 394
Thiemich, Körperliche und Milieueinflüsse auf die Kindespsyche 395
Ostermann, Das Interesse: ein Kapitel aus der Psychologie des
Unterrichts 395— 39G
Kramer, Die Schulermüdung und ihre Messung 396 — 398
Goerke, Probleme der Kindersprache 398 — 399
Lipmann, Praktische Ergebnisse der experimentellen Unter-
suchungen des Gedächtnisses 399
Verein für Klnderforschung.
V. Versammlung des Vereins xu Halle 400 — 405
C. Berichte und Besprechungen.
Paedologisch Jaarbook, 3de en 4de jaargang 1902—1903 Stad Ant-
werpen 100 — 101
Hermann Walsemann, J. H. Pestalozzis Rechenmethode .... 101 — 107
Berthold Otto, Tirocinium Caesarianum 107—108
J. Trüper« Die Anfänge der abnormen Erscheinungen im kind-
lichen Seelenleben 108—109
Münch, Wilhelm, Geist des Lehramts. Eine Hodegeük für Lehrer
höherer Schulen 110
Marbe, K. Experimentell-psychologische Untersuchungen über das
Urteil. Eme Einleitung in die Logik 111—112
Hugo Magnus, Tafel zur Erziehung des Farbensinnes 224 — ^225
E. Stiehl, Eine Mutterpflicht 226
Heinrich Keiter, Die Kunst, Bücher zu lesen 226 — 227
Übungsaufgaben zu Prof. Dr. Wilmanns* Deutscher Schulgram-
matik. Bearbeitet von Dr. K. Bandow '227
Kanon deutscher Dichtungen. Zusanunengestellt durch Fach-
konferenzen des Königl. Theresien-Gymnasiums in München . 227 — 228
Dr. Arthur Wohlthat, Die klassischen Schuldramen nach Inhalt
und Aufbau 228—229
Adolf Heinzes Praktische Anleitimg ziun Disponieren deutscher
Aufsätze. Gänzlich umgearbeitet von Dr. H. Heinze . . . 229—230
Robert Seidel, Die Handarbeit, der Grund- imd Eckstein der har-
monischen Bildung und Erziehung 280 — 281
V
Seite
B. Otto, Lehrgang der Zukunftsschule nach psychologischen
Experimenten für Eltern, Erzieher und Lehrer 405-— 408
B. Otto, Der Hauslehrer 405—408
Eingesandt und Erwiderung 409
W. A. Lay, Experimentelle Didaktik. I. Teil 506—606
Versuche und Ergebnisse der Lehrervereinigimg in Hamburg . . 506 — 610
Gesunde Jugend 510—518
D« Mitteilungen.
Kinderforschung in der Clark University 114 — 122
Preisausschreiben 123
Über schulhygienischen Unterricht an höheren Lehranstalten . . 123 — 127
Entwicklung der Hilfsschulpädagogik in Berlin 127—132
Aufruf 132—133
Zur Entstehung der Sprache imd Begriffs bildun^ des Kindes . . 231 — 233
Die gemeinschaftliche Erziehimg beider Geschlechter in Amerika . 410 — 412
Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder 412—413
Preisausschreiben 619
Einladung zu dem Kongress für experimentelle Psychologie in
Giessen 619—623
E. Bibliotheca pädo-psychologica.
I/II 134—160
HI 234—240
IV/V 414-424
VI . 524-^680
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Zeitschrift
für
Pldaaoaiscbe Psycboloalc,
PatMoaic und llygiene.
Herausgegeben
Ferdiöand Kemsies und Leo Hirschlaft
Jahrg^ang V.
Berlin, April 1903.
Heft 1/2,
Über sittliche Erziehung und Maralunterricht.
Vortrag, gehalten am 16, Januar 1903 Im Verein für
Kinderpaycholögie am BerÜn
A. Döring,
Hochgeehrte Versammlung! Es handelt sich um ein sehr
weitläufiges und umfassendes Thema, das im Rahmen eines
Vortrages nur in lapidarer Kürze behandelt werden kann. Ich
glaube der mir gewordenen ehrenvollen Aufforderung am besten zu
entsprechen, wenn ich in erster Linie das Bild eines rein welt-
lich-naturlichen Moralunterrichts, der in der staatlichen Ele*
mentarschule an Stelle des Religionsunterrichts zu treten hätte^
wie es mir vorschwebt und wie es in meinem j^H and buch der
menschlich-natürlichen Sittenlehre für Eltern und Er-
zieher" Stuttgart 1899 ausführlich entwickelt ist, den Grundzügen
nach der Betrachtimg unterwerfe. Die sonstigen Funktionen der
sittlichen Erziehung lassen sich dann leicht daran anschliessen.
Als Folie für dieses Büd möchte ich zunächst einige
Züge aus dem grossen Experiment der französischen
Republik mit der Volksschule mitteilen. Dieses Experi-
ment verdient noch mehr Beachtung, als ihm anscheinend bei
ans bisher gezollt worden ist und wäre es auch nur, weil sich
teilweise daraus lernen lässt, wie es nicht gemacht werden darf.
Die Neugestaltung der Volksschule in Frankreich besteht
jetzt schon ungefähr 20 Jahre. Schon im Jahre 1882 wurde
ZeilKhritt fttr pldigiDgifdie Psychologie^ PAtholoeie und Hyfi«°«* 1
2 A. Döring
durch eine Ministerial Verfügung der Unterrichtsplan festgesetzt;
ein zusammenfassendes Schulgesetz wurde 1886 angenommen.
Das in diesen 20 Jahren dort Geleistete verdiente wohl heute
eine zusammenfassende Monographie, Kleinere Beiträge habe
ich bereits 1894 in den „Preussischen Jahrbüchern" (Band 78)
und 1896 in der Sonntagsbeilage der Voss. Zeitung, an letzterer
Stelle speziell den Moralunterricht betreffend, gegeben.
In dieser Organisation wurde nun zunächst das Prinzip
der allgemeinen Schulpflicht mit den in strenger Folgerichtig-
keit daraus abgeleiteten Konsequenzen der Unentgeltlichkeit
und der „laicit6" aufgestellt Dies Prinzip aber wurde dann
von vornherein dadurch wieder durchbrochen und lahmgelegt^
dass ihm nicht die Alleinverbindlichkeit der Staatsschule oder
doch der in dieser massgebenden Unterrichtsgestalttmg hinzu-
gefügt, dass vielmehr neben der Staatsschule die sogenannten
„freien Schulen" zugelassen wurden. Dies war der erste grosse
Fehler, der dieser Schöpfung anhaftet
Schon 1890 besuchte ein Fünftel der schulpfUchtigen
Kinder die freien Schulen imd unter dem mächtigen Einflüsse
der Geistlichkeit, die von vornherein der Staatsschule aufs
heftigste widerstrebte, ist diese Bevorzugung der freien Schulen
anscheinend in beständigem Wachsen begriffen und droht die
Staatsschule zu erdrosseln. Im Falle einer in Frankreich
jederzeit möglichen monarchischen Staatsveränderung besteht
die Gefahr, dass diese weltliche Schule vollständig wieder von
der Bildfläche verschwinden wird.
Diese weltliche Schule schUesst also allen dogmatischen
Religionsunterricht im Sinne der Religionsgemeinschaften aus
und hat dafür als neue Unterrichtsgegenstände den höchst be-
deutsamen „Bürger Unterricht*^, sowie in nachdrücklichster
Form auf allen Altersstufen einen in 4—5 wöchentlichen
Stunden zu erteilenden Moralunterricht eingeführt
Bei diesen beiden Unterrichtsfächern nun tritt, beiden ge-
meinsam, ein zweiter schwerer Fehler auf. Das ist der in den
betreffenden Lehrbüchern in unglaublich abstossender, wahr-
haft erschreckender Weise, in wahrhaft verrohender Form zu
Tage tretende Chauvinismus.
Dem so wichtigen Moralunterricht insbesondere endlich
haften zwei weitere grosse Mängel an.
Üh<r siitiiche Erstehung und Mi>r^lunierrickL
Einesteils der Mangel einer methodischen Durch-
bildung sowohl bei den Lehrern, als in den Lehrgängen und
Lehrbüchern, trotzdem der letzteren rasch eine ungeheure Zahl
auf dtm Plane erschien. Der Jesuit Grub er, der 1889 eine
bitterböse Scltrift gegen diesen weltlichen Moralunterricht
richtete, beziffert darin schon damals die Zahl der erschienenen
Lehrbücher auf 119, wobei freilich die dem „Bürgerunterricht**
gewidmeten teilweise mitgezählt zu sein scheinen. Ein der
Neuerung sympathisch gegenüberstehender Bericht über diesen
Moralunterricht, den im Rahmen der grossen sechsbändigen
Darstellung des französischen Schulwesens für die Weltaus-
stellung von 1889 das freisinnige Mitghed der protestantisch-
theologischen Fakultät zu Paris, Professor Lichtenberger*
zugleich Mitglied der höchsten Unterrichtskommission, zu-
sammenstellte (L^^ducation morale dans les ecoles primaires);,
verschweigt diesen Mangel nicht. Von den 558 amtlichen Be-
richten, die ihm als Material zur Verfügung standen, be-
zeichnet er die Mehrzahl als banal, nur eine Minderzahl als
gewissenhaft und detailliert. Er hebt die Tatsache hervor,
dass manche Lehrer — die Lehrer standen ja der über-
wiegenden Mehrzahl nach dem neuen Unterrichtsgegenstande
ohne jede Vorbildung gegenüber, — den Moralunterricht eigen-
mächtig unterdrückt haben. Er teilt die Anekdote mit, dass
ein Lehrer auf die Frage des Inspektors» welche Moralthemata
er im letzten Monate behandelt habe, antwortete: „Herr
Inspektor, wir haben von den Ministerten gehandelt*^ Die
Sympathie unseres Berichterstatters betätigt sich daher über-
wiegend als Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Der zweite Fehler ist eine befremdliche Halbheit in
Bezug auf Heranziehung der religiösen Begründung.
Die vorerwähnte Ministerialverfügung von 1882 enthält beim
Moralnnterricht folgenden Passus: „Der Gottheit gebührt
Respekt und Verehrung. Die höchste ihr geschuldete Huldi-
gung ist der Gehorsam gegen das Sittengesetz, wie es sich in
Gewissen und Vernunft offenbart**' Wir erkennen hier den
auch tatsachÜch bei dieser Organisation mächtig wirksamen
Einfluss der Consinschen Schule, Selbstverständlich war
derartiges der radikalen Richtung anstössig, wahrend es der
kirchHchpositiven auch nicht entfernt genügte. Das Verfahren
r
4 A. Döring
stosst nach beiden Seiten an und verletzt die Forderung einer
unter allen Umständen im späteren Leben stichhaltigen Moral-
begründung.
Wie es heute mit dem Moralunterricht der französischen
Volksschule, seiner methodischen Entwicklung und seinen im
Volksleben bemerkbaren Wirkungen steht, das verdiente wohl
erforscht zu werden. Jedenfalls ist daraus zu lernen, indem
man die in ihr begangenen Fehler vermeidet
An erster Stelle müsste für die mir vorschwebende welt-
liche Staatsschule an der Allgemeinverbindlichkeit, sei
es dieser Schule selbst, sei es wenigstens der in ihr har-
schenden Unterrichtsweise, festgehalten werden.
Zweitens müsste das Prinzip rein durchgeführt werden,
dass die religiöse Erziehung ausschliesslich Sache der Familie
und der Religionsgemeinschaften wäre, ohne jeden staatlichen
Zwang, andemteils aber auch ohne jede Hemmung und Be-
einträchtigung seitens des Staates. Es müsste im öffentlichen
Unterricht alles nach dieser Seite hin Anstossende strengstens
vermieden, aber auch alle religiösen Elemente femgehalten
werden, einschliesslich der Andachtsübungen und der positiven
religiösen Färbung auch anderer Unterrichtsgegenstände. Im
Interesse des Verständnisses der religiösen Faktoren innerhalb
der Gesellschaft, in deren Mitte das Kind als Erwachsener zu
leben hat, bedürfte es nur einer streng objektiv gehaltenen
Orientierung über Geschichte und Lehre der vorhandenen
Religionsgemeinschaften, die etwa im geschichtlichen Unter-
richt oder auch in dem auch sonst unserer Schule hochnötigen
Bürgerunterricht gegeben werden könnte.
Endlich wäre erforderUch ein sehr nachdrücklicher
>
methodisch umsichtiger, wirksamer Moralunterricht, aber
ohne Zuhilfenahme irgend welcher religiöser oder meta-
physischer Prinzipien.
Damit sind wir dann wieder bei unserem nächsten Thema,
dem Moralunterricht, angekommen.
Dieser wird sich in zwei Stufen zu gestalten haben,
als propädeutischer moralischer Anschauungsunterricht,
etwa dem 11. und 12. Lebensjahre angehörig, und als end->
gültiger systematisch gehaltener Moralunterricht, den
beiden letzten Schuljahren, also dem 13. und 14. Lebensjahre,
Ü6»er niiiich£
Maruiunterrtcki^
m,
rt
B
zuzuweisen. Beide Kurse müssten als ihren eigentlichem Stoff
das Leben der Erwachsenen betrachten, doch so, dass auch
die besonderen sittlichen Anforderungen an das jugendliche
Alter geeigneten Ortes mit berücksichtigt würden.
Es ist im Interesse der Deutlichkeit ratsam, mit der
systematisch durchgebildeten Endstufe den Anfang zu
machen.
Hier ergeben sich zwei Hauptteile, die geradezu als
zwei Jahreskurse gedacht werden können. L Der Inbegriff
der sittlichen Forderung als Ganzes und in allen seinen
Verzweigungen, eine systematische Darstellung des normalen
sittlichen Verhaltens in populärer Fassung, Z Die Sanktion,
Warum müssen wir diese Vorschriften für uns als bindend
erachten?
Ich versuche, vom Lehrgange in beiden Teilen eine flüchtige
ikizze zu entwerfen^ indem ich für die genauere Ausführung
auf mein ,^Handbuch** verweise, in dem gerade diese Partie in
besonders detaiUierter Durchführung zur Darstellung gebracht
worden ist
Den ersten Hauptteil anlangend, erscheint es mir als
notwendig, von vornherein zu betonen, dass der ethische Ideal-
mensch nicht als ein zwiespältiges Wesen vorgestellt werden
darf, das zwar einesteils diese oder jene sittliche Eigenschaft
besitzt und betätigt, das aber im übrigen von selbstischen
Interessen im niederen Sinne, wie wirtschaftliches Fortkommen,
Erlangung von allerlei Vorteilen und Annehmlichkeiten, Er-
klimmung einer möglichst hohen Staffel im Geseltschaftsleben
und dergL geleitet wird. Es muss eine Pfiichtenlehre gefordert
werden, nach der das gesamte Wollen einheitlich und vollständig
urch das Prinzip des Sittlichen bestimmt erscheint
In der Tat ist dies Prinzip fruchtbar und inhaltreich genug
Um die Gesamtheit des Wollens und Strebens ihm unterordueu
zu können. Bestimmen wir es zunächst mit Schopenhauer
dahin: „Verletze Niemand: Hilf allen, soviel du kannst 1^^ Hia^
ist ein negativer Satz, ein Verbot und ein positiver, ein Gebot
Beiden gemeinsam ist als das sie zur Einheit Verbindende
ie Rücksichtnahme auf das fremde Wohl.
Der negative Satc spricht das Prinzip der Gerechtigkeit
aus. Der Gerechte respektiert die Lebensgüter des Anderem: dessen
A. Döring
Leben und körperliches Wohlsein, seine Freiheit, die Richtig^keit
seiner Vorstellungen von dem für seine Lebenslage Bedeutsamen
(Wahrhaftigkeit), die Ungetrübtheit seines Gefühllebens, sein
Eigentum, seine Ehre, seinen Frieden mit seinen Umgebungen,
seine Sittlichkeit Alles dies im weitesten Umfange in Be-
xiehung auf alles, was Menschenauüitz tragt, speriell in den
engeren und engsten Lebensbeziehungen, in Vertragsverhält-
nissen, in Handel und Wandel, in Freundschaft und Gemein-
schaft, im Familienkreise. Ein solches engeres Verhältnis wir
auch durch empfangene Guttat begründet: der Gerechte
dankbar, dagegen reizt ihn erlittene Unbill nicht zur Vc
geltung. Er hält es nicht für sein Recht, durch Rache da
Leid und Weh der Menschheit an seinem Teile noch zu ver-
mehren. Unter Umstanden jedoch ist das Streben nach Resti-
tution des Geraubten (Eigentum, Ehre) oder Ersatz [z. B,
körperliche Schädigimg), der Kampf ums Recht, nicht nur
sein Recht, sondern seine Pflicht JedenfaUs ist da, wo die
sein Leben, seine Wohlfahrt, die Bedingungen seines sittlichen j
Wirkens gefährdende Übeltat noch abgewendet werden kann,
Abwehr, Notwehr, nicht nur Recht, sondern f^Qicht Der fanatisch^j
Tolstoiismus mit dem Grundsätze, dem Bösen nicht Jd^H
widerstreben, schlägt, konsequent durchgeführt, nicht nur die^^
Fortdauer der Möglichkeit eigenen sittlichen Wirkens, sondena, j
soviel an ihm ist^ den Bestand einer sittlichen Gesellschafts*
Ordnung in die Schanze.
Dass es eine Gerechtigkeit in diesem Sinne auch gegei
das Tier gibt» darauf sei an dieser Stelle nur mit eiuem_
Worte hingedeutet
Als positive Ergänzung dieser negativen Seite des"
Sittlichen tritt das „Hilf allen!" auf. Hier erscheint zunächst
die tätige Güte, die Caritas, Es ist die Willensrichtung auf
ein möghchst weitgehendes Mass des dem Andern zu erweisen-
den positiven Guten, Die Güte hat in der Schraukenlosig-
keit ihres Horizontes etwas Berückendes, als sittliche Forderung
ist sie uferlos. Mit Recht wird sie als unbestimmte Pflicht
bezeichnet
Neben der tätigen steht die duldende Güte, die unter
Umstanden die erlittene Unbill, auf die Forderung des Wieder-
gutmachens vernchtend, willig auf sich nimmt
M
»
Üi^ siiüiehe Brwkhung' imä Momlunterrkht,
Auf das wirksamste wird die Willensrichtung auf das
positiv Gute in deutliche Greuzeo eiogeschlosseti durch den
Begriff des Berufes im Idealen Sinue. Beruf im idealen
Sinne bedeutet nicht eine Beschäftigung zum Erwerbe des
Lebensunterhalts, sondern eine Form gemeinnütziger Be-
tätigung der besonderen, von Mensch zu Mensch, von
Individuum zw Individuum verschiedenen Gaben, An-
lagen und Fähigkeiten 2um Wohle der anderen und
der Gesamtheit Es gibt diesen idealen Beruf in mannig-
fachem Sinne, Da ist zunächst die unendliche Vielfältigkeit
der bürgerlichen Berufe als eine ebenso grosse Vielfältigkeit
der Dienste au der Gemeinschaft Es gibt keinen echten
Beruf, der nicht in diesem idealen Lichte eines Dienstes für
das Ganze, einer Organfunktion am grossen Gesamtorganismus
der Gesellschaft betrachtet werden konnte. Es giebt fem er
die Berufe in der Familie, von denen das Wort Luthers gilt:
Ein jeder lern' sein Lektion,
So wird es wohl im Hause stöhn.
Hier ein Beispiel, wie auch das jugendliche Leben in
diesem Unterricht seine Berücksichtigung finden kann. Auch das
Kind hat zunächst seineu Familienberut Ausserdem aber bietet
sich hier Anlass zur Hindeutung auf seinen Beruf, sich für das
erwachsene Leben erziehen 2U lassen und selbst heranzubilden.
Es giebt femer den staatsbürgerlichen Beruf und endUch
für schöpferische Naturen in grössserem Massstabe den raensch-
heitlichen Berut
So erhalten wir als dritte Haupttugend neben der Ge-
rechtigkeit und Güte die Berufs treue.
Ist nun mit diesen drei Willensrichtungen das Gesamt-
gebiet des Sittlichen erschöpft? Darnach würden alle die Formen
der Fürsorge für das eigene Wohl in körperlicher, seehscher
und wirtschaftlicher Beziehung, in bezug auf Fortkommen, Ehre
und dgL, die doch mit unumgänglicher Notwendigkeit einen
sehr erheblichen Bruchteil unserer Handlungen und Bemühungen
in Ansprtich nehmen, nicht unter den sittlichen Gesichtspunkt
fallen. Es scheint, als ob da die Zwiespältigkeit in der
Lebensführung, die wir von unserem Idealbilde fern halten
wollten^ doch wieder zugestanden werden müsste und dass die
Forderung, die wir aufstellten, dass das gesamte Handeln
8
A^ Bärmg
vom Prinzip des Sittiichen TiiDfasst werden soll, doch wieder
liiafälUg wird*
Dies ist jedoch keineswegs der FaE Es steht auch für
diese Richtungen des Tuns ein Kategorie in Bereitschaft^ durch
die sie in vollkommener Weise in den Bereich des Sittlichen
einbezogen werden. Das ist die Kategorie der indirekten
Tugenden oder der Tugenden der Leistungsfähigkeit,
Körperliche Leistungsfähigkeit durch Pflege und Wahrung
der Gesundheit, Rüstigkeit und Frische, seelische Leistungs^
fähigkeit durch Normalität des Gefühlslebens, durch Willeus-
tüchtigkeit und Entwicklung der intellektuellen Vermögen^
gesellschaftliche Leistungsfähigkeit durch Normalitat der
wirtschaftlichen Lage und Wahrung der Ehre, auf der unsere
gesellschaftliche Vertrauensstellungberuht: das alles sind wichtige,
hochbedeutsame, sittliche Obliegenheiten.
Und endlich niuss diese ganze Mannigfaltigkeit der An-
forderungen unter Beachtung ihrer jeweiligen Dringlichkeit
vor unharmonischem Sichgeltendmachen bewahrt und zu einem
wohlgegliedcrten Ganzen sittlicher Lebensführung gestaltet
werden. Dazu bedarf es einer besonderen Tugend, die den
Blick auf das Ganze gerichtet hält und wie von einer hohen
Warte herab mit Feldhermblick das Ganze überschaut und
regelt Das ist die Weisheit Sie hat im weitesten Umfange
die Aufgabe, die Konflikte der Pflichten lu lösen, (Beispiele:
der heilige Crispinus, der Leder stiehlt, um den Armen Schuhe
zu machen* Verletzung der Gerechtigkeit im Interesse der
Güte- Buchstäbliche Befolgung der Vorschrift: * Verkaufe
alles, was du hast und gib es den Armen«! Verstoss gegen
die Pflicht der Gerechtigkeit, da die Armen durch eine solche
Art der Wohltätigkeit degradiert werden, sowie gegen die
der eigenen Leistungsfähigkeit, beides ebenfalls im Interesse
der Güte.)
Selbstverständlich muss der Moralunterricht diese Pflichten»
lehre nicht in dürrer Skizxenhaftigkeit vortragen^ sondern
gerade möglichst ins Einzelne, in die konkreten Fälle und
Einzelentscheidungen eintreten, in denen die sittliche Forderung
im wirkücheu Leben an uns herantritt Es ist die erste und
nächste Angelegenheit dieses Unterrichts, das Kind über den
ganzen Umfang und Inhalt des Sittlichen nicht im Un-
über siiÜiche Ersiehung und Mortüunt^rrkkL
9
gewissen zu lassen. Was ich nicht weiss, macht mich nicht
heiss. Vage Unklarheit über das Wesen der sittlichen Forderung
in allen ihren Verzweigungen stumpft auch den etwa vorhandenen
Willen zmn Guten ab; das nur in verschwommenen Umrissen
vorhandene Bild einer sittlichen Lebensführung lässt ihn in
der Ausführung völlig erlahmen.
Gegen diesen ersten Hanptteil insbesondere richtet sich nun
das häufig gehörte Bedenken, dass ein solcher Unterricht
dem Kinde langweilig sei und die Wirkung haben müsse,
ihm die ganze Sache in Grund und Boden dauernd zu verleiden.
Gegenüber diesem Einwände mochte ich auf einige Aus-
führungen Kants verweisen* Er sagt (Kr. der prakt. Vem.
Methodenl.): *Ich weiss nicht, warum die Erzieher der Jugend
von diesem Hange der Vernunft, in aufgeworfenen
praktischen (d h. sittlichen) Fragen selbst die subtilste
Prüfung mit Vergnügen einzuschagen, nicht schon längst
Gebrauch gemacht haben«. Er glaubt, dass sie dabei ^selbst
die früheste Jugend, die zw aller Spekulation sonst
noch unreif ist, bald sehr scharfsichtig und, weil sie
dabei den Fortschritt ihrer Urteilskraft fühlt, nicht wenig
interessiert finden werden. < Ja, Kant verspricht sich von
dieser blossen Erörterung der sittHchen Vorschrift sogar schon
eine direkt versittlich ende Wirkung. Er meint^ dass * diese
öftere Übung im Wahrnehmen des sittlich Richtigen und
Verkehrten einen dauerhaften Eindruck der Hochschätzung
auf der dnen, und des Abscheues auf der anderen Seite zurück-
lassen werde, der zur Rechtschaffenheit im künftigen Lebens-
wandel eine gute Grundlage ausmachen *^^ würde.
Ein ähnliches Zeugnis in be^ug auf das Interesse der
Jugend an einer ausgeführten Pflichtenlehre, und zwar in diesem
Falle aus langjähriger Praxis, besitzen wir von Felix Adler,
dem verdienten Begründer des Moralunterrichts in Amerika
(Der Moralunterricht der Kinder^ deutsch von G, v. Gizyckij
Berlin 1894). So dürfte es also nur auf die richtige Behandlung
ankommen, um gerade für diesen ersten Hauptteil des ethischen
Unterrichts ein lebhaftes Interesse erwarten zu können.
Den zweiten Haupt teil bildet die Sanktion. Warum ist
diese Vorschrift verbindlich?
10 ^- I>Srmg
Diese Verbindlichkeit muss, da es sich um einen Unter-
richt handelt, intellektuell begründet werden. Ein blosses
Predigen und Ermahnen kann eine klar und scharf begründete
und zu lebenswieriger Dauer festgelegte Überzeugung nicht
ersetzen. Es muss darauf ausgegangen werden, durch Vemunft-
gründe den das Ganze umfassenden Entschluss zur sittlichen
Lebensführung herbeizuführen, das zu bewirken, was der
Schillersche Vers »Nimm die Gottheit auf in deinen Willen«
ausdrückt, in dem »die Gottheit« dem Zusammenhange nach
das strenge Pflichtgebot bezeichnet Wir stehen hier vor dem
eigenthchen Problem der in der antiken Philosophie so viel-
fach erörterten Lehrbarkeit der Tugend. Die völlige Weg-
lassung dieses Hauptteils aus dem Moralunterricht, wie sie z. B.
von Felix Adler befürwortet wird, kann nicht gut geheissen werden.
Hier stossen wir denn nun auf die beliebte Auskunft durch
das Gewissen, das in diesem Zusammenhang unfehlbar als
deus ex machina aus der Versenkung auftaucht. Das Gewissen
ist angeblich ein strenger Gesetzgeber und Richter und der
Friede mit ihm eine höchst wichtige, für unser ganzes Wohkein
entscheidende Angelegenheit.
Wir stehen hier vor einer bedeutsamen psychologischen
Frage.
Zunächst: Lehrt die Erfahrung die Existenz einer so
charakterisierten Potenz im Inneren? Diese Frage kann nur
sehr bedingt bejaht werden. Die Gesetzgebung macht sich
nur in sehr schwachen und verschwommenen Ansätzen geltend,
und wo kein Gesetzgeber ist, da ist auch kein Richter.
Vornehmlich aber: Kann ein derartiges seelisches Organ,
eine Art Apparat im Innern, psychologisch verständlich ge-
macht werden?
Wir kommen hier zu dem Resultate, dass das Gewissen,
soweit überhaupt von ihm die Rede sein kann, ein aus sehr
verschiedenen Ingredienzien Zusammengesetztes, d. h. lediglich
eine zusammenfassende Bezeichnung für eine ganze Reihe sehr
verschiedenartiger Erscheinungen ist Es besteht aus Elementen
der Naturveranlagung und Elementen der Gewöhnung, des
Anerzogenen.
In ersterer Beziehung begegnen wir bei Rousseau und
Herbert Spencer exzessiven Vorstellungen.
IHffr sinikke Ersükung- und M&mlunUrwii^
Rousseau glaubt au deo Normalmenscheu im Natur-
zustände aucli in ethischer Beziehung, Seine oberste Er-
ziehungsregel im * Emilen lautet daher, man müsse verhüten>
dass etwas geschehe. Er sieht sich dann hreüich im weiteren
Verlaufe dieser Schrift, im Bekenntnisse des savoyischen Vikars,
doch genötigt, für die Sanktion des Ethischen religiös-meta-
physische Prinzipien zu Hilfe zu nehmen.
Herbert Spencer glaubt» umgekehrt den vollkommen
sittlichen Antrieb im Inneren als Resultat des Kultnrprozesses
ans Ende desselben verlegen zu müssen. Durch Anpassung an
die vorhandenen Existenzbedingungen, durch Überleben der
am besten Angepassten und Vererbung der erworbenen Eigen-
schaften wird nach ihm schliesslich im blossen Trtebleben ein
so kolossales Kapital sittlicher Impulse angehäuft, dass alle
entgegenstehenden Autriebe lahmgelegt sind und geradezu ein
peinlicher Wettstreit um die Gelegenheiten zum gemeinnützigen
Handeln entsteht.
Spencer hat nicht naher dargelegt j wie er sich diesen
versittlich ten Naturzustand psychologisch vorstellt. Praktisch
ist seine Theorie jedenfalls ohne Bedeutung, weil wir mit dem
gegenwärtigen Zustande der Menschheit zu rechnen haben.
Doch liegt seiner Theorie eher als der Ronsseauschen etwas
auch schon für den gegenwärtigen Zustand bedeutsames Richtiges
m gründe. Der Knltiurmeusch bietet unzweifelhaft schon in
seiner Naturbeschaffenheit für die Entstehung des Sitt-
lichen bessere Vorbedingungen, als der Wilde. Unbeschadet
eintretender Rückschläge^ Rückbildungen, BÜdungshemmungen^
auch auf dem Gebiete der Veranlagung zum Sittlichen, bietet
das Triebleben der Kulturmenschheit dem allgemeinen Durch-
schnitte nach bessere Handhaben für die sittliche Erziehung,
als das des Wilden.
Die genauere Feststellung dieser Handhaben führt auf die
Frage nach den Naturelementen des Gewissens zurück*
Als solche lassen sich vielleicht folgende anführen*
1. Eine stärkere Entwickelung des Mitgefühls im Ver-
gleich mit den wilden selbstischen Trieben der animalischen
Natur. Das Mitgefühl beruht auf der Fähigkeit zur phau-
tasiemässigen Versetzung in die Zustände des anderen.
12 ^- Döring
2. Die Fähigkeit wenigstens zu dunklem gefühlsmässigen
Ahnen der aus der Zusammenleben entspringenden Not-
wendigkeit, die Rechte der anderen zu respektieren (Solidarität)»
^sowie überhaupt der mit dem sittlichen Verhalten verknüpften
eigenen Vorteile (Lebensklugheit).
3. Bin ebenfalls in dunkler gefühlsmässiger Weise sich
geltend machendes Bedürfnis nach Eigenwert durch die
heilsame Bedeutung unseres Seins und Tuns für andere. Dies
Bedürfnis entspringt als Frage nach einem Berechtigungsgrunde
der eigenen Existenz aus der Vernunftnatur des Menschen
und findet sich in der Wahrnehmung, ein Nichtswürdiger zu
sein, in peinlicher Weise unbefriedigt.
Jedenfalls ist aber das Mass, in dem diese Naturelemente
des Gewissens entwickelt sind, ein sehr schwankendes» von
Individuum zu Individuum verschieden und bis zum Nullpunkte
sinkend.
Vollends sind die anerzogenen Elemente des Gewissens
völlig dem Zufall unterworfen und können sich unter Um-
ständen in einer dem Sittlichen direkt entgegengesetzten Richtung
geltend machen (Indianer, Menschenfresser.)
So dürfte der Rekurs auf das Gewissen schwerlich die
gewtmschte Anknüpfung für den lehrhaften Nachweis der sitt-
lichen Verpflichtung bilden können.
Kann man überhaupt dem Menschen ein al-
truistisches Verhalten andemonstrieren?
Sokrates formuliert den menschlichen Grundwillen in fol-
gender Weise: „Alle Menschen bevorzugen unter den
ihnen möglichen Handlungsweisen diejenige, die sie
für die ihnen selbst zuträglichste halten". (Mem. III. 9, 4.)
Diese Ansicht hat stets zahlreiche Vertreter gehabt Unzwdfd-
haft beruht die Annahme selbstlosen Handelns in unzähligen
Fällen nur auf Verkennung der tatsächlich wirkenden selbstischen
Motive. Ein völliges Ableugnen des Vorkommens altruistischer
Zustände scheint nicht berechtigt, es sind dies aber wohl immer
nur Ausnahmezustände, die auf einem Aussersichgeraten be-
ruhen. Unter den Neueren hat, um nur ein Beispiel zu
nennen, Friedrich der Grosse in seiner Abhandlung: L'amour
propre envisagä comme principe de morale imd seinem Dialoguc
de morale ä Tusage de la jeune Noblesse (1770 u. 71) die aus*
Ühtr titUkhe Er^ekung und MoralunierHchi
13
schliessliche Leitung des Handelns durch selbstische Motive
nachdrücklich betont und auf diese Ausschliesslichkeit der
selbstischen Motive die gesamte sittliche Erziehung zu basieren
versucht Nach ihm ist die Selbstliebe das verborgene Prinzip
aller unserer Handlung-en: durch ein geheimes und fast un-
merkliches Gefühl beziehen wir alles auf uns selbst. Man inuss
daher dem Menschen das Sittliche als seinen wahren Vorteil
xeigeOf ihm zeigen, dass die richtig verstandene Selbstliebe
steh für das Gute entscheiden mnss.
In der Tat scheint die Sanktion ausschliesslich mit selbstischen
Motiven rechnen zu dürfen.
Eine gewisse Wirkung ist hier schon durch Anknupfimg
aus Mitgefühl zw erzielen. Versündigung gegen dasselbe ist
Versündigung gegen eine der edelsten Anlagen unserer Natnn
Ferner die Tatsache der Solidarität und die Lebens-
tlngheit
Wir sind in den Bedingungen unseres Daseins und Wohlseins
von der Gesellschaft abhängig, in die wir hineingeboren sind
und ohne die imser Dasein kaum zu denken ist Wir sind
daher verpflichtet, die Ordnungen, auf denen der Bestand dieser
Gesellschaft beruht, zu respektieren, zu fördern. Rückschläge
g-egen die Verletzung dieser Ordnungen erfolgen in gröberen
Fällen in der Form der gesetzlichen Strafe; darüber hinaus in
wirksamer Weise durch Verlust der Sympathie und des Ver-
tranens unserer Mitmenschen. Durch dies Prinzip der Solidarität
werden direkt nur die direkten Pflichten (Gerechtigkeit^ Güte,
Berufstreue) geschützt. Umfassender ist das Prinzip der Lebens-
klugheit^ das auch die indirekten Pflichten der Leistungsfähigkeit
mit rechtfertigt. Verstösse gegen die Forderungen der Leistungs-
fähigkeit haben die schwerwiegendsten Folgen für unser Wohl-
sein* Selbstverständlich darf diese Verwendung des Prinzips
4er Lebensklugheit nicht ^ur Verherrlichung der platten Uti-
lität herabsinken. Sie muss immer der Sphäre der Bedeutung
des indirekt Guten für die Ermöglich ung des direkt Guten
nahe bleiben,
Als den eigentlich ausschlaggebenden Beweggrund, der
allein die Totalität des Sittlichen direkt und unmittelbar trifft,
betrachte ich das tief in der Vernunftnatnr des Menschen he-
^gründete Selbstschätzungsbedürfnis. Dies findet in wahrer
14
A, Ddrmg
und stichhaltiger Weise nur dann seine Befriedigung, wenn
unser Tun am Wohle der anderen seinen Einheits- und Schwer-
punkt findet. Das schwerste Missgeschick, das über uns herein*
brechen kann, trifft uns^ wenn wur in geheimer Selbstanklage über
uns das Urteil fallen müssen; Du bist ein Nichtswürdiger! (d, k
entweder im buchstäblichen Wortsinne ein Wertloser, ein U
krant, des Besserem den Platz raubt, oder gar im Sinne d^
Sprachgebrauchs ein positiv Schädlicher, ein bösartiges Raub-
tier oder Giftreptil),
Dies Motiv wird sich allerdings nur da geltend machen
können, wo der Mensch der änssersten Not des Lebens, dem
Kampfe um die nackte Existenz, der täglichen Infragestellung
der einfachsten Snbstistenzmittel enthoben ist ■
Dieser systematische Unterricht müsste an der Hand eines
kurzen^ den Kindern in die Hand zu gebenden Leitfadens erteilt
werden.
Auch der propädeutische Kursus, der ethische An»
schauungsunterricht, würde m* E. schulmässig, in ge-
sonderten Lektionen und in derselben systematischen Anordnung»
wie der endgültige Moralunterricht zu erteilen sein, doch so,
dass hier das Systematische noch nicht gründlich betont und nicht
zum Bewusstsein der Kinder erhoben zu werden brauchte.
Auch hier würden also in einem ersten Hanptteile die
Arten des sittlichen Verhaltens vorzuführen sein, und zwar
entsprechend dem Charakter als Anschauungsunterricht in der
Form von Beispielen und moralischen Erzählungen , angeordnet
nach dem System der Pflichten im endgültigen Unterrich^^^
Diese Zusammenstellung dürfte aber nicht den Kinder in dJ^H
Hand gegeben werden, weil sie sonst, nach einer treffende^^
Bemerkung Salzmanns, „den Zucker ablecken", d. h. in
flüchtiger Lektüre die geringfügige bloss unterhaltende Wirkung
dieser moralischen Erzählungen sich zuführen würden.
Das Märchen ist von diesem direkt ethisch-propadeu tischen
Gebrauche schon dadurch ausgeschlossen, dass es aus der
Sphäre des wirkUchen Lebens herausführt und in eine Welt
abnormer Ursächlichkeiten des Menschenschicksals versetzt.
Natürlich soll damit nicht eine Verurteilung unseres köstlichen
Marchenschatzes als Geistesnahning des Kindes ausgesprochen
sein. Das Märchen ist für das Kind das, was die dramatische
Ü$fr siUiicke Ermekumg un4 ÄUföiitnferrkhi
1&
1 epische Literatur für den Erwachsenen ist, ein Mittel
ästhetischen Genusses, dem beim Kinde wie beim Er-
wachsenen ja auch immer, schon in der Stärkung des Mit*
gefühls, indirekt eine ethische Frucht entspriesst Aber an ihm
zu moralisieren» dazu ist es einesteils zu schade, andernteils
aber auch volUg ungeeignet. Auch die Fabel ist, trotzdem
ihr eine |,Moral" anhängt, mit wenigen Ausnahmen für die
Zwecke des ethischen Anschauungsunterrichts unbrauchbar^
und zwar deshalb, weil die in ihr veranschaulichten Leluen
nicht eigentlich sittliche, sondern fast ausschliesslich solche
einer mehr oder minder platten Nützlichkeit sind.
Hinsichtlich des zweiten, die Sanktion, die verpflichtende
Natur des Sittlichen betreffenden Hauptteils würde hier
vornehmlich in anschaulichen Zügen die unlöshche Abhängig-
keit des einzelnen von der Lebensgemeinschaft der Menschheit zu
zeigen sein, wie sie sich in tausend Zügen täglich kundgiebt-
Doch auch die übrigen beim systematischen Unterricht be-
zeichneten Beweggründe sind hier ebenfalls schon in anschau-
licher Form vorzuführen.
Ein so erteilter propädeutischer Unterricht würde nicht
nur an sich selbst sittlich bildend wirken, sondern vornehm-
lich auch als Grundlage für den eigentlichen ethischen Unter-
richt vom höchsten Werte sein. Eine ausgeführte Darstellung
des Verfahrens auch auf dieser Stufe, zugleich als Material für
den Lehrer gedacht, — ebenso wie eine Reihe von Anhalts-
punkten für die noch zu besprechenden sonstigen Funktionen
der ethischen Erziehung — habe ich ebenfalls in meinem
nHandbuche** gegeben* Speziell für den zweiten Hauptteil der
prof^eu tischen Stufe hat aus eigener Praxis Dn Fr. W. Forst er
in Zürich in der Zeitschrift „Ethische Kultur" eine Anzahl vor*
trefflicher Lehrproben veröffentlicht
Das wäre also die Ausstattung, mit der die rein weltliche
Staatsschnle ihren Zöghng ins Leben entlassen würde. Diese
Ausstattung würde aber nur von sehr zweifelhafter Wirksam-
keit sein, wenn ihr nicht durch andere vorgängige und
hcgleitende Aktionen der sittlichen Erziehung der
Boden bereitet wäre. Sie wäre der Same, der auf den Weg^
auf das Steinige oder unter die Domen fiele
Diese vorgängigen und begleitenden Aktionen lassen sich
16 ^- Oörmg
im Begriffe der sittlichen Gewöhnung zusammenfassen.
Die Gewohnung im Dienste des Sittlichen ist aber wieder von
doppelter Art, einesteils als Gewohnung direkt zum sitt-
lichen Verhalten selbst, andemteils als Erhaltung und
Stärkung der Anhaltspunkte in der Natur, an die sitt-
liche Entwicklung anknüpfen muss.
Vornehmlich nun mit der Funktion der Gewohnung tut
sich ein doppelter Schauplatz der sittlichen Erziehung
auf. Neben die Schule tritt das Haus.
Damit aber erhebt sich eine besondere Schwierigkeit
Das Problem der sittlichen Erriehung zeigt sich hier von der
schwierigsten und bedenklichsten Seite.
Schon ganz im allgemeinen betrachtet liegt eine solche
Schwierigkeit in der Duplizität der voneinander unabhängigen,
möglicherweise einander widerstreitenden imd paralysierenden
Einwirkungen.
Insbesondere ist die sittliche Erziehung im Hause auch
im besten Falle, beim besten Willen mehr als die in der Schule
durch einen naturalisierenden Dilettantismus charakterisiert
Die Eltern sind nur zu oft unberufene Erzieher im buchstäb-
lichen Sinne, d. h. ohne Beruf zur Erziehung. In vielen
Fällen herrscht bei ihnen Indifferentismus, oder ihre Einwir-
kung ist eine geradezu antiethisehe. Sollte die für die
schlimmsten Fälle dieser Art gesetzlich vorgesehene Fürsorge-
erziehung überall da angewandt werden, wo entschiedene
Unzulänglichkeit vorhanden ist, so müsste ihr eine sehr weite
Ausdehnung gegeben werden.
Ich bin in meinem „System der Erziehung im Umriss"
(Berlin 1894) vom Prinzip des Erzieherberufs aus, der, wie
jeder andere Beruf, eine Vereinigung von Naturveranlagung
und fachmässiger Ausbildung verlangt, folgerichtig zu der For-
derung einer ganz durch Erzieher von Fach geleiteten Er-
ziehung gelangt Natürlich setzt dies den idealen Zustand
eines allgemein gebilligten Erziehungssystems voraus.
Die Gewohnung nun im zweiten Sinne, als Stärkung
der Anhaltspunkte des Sittlichen in der Natur, hat das Mit-
gefühl auszubilden, die Fähigkeit zu verschiedener und
folgerichtiger Verfolgung des als heilsam Erkannten
zu entwickeln und vornehmlich durch Respektierung des
ÜÖ€r Mtiiliche Ermehi^ng und MaratuntcrHcht
17
Kindes und durch Befriedigung seines Bedürfnisses nach An-
erkennung die zarte Pflanze des Bedürfnisses nach wirk-
lich era Eigenwert zum Wachstum zu bringen. Mit allem
diesem arbeitet sie vomehmlich der Sittlichkeit des erwach-
senen Lebens vor.
Die Gewöhnung im ersteren Sinne^ zum sittlichen
Verhalten selbst, bezieht sich der Natur der Sache nach un-
mittelbar nicht auf die künftige Lebensführung des Erwach-
senen^ sondern auf das gegenwärtige Verhalten des Kindes.
Hier hegt schon eine ganz äusserliche Nötigung zum Ein-
greifen vor. Will man sich nicht selbst an den ungeregelten
Affekten und Begehmngen des Kindes die ärgste Zuchtalte
btndeUj will man den Frieden und die Ordnung des Hauses
und der Schule retten, so muss eine Disziplin ierung ein-
treten. Aber diese Diszipliniertmg im Interesse des Verkehrs
mit dem Kinde trägt doch zugleich den Zug der Begründung
«ines sittlichen Charakters fürs Leben an sich. Sie darf nicht
als blosser Notbehelf eintreten, um den augeubUcklichen Zu-
stand erträglich zu machen; sie muss als integrierender Be*
standteil der sittlichen Erziehung überhaupt gehandhabt
werden, Ist ja doch das Kind der werdende Erwachsene^ und
bleiben ja doch die ihm eingeprägten Elemente des Sittlichen
ein dauernder Bestandteil seiner werdenden Persönlichkeit.
Voraussetzung der Gewöhnung in diesem Sinne ist die
Gewohnungsfähigkeitj eine gewisse Biegsamkeit und Ge-
staltungsfähigkeit der Natur durch nachhaltige, autoritativ auf-
tretende Einwirkungen, die vornehmlich dem noch bildsamen
Jugendalter eigen ist und auch in sittlicher Beziehung in
l^ewissem Masse eine Umformung des Trieblebens ermöglicht
Oewohnheit ist eine zweite Natur. Steter Tropfen höhlt den Stein.
Diese autoritative Beeinflussung nun vollzieht sich eines-
teils durch Vorbild^ andemteils durch Lenkung des Wil-
lens* Zum Vorbilde muss auch die nachdrückliche Kund-
gebung der den Erzieher selbst beseelenden sittlichen Über-
zeugung gerechnet werden. Die Lenkung des Willens schliesst
sich^ fast mit dem ersten Lebensmomente beginnend, in stetiger
Attpas^img an die fortschreitenden Phasen der kindlichen Ent*
Wickelung an und gestaltet sich demgemäss zunächst als di-
xektes Handeln auf das Kind, dann als Gebot und Ver-
Z«it»flrrTrt far pidigogiicbe Psychologie. PiLholofie und Hfgien& 2
18
JL Bi^rmg
bot mit den entsprechenden Mitteln zur Erzielung des Gehör
sams in stetiger VeraJlgemeinerung und Erweiterung der ein-
geschärften Vorschriften. Sie ist Entwöhnung und positive
Ge Wohnung. Entsprechend den ungeheuren individuellen Ver-
schiedenheiten der Kinder muss sie im weitgehendsten Masse
individualisieren» Sie bedarf daher als Vorbedingung einer
ständigen, tief dringenden Beobachtung dieser individuellen
Eigenart, die sich im Falle des Vorhandenseins krankhafter
Veranlagung^ perverser Neigimgen» erblicher Belastung zu
streng objektiver Diagnose des krankhaften Zustandes stei-
gern muss. Aller Wahrscheinlichkeit nach können auch im
Falle solcher Abnormitäten der ethischen Naturausstattung^
wenn das Übel rechtzeitig erkannt wird, nach der Regel Prin-
cipiis obsta weitgehende Abschwächungen des Übels bewirkt
werden.
Unter den Mitteln der gewohnenden Einscharfung scheineti
mir Belohnungen im allgemeinen keinen Platz zu verdienen.
Unter den Gründen der Verwerfung erscheint mir ab der
durchschlagendste, dass die Belohnung eine Art von Überver-
dienstlichkeit zur Voraussetzung hat. Besonders gilt dies, wenn
der Belohnung jeder organische Zusammenhang mit der Lei-
stung fehltj oder gar durch sie, wie bei den in Zucker ge-
backeneu Buchstaben des Basedowschen Philanthropins, die
Leckerhaftigkeit gefördert wird.
Noch verwerflicher erscheint mir die Verwendung des
Ehrgeizes, die auch heute noch unser gesamtes Schulwesen
durchdringt, und zwar hauptsächlich deshalb, weil in ihm der
Antrieb zu einem brutal egoistischen Hinwegschreiten über
andere liegt. Etwas ganz anderes, als die Weckung des Ehr- ^|
geizes, ist die Benutzung der Empfänglichkeit des Kindes für ^(
Anerkennung und MissbiUigung, Diese Empfänghchkeit ist
die dem Kinde gemässe Form des WertbedürfnisseSj die autori-
tative Vorstufe des Selbstschätzungsbedurfnisses, das als die
entscheidende Triebfeder des Sittlichen der sorgfältigsten Pflege
bedarf. Nur darf das Lob nicht so reichlich, so volltönend^
so emphatisch und enthusiastisch gespendet werden» als sei
etwas ganz Ausserordentliches geleistet worden. Gegenüber
dieser Übertreibung gilt neben anderen Gründen dasselbe Be-
denken, das den Belohnungen gegenüber geltend gemacht wurde.
Ühew sitiUche Er^mknng und MoroIunierHchi
19
Eine wirksame Unterstützung kann die Gewöhnung durch
eine Art des ethischen Anschauungsunterrichts finden,
die als gelegentliche und auf die gegenwärtige Lebens-
führung des Kindes bezügliche bezeichnet werden kann*
Wie die Gewöhnung selbst hat sie ihre Stelle nicht nur in der
Schule, sondern auch im Hause und kann von dem Momente
an eintreten^ wo sich im Kinde schon ein gewisses Verständnis
der es umgebenden Lebensverhältnisse hervortut, also vom
3. oder 4, Lebensjahre an. Eine bestimmte Situation^ ein Vor-
fall im Leben des Kindes, ein Zug in seinem Verhalten bietet
AnlasSf entweder auf die Solidarität des einzehien mit dem
Gesamtleben ein erleuchtendes Streiflicht fallen zu lassen oder
zu einer Erzählung, einem Verse oder Spruche aus dem kind-
lidien Erfahrungskreise, geeignet, die gerade vorliegende Situa-
tion ethisch zu kennzeichnen. Beispiel: ein Kind ist zänkisch.
Spruch: Im Brei ein einzig faules Ei — Macht, dass man ihn
nicht essen kann. — Beim Spiel ein einzig zänkisch Kind —
Verdirbt die ganze Lust daran.
Hiermit sind wenigstens die wesentlichsten Punkte meines
Themas berührt, soweit dies im Rahmen eines Vortrags möglich
war. Ich muss befürchten, dass das Ganze sich als eine etwas
duire Skizze präsentiert Gleichwohl wurde ich meinen Zweck
als erreicht ansehen, wenn ich wenigstens den allgemeinen Ein-
druck erzielt hatte, dass hier eine Reihe von Hilfsmitteln in
Bereitschaft steht, deren vereinigter, gleichsam konzentrischer^
Gebrauch bei einer nicht unter dem Ehirchschnitt stehenden
ethischen Naturbeschaffenheit eine nicht zu unterschätzende
Wirkung sittlicher Charakterbildung erhoffen Hesse. Exakte
Resultate sind hier der Natur der Sache nach vor der Hand
nicht zu verzeichnen. Auf Argumentationen habe ich mich
nicht eingelassen, um zunächst die Sache selbst zur Anschauung
20 bringen und für sich selbst reden eu lassen.
Die Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur vertritt
die Überzeugung dass die mit Besonnenheit und Vorsicht einge^
führte rein weltliche Schule mit Moralunterricht in dem Sinne, in
dem ich ihnzu skizzieren versucht habe, eine in vielfacher Beziehung
überaus heilsame Neuenmg darstellen würde, Sie hat neuerdings
dieser Überzeugung in einem Flugblatt Ausdruck gegeben,
dessen weiteste Verbreitung sie erstrebt und von dem Exemplare
2*
20 ^' Döring
in beliebiger Zahl durch das Bureau der Gesellschaft (Unter
den Linden 16) unentgeltlich bezogen werden können. Viel-
leicht liegt das Neue und Fremdartige, das anscheinend Chimä-
rische und Utopische des Gedankens der Verwirklichung näher,
als wir zu glauben geneigt sind. Die Entwickelung der Kultur
steht nicht stille, sondern bereitet uns von Tage zu Tage neue
Überraschungen. Das Gewohnte und Herkömmliche wird als
das nicht Letzte und Beste erkannt, und das Utopische von
gestern wird das Selbstverständliche von übermorgen.
Die Psycholagie der Zwangsvorstellungen»
Von
Georg Flatau.
Wir haben verschiedene Wege rur Verfügung, um einer
Erkenntnis psychischer Vorgänge näher zu kommen; die psy-
chologische Forschung bedient sich außer andern mit großem
Vorteil der Betrachtung psychopathologischer Momente. Diese
können einem von der Natur angestellten Experimente gleich-
gestellt werden, es sind Veränderungen psychischer Elemente,
Ausfalls* und Reizerscheinungen, deren Analyse in mancher
Beziehung unsere Forschungen ergänzen kann* Diese Erwä-
gung rechtfertigt die Wahl meines Themas „zur Psychologie der
Zwangsvorstellungen" in diesem Kreise. Aus diesem Gesichts-
punkte konnte es mir erlaubt sein, Erörterungen über krank-
hafte Veränderungen des psychischen Lebens in diesem Kreise
vorzubringen, in welchem für gewöhtilich die Betrachtung
normal-psychologischer Dinge mr Diskussion steht. Auch aus
einem andern Grunde scheint mir das vorliegende Thema von
nicht geringem Interesse; finden sich doch gerade auf dem
Gebiete der Zwangsvorstellungen alle Grade und Schattierun-
gen vertreten, sind doch gerade hier alle Übergänge vorhanden
von Formen, die sich vom Bereiche des normalen psychischen
Lebens kaum entfernen, bis zu jenen schweren Erscheinungen,
die der geistigen Erkrankung zugerechnet werden können.
Damit ist schon eine Schwierigkeit angedeutet, nämlich, wo die
Cpenie zu ziehen sei, zwischen den Zwangsvorstellungen, die
noch dem Gebiete der funktionellen Nervenleiden, den Neu-
rosen zuzurechnen sind, und denjenigen, welche bereits als
Psychose — Zwangsirresein aufgefaßt werden mußten.
Ich sehe dabei von jenen Formen der Psychose ab, bei
denen die Zwangsideen nur als Beiwerk auftreten; gelegent-
lich treten sie Ja im Verlaufe zirkularer Psychosen und De-
pressionS'Zustände auf.
22 Georg Flaiau
Ein andermal bilden sie die Vorläufer von WafinvorsteU
lungen, von, dem Gebiete der paranoischen Erkrankungen zu-
gehörigen^ Psychosen. Hier gibt häufig erst der weitere Ver-
lauf die Sicherheit in der Beurteilimg (Kräpelin) ^). Einige
Forscher sind der Ansicht, daß alle Kranken mit Zwangsvor-
stellungen als Geisteskranke animsehen sind, das Auftreten
soldher Ideen stellt den Beginn einer Psychose dar (Legrand du
Saulle)^) fand in fast allen Fällen einen progressiven Verlauf
bis zur Ausbildung von Wahnideen.
Es muß aber festgehalten werden, daß eine ganz außer-
ordentlich große Zahl von Fällen vorhanden ist, bei denen die
Progression bis zur Wahnidee nicht gefunden wird, bei denen die
Zwangsideen auftreten ulnd verschwinden, oder das geistige
Leben nicht m dem Maße beherrschen, daß man von einer
Geisteskrankheit, von einem Irresein, zu sprechen berechtigt
wäre; weiterhin kennt man auch viele Fälle, in denen zwar die
Zwangsvorstellungen einen sehr erheblichen Platz einnehmen,
und in gewisser Weise auch einen bestimmenden! Faktor im
Leben des Kranken darstellen, indessen geht meist aus der Art,
in welcher d«- Kranke seinem Leiden gegenübersteht, wie er
selbst es beurteilt, genügend hervor, ob es sieh um Psychose
handelt, oder ob man noch von einer Neurose sprechen darf.
Neurasthenische und hypochondrisch Neurasthenische häu-
fig solche mit körperlichen Stigmata der Entartung, stellen
hauptsädhlich das Kontingent der mit Zwangsvorstellungen be-
hafteten. Sie sind fast stets erblich belastet, nicht so selten ist
die Verbindung mit ticartigen Erkrankungen derart, daß ent-
weder Kranke mit maladie de tic in der Ascendenz Zwangs-
vorstellungen nachweisen lassen oder, daß bei einem und dem-
selben Kranken beide Erkrankungen zugleich gefunden wer-
den.»)
Wir werden also feststellen: Es gibt geistig gesunde
Personen — meist an Neurosen z. B. Neurasthenie leidende
— bei denen Zwangsvorstellungen auftreten, diese können
^) Kräpelin. Lehrbuch der Psychiatrie p. 140.
') Legrand du SauUe. La folie du doute, avec delire du touchen
Paris 1875.
') G. Flatau. Über die Beziehungen zwischen maladie de tic und
Zwangsvorstellungen. Centralblatt für Nervenkrankheiten. 1897.
iHn /\veA&hgiii der Zmm^svarsUUung^
23
in mehr oder weniger erheblicher Weise das Krankheitsbild
beherrschen.
WestphaH) definiert die Zwangsvorstellungen als solche,
welche bei übrigens intakter Intelligenz und ohne durch ein
GefüHl oder durch einen affectartigen Zustand bedingt zu sein
gegen oder wider den Willen des betreffenden Menschen in den
Vordergrund des Bewußtseins treten, sich nicht verscheuchen
lassen, den normalen Ablauf der Vorstellungen hindern und
durchkreuzen, welche der Befallene stets als abnorm, ihm fremd
erkennt rnid denen er mit seinem gesunden Bewußtsein gegen-
übersteht.
Eine kurze Darstellung des Inhaltes der Zwangsvorstel-
lungen wird zeigen — was auch alle Autoren betonen — , daß
dieser äußerst verschiedenartig sein kann, daß indessen be-
stimmte Vorstellungsreihen ziemlich typisch wiederkehren imd
sehr häufig gefunden werden. In gleicher Weise, wie es bei den
Wahnvorstellungen sich nachweisen läßt, daß sie in gewisser
Weise vom Milieu und von das öffentliche Leben beherrschen*
den AnscTiauungen beeinflußt werden, läßt sich auch von den
Zwangsvorstellungen sagen, daß ihr Inhalt sich in dieser Art
un Laufe der Jahre umformt. Im Zeitalter der Elektrizität, des
Telephons sind Wahnideen nicht so selten, die sich auf Be*
einflnssung auf elektrischem Wege, Einschaltimg in ein Tele-
phon, in andere elektrische Femwirkungsapparate beziehen*
So erklärt sich die Häufigkeit der Zwangs Vorstellungen^ daß
jemand sich bei jeder Gelegenheit zu infizieren, mit bazillen*
haltigem Material zu beschmutzen fürchtet. Gelegentlich und
angedeutet treten Zwangs\'orstellungen auch bei normalen und
nervf'engesunden Personen auf; sei es^ daß ein Wort^ eine Mer
lodie wider den Willen der Person im Vorstellungskreise sich
erhält ; namentlich von den letzteren, von den Melodien^ gilt das,
daß sie sich in den Gedankenablaiif hineindrängen und sich nicht
ohne weiteres wieder verscheuchen lassen ; ein andermal kleiden
sie sich in Form einer Ungewißheit, eines Zweifels, ob diese oder
jene Verrichtung in richtiger Weise ausgeführt sei : etwa ob man
beim Fortgehen die Tür verschlossen, ob man ein herunterge-
fallenes Streichholz ausgelöscht habe. In vielen Fällen, bei
*) Westphal Archiv für Psychiatrie und NervenkrankheiteD* 1878. Vllt
24 Georg FUUau
welchen diese Zweifel auftreten; smd es Beschäftigungen, die reiö
mechanisch-gewohnheitsmäßig ausgeübt werden, bei denen die
Bewußtseinstätigkeit keine besondere Rolle spielt. Meist ist es
dann so, daß sich der Betreffende, den diese Zweifel quälen, zu
besinnen sucht, ob er die Tätigkeit in der Tat ausgeführt habe
oder nicht, er sucht den Hergang zu reproduzieren ; gelingt ihm
das nicht, so überzeugt er sich durch Inspektion etc. und damit
ist diese Art von Zwangsvorstellung gewöhnlich beseitigt. In
schwereren Fällen genügt es nicht, wenn sich der Betroffene von
dem Geschehnisse, das ihm zweifelhaft geworden ist, überzeugt
hat; kaum hat er der verschlossenen Tür etwa den Rücken ge-
wandt oder den nochmals durchgelesenen Brief wieder im Kuvert
verschlossen, so befallen ihn diese Zweifel aufs neue, und häu-
fig bedarf es großer Mühe, diese Vorstellungen aus dem Be-
wußtsein zu verscheuchen.
Hier handelt es sich, wie Sie sehen, imi einfache, wenig;
komplizierte Vorstellimgen, die einer energischen Anstrengung
des Individuums gewöhnlich weichen. Ich füge hier schon
hinzu, daß sich an die einfachen Zweifelsvorstellungen andere
anschließen können, z. B. an die Idee, ein Streichholz fort-
geworfen zu haben, kann sich weiter die Vorstellimg einer
Feuersbrunst anschließen, die hier und da in plastischer Deut-
lichkeit empfunden wird. Aber selbst diese ganz einfachen:
Vorstellimgen köntien schon solche Grade annehmen, daß sie
sehr quälend werden. Ein besonders bekanntes Beispiel ist
das, daß Ärzte, wenn sie stark wirkende Stoffe, etwa Morphiimi,
Arsen oder dergleichen verschrieben haben, immer wieder von
Zweifeln befallen werden, ob sie keine zu starke Dosis ver-
schrieben haben; in sehr ausgesprochenen Fällen geben dann
diese das Rezept nur zögernd aus der Hand, nehmen allerlei
Vorwände, um es noch einmal anzusehen; haben sie etwa die
Wohmmg des Kranken schon verlassen, so kehren sie noch
einmal zurück, angeblich, um das Datum zu verbessern oder
um zu sehen, ob die Unterschrift richtig sei, in Wahrheit aber,
um sich von dem Inhalte des Rezeptes zu überzeugen. In sehr
ausgesprochenen Fällen kann es dazu führen, daß solche Ärzte
stark wirkende Stoffe überhaupt nicht mehr verschreiben oder
der Rezeptierkunst ganz entsagen, wenn sie nicht gar, falls
sich diese Vorstellungen auch in andere, als die verschreibende
Ok Psyeh^hgie der ZwnmgrmrsttUungtm
25
Tätigkeit eindrängen, ganz zur Aufgabe des Berufes gezwun-
gen sind. Eine außerordentlich gute Darstellung dieser Ge-
schehnisse habe ich in einem neueren Romane, betitelt ,,Die
Ante'* von Schullem gelesen.
Von diesen im ganzen noch weniger komplizierten Vor*
stellimgen ergibt sich dann der Übergang zu denen^
die gan^ verwickelter Art sind, bei denen ganie Kom*
plexe von Wahrnehmungen und Vorstellungen sich zu
eiaem Ganzen vereinigen, das sich zwangsmäßig dem Bewußtsein
eindrängt und die normale Denktätigkeit, den Ablauf der Asso-
ciationen außerordentlich stört. Solche Vorstellungen finden
sich sehr ausgesprochen in den drei Krankengeschichten, die ich
Ihnen nachstehend auszugsweise mitteile- Ich habe sie so ge-
ordnet, daß sie gewissermaßen der Schwere der Erkrankungen
öacbgereihi sind.
Der erste Fall betraf einen Handwerker mit recht guter
Intelligenz^ der lange Zeit hindurch nur allgemein nervöse
Symptome dargeboten hatte; er hatte in seinem Beruf mit
scharfen Messern zu hantieren und ganz plötzlich stellte sich
bei ihm die Vorstellung ein, er müsse mit diesen scharfen Mes-
sern seine Angehörigen, namentlich seine kleine Tochter ver-
letzen. Diese Vorstellung, die er durchaus nicht los werden
koimte, wurde nach und nach so stark, daß er fürchtete, ihr
nkht mehr widerstehen zu können; er sah sich deshalb ge-
nötigt, sowie bei ihm diese Ideen auftraten und seine Ange*
hörigen sich in demselben Zimmer befanden, namentlich, da
er nicht wollte? daß seine Umgebung diesen Zustand bemerkte^
einfach das Zimmer im verlassen. Andere Vorstellungen haben
sich in diesem Falle niemals gezeigt, wenigstens nur andeutungs-
weise und keine in derselben Stärke, wie die^ mit dem Messer
^*erletzen zu müssen.
Sehr ausgesprochen sind diese Zwangsgedanken des Ver-
letzenmüssens in der folgenden Krankengeschichte:
Die Pat. schreibt:
Vor ungefähr acht Jahren hatte ich mit vielen Sorgen zu
kämpfen, auch von seelischen Aufregungen blieb ich nicht
verschont. Dadurch wurde ich hochgradig nervös. Zeitweise
bekam ich große Angst* Seil einem Jahre habe ich jedoch
hauptsächlich mit diesen schrecklichen Zwangsgedanken ru
26 Georg Flatau
kämpfen. Früher hatte ich Furcht, selbst verunglücken zu
können, jetzt aber verfolgt mich ständig eine innere Stinune
und Lust, einmal eigenhändig ein Unheil anzurichten. Ich
habe nicht mehr die Gewalt über mich, mir klar zu machen,
was daraus wohl entstehen kötiinte, wenn ich der inneren
Stinune Folge leisten würde. Es ist in meinem Körper etwas,
das mich direkt hinstößt, zu tun, was mir meine Gedanken
einflößen. Hauptsälchlich meinem kleinen Jungen gegenüber,
den ich über alles lieb habe, den ich auf Schritt und Tritt
bewachen möchte, sei es mit einem Messer oder Stock, mit
einem Hanmier oder Topf, sogar wenn er in seinem Bettoheni
liegt, möchte ich auf ihn draufschlagen. Gehe ich über eine
Brücke, so höre ich ganz deutlich neben nur eine Stinune,
die mir zuruft hinunter zu springen. Wodurch nur irgend
ein Unheil angerichtet werden könnte, möchte ich tun, es
steigt dann eine förmliche Nichtswürdigkeit in mir auf. Dann,
wird mir Angst und es treten Lähmimgen auf. Ich merke
ganz deutlich, wie mir die Angst aus dem Magen und der
Schwindel aus dem Hinterkopf kommt, und es wird mir
dann übel. Die große Angst und schlechte Gedanken
treten dann jedesmal viel heftiger auf, wenn ich die furcht-
baren, krampfartigen Schmerzen in meinem Körper habe.
Der Krampf zieht mir oft die Ohrtrommel, sowie Gehirn imd
Brust zusammen. Es ist mir dann tüöhts klar im Kopf, gerade
als wäre alles weit von mir entfernt, und ich habe keine Lust
zu leben und zu arbeiten. Es ist ein zu schreckliches imd
bitteres Leben fortwährend mit solche ruchtswürdigen Ge-
danken kämpfen zu müssen, wodurch ich immer schwächer
werde."
In der Krankengeschichte Nr. 3 befinden sich einige Be-
sonderheiten, die wir nachher noch besprechen wollen. Sie
lautet folgendermaßen:
„Seit März dieses Jahres befinde ich mich in diesem un-
glücklichen Zustande. Es war eines Sonntags in der Kirche,
ich hörte mit Andacht die Predigt, da zum Schluß schoß
mir dieser schreckliche Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf,
[nämlich es drängten sich der Kranken Fluchworte auf, so
böser Natiu-, daß sie sich nicht bewegen ließ, sie bei der
Exploration auszusprechen.] Diesen Gedanken kann ich nicht
Du F^chitiogie der Zwtm^JtfiyrsieUungem
27
aufschreiben, auch nicht aussprechen. Wie vernichtet ver-
heß ich die Kirche, ich habe das Gefühl, als sei ich die größte
Sünderin. Diese unglücklichen Gedanken wiederholten sich
insmer; ich kämpfte dagegen, ich betete, ich flehte zu Gott
um Erbarmen, aus diesem Elend mir doch Kraft zu verleihen,
diesen schrecklichen Gedanken zu verbannen, und mich doch
nicht zu Grunde gehen zu lassen. Aber leider, es wurde nicht
besser. Ich befand mich öfter in Veoweiflung. Nun muß
ich immer, auch bei jeder Arbeit so in Gedanken Verse
hinsprechen, meistenteils religiöser Art. Das strengt meinen
Kopf recht an, aber ich kann nicht anders. Zeitweise ist es
auch besser, ich befinde mich in bester Stimmung, dann
hoffe ich, daß es bald gut wird, aber es dauert nicht lange»
dann ist es wieder beim alten. Ich frage mich oft, wie ist es
möglich, ich habe doch noch meinen Verstand,
w-eiß, was ich denke, was ich tue und kann mich i^on diesem
imglücklichen Gedanken nicht losreißen.
Was soll das Werden, wenn ich dieses Unglück nicht wieder
loswerde, ich bin doch zu unglücklich-
Ich war vor diesem so zufrieden, meine Verhältnisse sind
nicht derart, daß ich drückende Sorgen hätte, ich bin bei
steinen Kindern, einem Sohne und zwei Töchtern^ ich besorge
die Wirtschaft, wir haben unser bescheidenes Auskommen,
meme Kinder sind sehr gut gegen mich; da hätte ich Grund
glücklich zu sein, wie ist es nun wohl möglich, daß ich trotz
alledem zn diesem Unglück gekommen bin.
Auch kein körperliches Leiden köniue Veranlassung hierzu
sein, denn körperlich fühle ich mich leidlich wohl, nur daß
mir der Kopf so schwer ist, das kommt durch das viele
Denken/*
Schließlich verfüge ich noch über einen vierten Fall:
„Ein intelligenter Kaufmann von 38 Jahren bemerkte schon
ftiih eine eigentümliche Scheu bei sich, andern, fremden
Menschen die Hand zu reichen, Türklinken anzufassen; er
hatte den Trieb, sich häufig zu waschen, ganz besonders, wenn
er eines der oben genannten Dinge ausgeführt hatte. Pat.
stammte von nervöser Mutter, Vater war an Paralyse gestor-
ben* In leichtem Grade fand sich bei dem Kranken der Drang
über Dinge nachzugrübeln, über deren Ursprung, Zweck usw.
28
Ge^rg Fialati
Nachdem Patient in den letzten Jahren schwere Operationen
mit 12 maliger Narkose hatte durchmachen müssen, stellte
sich bei ihm stets plötzlich die Befürchtung ein, er kömie
sich an Gegenständen seiner engeren und weiteren Umgebung
infizieren; überall vermutete er Schmutz, Austeckutigsstoffe;
Briefe, Zeitungen, die auf den Fußboden seines Zimmet^
gefallen sind, vermag er nur mit Ekel und größter Über-
windung in die Hand zu nehmen, Türklinken öffnet er nicht
mit der Hand» sondern mit dem Ellbogen. Bei jedem Gegen-
stand hat er das größte Mißtrauen bezüglich der Reinlichkeit,
der Infektiosität. Stets stellt sich beim Anblick eines snlchen
Gegenstandes eine ganze Gedankenreihe von Möglichkeiten
ein, wie an diese Gegenstände wohl Schmutz und InfektijnS'
keime gekommen sein könnten/*
Es schildert selbst folgendes Beispiel:
»jDie Wäscherin bringt in einem ganz sauberen Korbe die
tatsächlich reine und saubere Wäsche, Beim Auspacken der
Wäsche fällt mir plötzlich ein, daß der Korb auf dem Fuß-
boden gestanden hat. Sofort bekomme ich das Gefühl des
Mißtrauens und es beginnt das Grübeln^ ob nicht etwa durch
das Geflecht des Korbes Schmutz oder Krankheitskeime an
die Wäsche gekommen sein könnten. Die ganze Wäsche ver*
mag ich dann nur mit Ekel und Furcht vor Ansteckung in
Gebrauch tu nehmen.
Meine Uhr und andere Gegenstände, welche ich im Kran-
kenhause im Nachttischkasten zu hegen hatte, rühre ich nicht
mehr an, weil andere Kranke in dem betreffenden Kasten vor-
her ihre Sachen hatten und ich nun nicht weiß, was da für
Krankheitskeime oder Schmutz in dem Kasten gewesen sind;
ja, ich vermag nicht einmal den Tisch in meiner Wohnung,
auf welchen ich die genannten Sachen bei meiner Rückkehr
aus dem Krankenhause gelegt hatte, ohne Unbehagen und
Ekel zu benutzen.
Gegenstände j welche ein anderer angefaßt hat, nehme ich
immer nur mit dem Gefühl des Mißtrauens (ob der Be-
treffende nicht unreine Hände gehabt etc.) in die Hand.
Kommt jemand meinem Bett zu nahe, sofort habe ich Angst,
daß dadurch Krankheitskeime oder Schmutz, welche an den
Kleidern des Betreffenden etwa haften konnten, nun auf
Die Psychßhgie der ZwttngTvoritellunj^gn
29
mein Bett übertragen sind. Wie schon gesagt^ es gibt in
meiner Wohnung fast keinen Gegenstand, bei dem ich nicht
Angst vor Ansteckung oder Ekel empfinde und zu grübeln
habe, was wohl alles demselben anhaften könnte.
Die allergrößte Angst aber habe ich, wenn ich mir an den
Mnnd oder Gesicht mit der Hand gekommen bin, ohne die
Hände vorher gewaschen zu haben.
Tag und Nacht stehe ich am Waschnapf«
Diese Krankengeschichten sind Typen, aus denen die ver-
schiedenen Arten des Vorstellungsinhaltes hervorgehen; sie er-
schöpfen natürHch im Entferntesten nicht die mannigfaltigen
Möglichkeiten, sie bieten aber alles dar, was zur Erkenntnis
der psychischen Genese der Zwangsvorstellungen notig ist. Sie
zeigen auch — und namentlich findet sich das in der letzten
Krankengeschichte angedeutet — daß eine Art der Zwangs-
vorstellungen in Fragefomi mögHch ist, Griesinger^) gehört
zu den ersten, die diese Art der Zwangsideen genau beschrieben
mid gewürdigt hat» seine Fälle sind besonders interessant,
1) Eine Dame klagte, daß sie von einem unablässigen
Fragedrang gepeinigt sei, daß an jede Vorstellung, sich sofort
eine Frage nach dem wie und wo knüpft z. B.: Warum sitze
ich hier?» warum gehen die Menschen herum? etc,
2) Ein 34 jähriger Mann von nervöser Mutter stammend,
(Epileptiker). Wenn er mit jemand sprach, drängte sich ihm
die Frage auf : Warum ist diese Person gerade so großj warum
nicht kleiner? warum nicht so hoch wie das Zimmer? wie ist
die Person beschaffen?
Ein andermal beschäftigt ihn die Frage, warum gibt es
nicht zwei Sonnen?
In einem dritten Falle bestand anfangs nur eine besondere
Akkuratesse und Peinlichkeit; Patient kann keinen Brief ab-
senden, ohne ihn vielmals durchzulesen, etc. erst nach und
nach entwickelte sich der Drang bei allen Dingen nach ihrem
Wesen j ihrer Entstehung zm fragen. Dieser Kranke hatte voll-
kommen Einsicht darin, daß diese Erscheinungen krankhaft
seien, er sah das unnormale in folgenden Umständen :
'^) Gricsingcr Archiv für Psychiatrie, I. S. 626.
30 Ge^rg Flaiau
l)<lariny daß dieser Grübelzwang ihm früher fremd war
2) in dem anhaltenden und unablässigen des Vorganges,
jeden Tag wiederholt sich der Vorgang in spontaner
Weise
3) in dem UnbezwingUchen, in der Unmöglichkeit, sich
von den Vorstellungen zu befreien, wenn er sich auch'
größte Mühe gab
4) in einer enormen Gefühlsbelästigung durch den Vor-
gang.
Die Fälle Bergers^) ^) zeichnen sich dadurch aus, daß die
emotive Entstehung stark betont ist.
Zweifellos gehören in das Gebiet der Zwangsideen auch die
verschiedenen Formen von Phobieen, xmter denen ja die Agora-
phobie die bekannteste ist. Westphlal^) hat ims zuerst mit
ihnen bekaimt gemacht.
Als wichtiges Ergebnis der Betrachtung des vorliegenden
Materials ergibt sich, daß weitaus die große Mehrzahl der
Zwangsvorstellungen imangenehmen, peinlichen, kurz — un-
lustbetonten Charakters ist; die Krajxken bemühen sich, die
Zwangsvorstellungen, die sie als etwas fremdes erkennen, aus
ihrem Vorstellungskreise zu verdrängen.
Mit großer Deutlichkeit zeigen aber die Krankengeschich-
ten, die ich als Typen angeführt habe, unjd die Berichte aus der
Literatur, daß gemütliche Erregrungen eine große Rolle spielen^
daß sie als auslösendes Moment sowohl für plötzliche Emt-«
stehung von Zwangsvorsteljimgen als auch als vorbereitendes
Element von Wichtigkeit sind. Zwar kann besonders bei kör-
perlich erschöpften Personen die Zwangsvorstellimg so plötz-
lich auftreten, daß es nicht gelingt, den auslösenden Vorgang
durch physische Analyse darzustellen (Fall 1). Die Kranken
geben an, daß ohne Vorboten plötzlich sich die Idee zum
ersten Male bei ihnen einstellte imd nicht mehr zu verscheuchen
war; die Unerläßlichkeit affektiver Einwirkung als Grundlage
wird aber deutlich dargetan durch den Umstand, daß die Affekte
wiederbelebend auf das Eintreten von Zwangsvorstellungen
wirken können.
«) 0 Berger. Archiv für Psychiatrie. 1878. Vm.
„ „ „ Bd. VI. S.217.
«) Westphal. Archiv für Psychiatrie. Bd. III.
Di£ Pty^i^g^c ä0r MmangsvarsUUungen
31
Ein kurzer Überblick über die associative Tätigkeit ist zum
weiteren Verständnis unerläßlich: Eine Vorstellung ruft auf
dem Wege der assodativen Verknüpfung eine andere hervor.
Die associative Verknüpfung karm gegeben sein durch die
Gesetze der Ähnlichkeit^ der zeitlichen Verbindung; es kann
skh um erlernte Reihen von Vorstellungen handeln; schließ-^
Jicb — ich weiß wohl, daß hiermit nicht alle Möglichkeiten er-i
schöpft sind — kann der Associationsverlauf gegeben sein;
wenn wir eine Rede anhören, ein Buch lesen. Beim Auftreten
der Zwangsideen treten Vorstellimgen auf, welche den oben
angeführten Arten der associativen Verknüpfung nicht ent-
sprechen: 2, B, bei dem an Infektionsfurcht erkrankten Indi-
viduimi tritt beim Zeitunglesen^ etwa im Verfolg einer politi*
sehen Debatte^ eines Feuilletons über Kunst etc, die Vor-
stellimgen sich infiziert zu haben, Schmutz an sich zu tragen
in den ganz heterogenen VorsteUungsablauf hinein^ unterbricht
ihn ganz vnd gar und erzwingt die Beschäftigung mit diesen
neu auftauchenden Ideen.
Ein andermal ist es ein Wiort des Vortrages der Lektüre»
die den Gedankenablauf beeinflußt zu Gunsten der Zwangs-
idee, bei dem Falle 3 sind es kontrastierende Vorstellungen^
an die frommen Worte des Gebetes schließen sich die unheiligen
Fhichworte tmd sündhaften Gedanken an. Was verleiht nun
den Zwangsideen die außerodent liehe Mächtigkeit mit welcher
sie die Association wieder den Willen des Individuums er-
zwingen.
Ribot ^) scheint anzunehmen, daß es sich um eine Schwäche
der Willenstärigkeit handelt, so daß es nicht gelingt, unserm
Vorstellungsablaufe die gewollte Richtung zu geben, ihn in
der von uns beabsichtigten Weise zu lenken.
Oben haben wir schon die Wichtigkeit der Affekte betont
und sehr anschaulich geht diese aus Friedmanns *^) Darlegung
hervor. Das Gefühl des Zwanges dessen Vorhandensein ja
dem Symptom den Namen verleiht entsteht erst sekundär, es
stellt sich erst im weiteren Verlaufe ein, wenn erkannt wirdj
liaß die Vorstellungen stärker sind als der .Wille des Indivi-
■) Ribot Maladie de la Volonte.
^ FrlfCtmaan. Über den Watm.
32
Gitfrg^ Fkfion
duums, sie zu verscheuchen. Das Individuum versucht seinem
Gedankengang eine bestimmte Richtung tn geben, sucht aus
der Anzahl der möglichen Associationen eine Wahl zu treffen,
indessen bleibt diese Absicht unausführbar, da sich die Zwangs-
Torstellung in die Associationsreihe hineindrängt, sie unter-
bricht* Nicht die gesuchte Vorstellung wird associiert, sondern
eine fremde erlangt eine so große Intensität, daß sie die an-
dern verdrängt.
Obzwar wir in vielen Fällen nicht mehr feststellen können '
warum die Zwangsvorstellung so stark gefühlsbetont gewarden
istj daß ihre Intensität so gewachsen ist, so gibt es wiederum
auch Beispiele genug, die uns in dieser Hinsicht belehren. Zu
einem besseren Verständnisse kommen wir, wenn wir mnächst
die affektive Grundlage zu verstehen suchen, wir werden dann
am besten erkennen, was bei Zwangsvorstellungen das wirk-
lich Zwingende ist und werden ferner erkennen, warum be-
stimmte Vorstellungen sich immer an bestimmte Bilder an-
schließen; wenn von der affektiven Seite der Zwangsvorstel-
lungen die Rede ist, so muß man festhalten, daß hier ein ge-
wisser Unterschied zu machen ist. Hat sich z. B. bei einem^^
Individuum unter starker Erregung einmal an ein bestimmtes^H
Geschehnis eine andere Vorstellung angeschlossen^ so kann^^
bei einem zu anderer Zeit Auftauchen des Schauplatzes, an
welchem das Geschehnis vor sich ging, auch die Vorstellung
sich wieder mit derselben Stärke einstellen, die seiner Zeit mit
diesem Bilde associien gewesen ist, etwa ein Individuum wird
beim Überschreiten einer Straße aus irgend welchem Grunde
van Angst und Zweifelsgefühlen befallen, so kann sich diese
Verbindung des Überschreitens der Straße mit Schwindelgefühl
so lebhaft einprägen, daß schon bei der Vorstellung, eine Straße
überschreiten zu müssen, sich die Vorstellung des Schwindels
einstellt, sich nicht verscheuchen läßt und so heftig einwirkt,
daß das Überschreiten der Straße aufgegeben wird oder nur
mit Hilfe von Kunstgriffen möglich ist. Der Anblick, daß
jemand von einem andern mit eüiem Messer verletzt vrird, kann
diese Verbindungen mit dem schneidenden Werkzeug und dem
Verletzten zu einer so festen gestalten, daß sich die V^orstel*
lung, verletzen zu müssen, an die Vorstellung des Messers mit
außerordentlicher Stärke anschließt. Damit hätten wir die pri-
/JirV Psyck<?io^9e der ^wismgsv&rsteüung^m
33
märe Erregiing, den primären Affektrustajid, welchen das
erste Mal die associative Verknüpfung ru einer so festen gestaltet
hat. Weiter kommt dazu die Erwartungsangstj die ein solches
Individuiim jedesmal beim Anblick des Messers befällt, indem
es nun auch die Vorstellung des Verletzens erwartet. Es wird
dann von den primären Affekten diese Angstvorstellung als
sekundär auftretende abzutrennen sein und weiterhin wird sich
eine weitere affektive Grundlage finden, wemi das betreffende
Individuum erkennt, daß solche Zwangsvorstellungen bei ihm
mit so großer Intensität auftreten können. Wir werden also als
erste Grundlage kennen lernen eine gewisse Hemmung- die ein-
tritt durch den primär gegebenen Affekt; diese Denkheramung
bereitet den Boden gunstig vor für das Auftreten von Vorstel-
lungen^ die ihrerseits verstärkt sind, indem sie sich unter beson-
ders affektiver Erregung mit einer anderen verbunden haben.
Somit erklart es sich uns auch, daß Zwangsvorstellungen gerade
solche Personen befallen, die eine besondere Disposition nach-
weisen lassen. Ich sprach vorher schon davon, daß auch ein Er-
Wartungsaffekt bei diesen Dingen in Betracht kommt, — es ist
eine häufig gemachte Erfahrung — daß bestimmte Anfälle,
Krankheitszustände um so regelmäßiger auftreten, wenn sich
gewissennaßen ein Mechanismus für sie eingeschliffen hat.
Sind z, B< bei einem Individuum asthmatische Anfälle mehr*
mals hintereinander zu einer bestimmten Stunde eingetreten,
so wirkt die Spanntmg, die erwartungsvolle Angst als ein aus-
lösendes Moment und in ähnlicher Weise werden sich auch,
durcli die Spaimungsaffekte veranlaßt, die Associationen,
wenn sie sich häufiger an eine bestimmte Vorstelltmg zwangs-
mäßig assocüert haben, immer wieder einstellen. Die Er-
wartungsangst wirkt aber auch als weiterhin begünstigender Mo-
ment, indem es die Energie der Denktätigkeit vermindert durch
Erregung eines allgemein hemmenden Unlustgefühles. Herab-
gesetiEt wird auch die Fähigkeit dem Gedankengang eine ge-
wollte Richtung m geben. Wer beim Überschreiten eines freien
Platzes immer wieder Angstgefühl und Schwindel und die Angst-
vorstellungj den Platz nicht überschreiten m können, empfun-
den hat, wird auch immer wieder bei derselben Gelegenheit diese
Erscheinungen erwarten und gerade diese Erwartung wird das
Eintreten derselben besdileimigen. Nim bleibt uns noch zu
Zdtsdirift fQr pädtgogiiche Psychologie, P«lhoto£l«^ und Hygiene. 3
34 Georg Flaiau.
betrachten übrige welche besondere Rolle die Intensität bei den
Vorstellungen spielt, wie ihre besonders große Intensität zu er-
klären ist. Friedmann ^o) macht dafür die besonders associative
Verwandtschaft verantwortUch, in der sie sich zu der Ursprungs-
vorstellung befinden: die Verwandtschaft mit der Ausgangs^
Vorstellung braucht natürlich niemals auch logisch zu sein, son-
dern sie kann durch ganz andere Dinge bedingt sein, ganz beson-
ders durch die affektive Verstärkimg. Es wird, wenn mehrere
Vorstellimgen einer Ausgangsvorstellimg verwandt sind, die-
jenige, welche die größte Intensität besitzt, zur Association
kommen und ihre Intensität wird gesteigert, vor allen Dingen
durch die Affektbetonung. Außer der Affektbetonimg sagt dann
Friedmann, konmit auch noch die Lenkung der Aufmericsam-
keit in Betracht, und ich füge hinzu, daß die Lenkung der
Aufmerksamkeit durch den Spannungszustand, durch den £r-
wartimgszustand, immer mehr noch auf die Zwangsidee ge-
richtet wird. Die Unnützlichkeit des logischen Deiücens bei
den Zwangsvorstellimgen springt bei der Betrachtung der oben
erwähnten Fälle ohne weiteres in die Augen. Das logische Den-
ken, Urteilen und Schlußbildimg werden ja erst im späteren
Leben erworben, während das rein associative Denken schon
vorher vorhanden ist. So bilden die Zwangsvorstellungen ge-
wissermaßen einen Rückfall in die Zeit des rein associativen
Denkens; besonders interessant ist in dieser Hinsicht die zidetzt
genannte Krankengeschichte, bei der es sich im wesentlichen
um Ansteckimgsfurcht handelt. Hier sehen Sie, daß, obgleich
der Kranke sich bemüht, die sich ihm aufdringende Vorstellung
durch logisches Denken, durch Zergliedenmg aus dem Bewußt-
sein herauszuschaffen, ihm das doch niemals gelingt. Wenn
er fürchtet, durch Berührung irgend eines Gegenstandes sich
infiziert zu haben, so ist er wohl im stände, logisch in folgender
Weise zu urteilen: Hier ist keine sichtbare Infektionsquelle
vorhanden, die bloße Berührung kann ja auch nicht zu einer
Infektion führ^i, mithin kann ich mich hier nicht infiziert haben.
Sofort aber drängt sich wieder die Vorstellung auf, vielleicht
besteht dann aber eine andere Möglichkeit, imd so drängt sich
wiederum die Zwangsidee, sich infiziert zu haben, in den Vor-
dergrund.
So erklärt sich auch, daß häufig ganz absurde Ideen zwangs-
Die Psychologie der Zwangsvarstellungen, 35
mäßig auftreten können. Einmal war es ein Fall, derart : eine
Per9on bratichte nur von einem Unglücksfall, Todesfall etc.
zu lesen, sofort drängte sich ihr der Gedanke auf, sie selbst
sei Schuld an diesem Ereignis. Obgleich sie im stände war,
sich selbst den logischen Nachweis der Un!möglichkeit zu
fähren, traten diese Ideen doch immer wieder hervor.
(t*^5l*
Neue Versuche und Hilfemittel im
Oesans^unterricht.
V'oftr^ Sdalten am 13. Febmar 1903 im Verein für Kinderpsychologie
zn Berlin.
A. Qnsinde.
Hodiansehnliche Versammlung! Ich habe die hohe Ehre,
vor Ihnen über ein neues Hilfsmittel für den Gesangunterrioht,
sowie über meine Versuche bei diesem Unterridit, xu sfHredieiL
Bevor ich xu der Sache selbst übergehe, woDen Sie mir gutigst
einige einleitende Booerkungen über den gegoiwartigen Stand
der Methodik des Gesangunterricfats gestatt^[L Es wird damit
ein brauchbarer Boden für unsere Unterhaltung gewonnen
werdtti.
Eine eigentliche Methodik des Gesangumerrichts besteht
eist seit d« Tag« Pestaloxxis. Vorher diente dieser Unter-
richt lediglich praktischen Zwecken. Man übte die Lieder ledig-
lidi durch Vor^ und Nachsing»! ein« also in einer Form, die
nidit geeignet ist. musikalisch vielseitig xu büden. So geschah
es im achtxehnten Jahrhundert« so xu den Zeiten« wo dieKkister-
und Domschulen in Blüte standen« Ms xu doi Zdten der allen
Giiediefi.. die bei ihren Nationalspielen« insbesondere den ol3^m-
pecheii« xur V^herrfidraog dies« Festspiele Gesii^ge Tortru-
gea. wie xur Zeit der Israeliten« die solche für den JdiOTadienst
im Tempel bnoidiien. Mögen sich auch diese Gesäuge iron-
eiaander unterscheiden, die Einübung erfo^^ stets auf media-
Msdwm Wege ledighch durch Vc^^ und Nachsingen. Seit
BKtakmb Institvft« und Pfnfw eine ^.Gesangdiildungdehre**aDns,
A. Gusmde
37
eine auf die innere Weseiüieit des Menschen sich beziehende
Methcwie der vielseitigen Geistesbildung entgegenstellte, beginnt
auch für den Gesangunterricht eine Anregung zum Besseren,
Nach seinen Grundsätzen arbeiteten Nageli, Gcsanglehrer an
Pestalozzis Institut und Pfeifer eine „Gesangbildungslehre" aus,
die außerordenthch reichhaltig an melodischen, rhythnüschen
imd dynamischen Übungen war, die jedoch nacheinander zur Be-
handlung gelangten, so daß die Kinder zu spät oder gar nicht
tmn eigentlichen Liedersingen kamen, was um so erklärlicher
erscheint, als das Singen lehrplanniaßig erst mit dem zchntea
Lebensjahre begann. Diesem Obelstande suchte Natorp zu be-
gegnen. Auch er gibt rhythmische, melodische und dynamische
Übungen, verteilt sie aber auf mehrere Unterrichtsstufen und
läßt einen Liederkursus nebenherlaufen. Statt aber diese Lieder
dem deutschen Volksliederschatze zu entnehmen, komponiert er
selbst solche^ die lediglich auf die technischen Übungen Rück-
sicht nehmen. Dazu kommt, daß er die bereits früher durch
Rousseau erfundene Ziffernmethode zur Geltung brachte imd
damit die Voraussetzung zu einem Streit schuf, der später zwi-
schen den Zifferisten und den Anhängern der Noten ausgefoch-
len wurde, wodurch jedoch eine gewisse Hemmung in der Ent*
widcelxmg einer rationellen Methodik des Gesangunterrichts
eintrat. Die Unfruchtbarkeit der gemachten, das heißt für tech*
iLi5<^€ Zwecke komponierten Lieder, wurde glücklicherweise
Wßd erkannt* Hentschel setzte dem technischen Kursus
€inen Liederkursus als gleichberechtigt zur Seite, so daß
von nun an das deutsche Lied zur Geltung kam.
Leider liefen aber beide Kurse ohne innere Bezie-
hung, ohne inneren Zusammenhang nebeneinander her.
Das war der Grund, weshalb Pflüger in seiner ,^n-
leitung für den Gesangunterricht" den technischen Kursus vom
Liederkursus abhangig machte, indem er zuerst das Lied gab
und dann in analytisch synthetischer Form an dasselbe heran-
irat, tun das für die technischen Übungen notwendige Material
zu gewinnen und zu verarbeiten. Das ist das Verfahren, das
für den ersten Augenblick etwas Bestechendes an sich hat, vom
ästhetischen Standpunkte aber völlig zu verwerfen ist, da es
das Lied — ein MusikahschSchönes — zum Gegenstande von
iersetzenden Übungen macht.
38 ^^*^ Vertudu und BafimiUd. im GesamfrumterriekL
Der heutige Stand der Methodik des Gesangunterricfats
ist im allgemeinen der^ daß sich das gesamte Unterrichtsmaterial
in zwei stufenweise geordnete Kurse — den technischen imd
den Liederkursus — gliedert, die selbständig nebeneinander
hergehen. Die Zifferisten sind wenigstens in Deutschland ziem-
licfa verdrängt. An Stelle der Ziifer, die Tonzeichen und zugleich
VeranschauUchimgsmittel für Tonverhältnisse sein sollte, ist die
Note getreten. So steht es, hochgeehrte Damen und Herren, mit
der Methode des Gesangunterrichts, soweit sie in Schriften
niedergelegt ist. Was ist nun in der Praxis geleistet worden?
Hat die Volksschule bisher ihre Aufgabe im Gesangunterricht
gelöst?
Hören wir zunächst, was der vom englischen Ministerium
zum Studium des Gesangunterrichts nach Deutschland, Öster-
reich, der Schweiz, Belgien und Holland entsandte Seminar-
musiklehrer Hullah in seinem Berichte an seine Unterrichts-
behörde für ein Urteil über den in den Volksschulen Deutsch-
lands erteilten Gesangunterricht fällt. Er sagt nämUch: „In
Deutschland sind die Resultate des Gesangunterrichts die denk-
bar ärmsten." Das ist allerdings eine beschämende Zensur für
uns, imd doch ist es wahr, daß bei uns der Gesangunterricfat
in seinem vollen Bildungswerte nicht immer gehörig gewürdigt
wird. Man hat sich damit begnügt, eine Anzahl von Texten
in Verbindung mit ihren Melodien tüchtig einzuüben, kitzelte
hie und da wohl auch den Zuhörern durch den Vortrag von
3- und 4 stimmigen Liedern die Ohren und glaubte damit Großes
geleistet zu haben. Das bloße Gehörsingen — das Förster ge-
radezu „imvemünftig" nennt; „denn es stellt vernünftig den-
kende Wesen auf gleiche Stufe mit Staren, Papageien, Gimpeln
und anderen vemunftlosen Geschöpfen, indem es sie zwingt,
vorgespielte imd vorgesungene Melodien gedankenlos und me-
chanisch nachzusingen" — wird zur Zeit leider noch in den
meisten Volksschulen ausschließlich betrieben. „Unser Gesang-
imterricht krankt wesentlich an zwei Übeln: 1. er bringt die
Schüler nicht zum selbständigen Treffen der Noten und 2. wird
er nicht im Sinne der Kunsterziehimg betrieben. Förster sagt
mit Recht : „Das Interesse, das eine hübsche Melodie bei jedem
musikalisdi beanlagten Menschen erweckt, wird gar bald wie-
der durch das stxmdenlange mechanische Einpauken erstickt.**
A, Gumnde*
m
Auf das widersinnige Zerstückeln der Melodien, das beim
gedachtnismäßigen, mechanischen Gehörsingen in Erscheinung
tri«, komme ich später noch aurück. — Wenn auch für die Auf*
nähme der Treffübungen in den Lehrplan für Volksschulen
neuerdings viel gekämpft worden ist, ein wirklicher Erfolg ist
erst in allerkürzester Zeit erreicht werden. Der Lehrplan für
Berliner Gemeindeschulen, der am L Oktober 1902 in Kraft ge-
treten ist, fordert ausdrücklich die Vornahme von Treffübun-
gen. Wie diese im einzelnen zweckmäßig vorzunehmen sind,
darüber ist jedoch erwünschte Klarheit noch nicht erzielt worden.
Zunächst handelt es sich darum, den Grundsatz : .yon der be-
weglichen arur feststehenden Note** zur Geltung zu bringen und
damit hängt eine zweite Forderung zusammen, nach der an
Stelle des mechanischen Vorspielens von Tönen und Ton
reihen auf der Geige oder des Vorsingens seitens des Lehrers
die Beachtung der selbsteigenen Entwickelung des Kindes von
innen heraus zu treten hat.
Hat die Volksschule die Pflicht, die Schüler zum selbstän-
digen Treffen der Noten zu bringen, und wie ist diese Aufgabe
zu lösen?
Der Gesangunterricht ist berufen, die allgemeine Menschen*
bildung zu fördern und daneben noch eine ureigne Aufgabe zu
lösen. Er hat den Verstand, das Gedächtnis, die Phantasie, das
Gemüt zu bilden; aber das tun auch die anderen Unterrichts-
fächer; darin besteht nicht seine ureigene Aufgabe, Sein be-
sonderes Ziel ist, den Schülern eine bestimmte Summe von musi-
kalischen Kenntnissen und Fertigkeiten zu vermitteln und damit
die ihnen verliehene Kraft, musikalische Gedanken aufzufassen
und wiederzugeben, sm erstarken und das Kind zn befähigen,
tief innerlich das Musikalisch-Schöne rein und edel zu genießen.
Jene Fertigkeiten, deren Erwerb eim wesentlicher Teil der Auf-
gäbe des Gesangunterrichts ist^ ergeben sich einerseits aus einer
Schulung der Stimme, anderseits aus der Entwicklung und
Ausbildung des Gehörs. Das vorzüglichste Mittel zur Entwick*
luBg des musikalischen Gehörs aber ist in den Treffübungen ge-
geben, indem sie infolge Veranschaulichung der einzelnen Töne
(/Noten I), Tonstufen und Taktverhältnisse den Schüler zu einer
Klarheit bringen, die das Gehörsingen niemals erreichen läßt.
Das Treffen der Noten beziehungsweise das selbständige Singen
40 ^^*^ Vemuke und OUßmaitd üh Gesam^mUerrüki
der durch Noten gekennzeichneten Töne setzt ein scharfes
Untersdieiden der einzefaien Intervalle voraus. Dieses kamt
sich entweder direkt — vermittelst Rückerinnerung der ein-
zelnen Tonvorstellimgen — oder imter Anwendung gewisser
Hilfsmittel in einzelnen Ton- oder in Akkordfolgen vollziehen^
W^ui es sich imi die Einführung in eine Tonleiter handelt,
wird es sich heratisstellen, daß bereits Kinder der Unterstufe
in verhältnismäßig kurzer Zeit die einzelnen Töne auch außer-
halb der durch die Tonleiter gegebenen Reihenfolge zu reprodu*
zieren vennögen. Das hat seinen Erklärungsgrund in dem
glucklichen Tongedächtnis der Kleinen. Die Erfahrung hat
gelehrt, daß die Volksschüler bei richtigem Betrieb des Ge-
sangunterrichts über die Stufe der bloßen Reproduktion hinaus-
gehobai und zum selbständigen Treffen resp. Finden von leiter-
eigenen und leiterfremden Tönen gebracht werden können.
Zweifelsohne handelt es sich beim Treffen der Noten um eine
eminent wichtige geistige Tätigkeit, deren Beachtung den päda-
gogischen Begriff des Gesangunterrichts an sich insofern er-
weitert, ak der Geist des Kindes durch die Elntwicklung der
Fähigkeit, die Entfemxmg der einen Note von der anderen
resp. die relative Hohe oder Tiefe eines selbständig zu sachoi-
dcn Tones richtig zu ermitteln, auf eine höhere Stufe der Voll-
kommenheit gehoben, also in ganz spezifischer Form, die bei
keinen andern Lehrgegenstande wiederkehrt, gebildet wird.
Dieser Grund allein schon spricht für die Berechtigung der
Treffübungen im Gesangrmterrichte der Volksschule, obwohl
feststeht, daß ohne den Betrieb dieser Übungen der Gesang-
unterricht seine volle Aufgabe im Sinne der Kunsterziehung^
nicht zu lösai vermag, im entgegengesetzten Falle aber dem
Unreinsingen« dem Hauptfeinde eines guten Schulgesanges, in
wirksamer Weise vorgebeugt und mit der durch die Treffübun-^
gen verbundenen Schärfung des Gehörsinnes auch die künst-
lerische Bildung des Kindes ^^esenthch gefördert wird; denn
je besser der Schüler zu hörm ^^ermag, desto leichter und rich-
tiger faißt er ein Gesangstüd: auf. desto größer ist sein Kunstge-
nuß. Wer die Treff Übungen in riditiger Weise \x>m]mmt, wird
deshalb den Kindein während der Schulzeit nicht wenigu-, son-
dern mehr Lieder vermitteln können. Auch wird er auf den
gemütvolle« Vortrag mehr Gewicht legai können» denn so
A. Guänd*
41
gebildete Kinder erfassen neue Lieder schneller und richtiger*
Hierbei berufe ich mich auf die eigene Erfahrung und auf das
Zeugnis von Mäninemj die in dieser Arbeit stehen, sowie auf
Gesangsmethodiker von Ruf und Verdienst. Wenn es trotzdem
noch Scbtahnärmer geben sollte, die da meinen, daß der Schul-
gesang, der sich mit dem Einpauken und Eindrillen von Liedern
und deren tadelloser Reproduzierung begnügt, die Aufgabe
des Gesangunterrichtes gelost habe, so mögen sie bedenken,
daß diese Art Gesangunterricht, soweit er in der Einübung ein-
stimmiger Lieder (und vielleicht auch zweistimmiger!} t^steht»
auch von einem Nichtpädagogen mit normalem Gehör und ohne
jede musikalische Bildung und auf der Oberstufe, wo mehr-
stimmige Lieder zu lernen wären, von einem bei der Musik*
kapeile ausgedienten Soldaten mit Erfolg erteilt werden könnte*
Tatsächlich verhall sich die Sache aber anders I Wir verlangen
einen methodisch und pädagogisch geschulten Lehrer, der sich
stets gegenwärtig hält, daß der Gesangunterricht geistbildend
wirken müsse. Ein solcher Lehrer muß aber auch wissen, daß
Treffübungen beim Singen in ganz besonderer Weise geistbil-
dend wirken j und daß er ohne diese Übungen keinen vollgilt igen
Gesangunterricht erteilen kann. Wer das nicht weiß, muß abge-
lehnt werden. Er ist kein Pädagoge, selbst wenn er auf dem
Schulsessel säße. Es ist leider eine traurige Tatsache, daß die
bereits seit Pestalozzi in der Theorie des Gesangunterrichtes
aufgestellten Forderungen, die bei jedem Gesangmethodiker
bis 2ur Gegenwart immer wiederkehren, nicht überall verwirk-
licht worden sind. Bereits Michael Traugott Pfeiffer fordert
in seiner »^Gesangbildungslehre nach Pestalozzischen Grund-
sätzen** u. a, die Unterscheidung von hohen und tiefen Tönen,
die Bildimg auf* und absteigender Tonreihen, Übungen im
stitfoi- und sprungweisen Tonfortschritt, Erweiterung desTon-
bereichs^ V^ersetzung der Tetrachorde, Vorführung der diato-
m&ch*chromatischen Tonreihe, Übungen in chromatischen und
dissonierenden Intervallen usw. Sind seitdem auch die An*
sichten über das ^,Wie*' des Unterrichts andere geworden, das
,,Was" blieb im wesentlichen in der Theorie anerkannt. Auch
die Praxis ist durch diese Forderungen nicht unberührt geblie-
ben. Es gibt Landstriche in Preußen, wo von jeher auf eine
gute Vokalmusik gehalten wurde. Ich wüßte recht viele Kan-
42 Neue Versuche und Häftmätel im GesangumterriekL
toren auf Dörfern zu nennen, die trotz der beschränkten Ver-
hältnisse, unter welchen sie arbeiten, die Kinder gesanglich
außerordentlich weit gefördert haben, so daß diesen die Noten
durchaus keine toten Zeichen geblieben sind. Anderseits sind mir
allerdings auch vielgliedrige Schulen in großen Städten bekannt,
wo man sich mit dem bloßen Einlernen von Liedern und einem
angemessenen Vortrag derselben noch beute begnügt und oben-
drein doch behauptet, wer weiß wie viel für die Geistesbildung
der Kinder damit geleistet zu haben. Ist auch im allgemeimei^
bisher das nicht verwirklicht worden, was einzelne Pädagogen
erstrebten, so kann doch mit Sicherheit erwartet werden, daß
in der Folgezeit auf dem Gebiete des Gesangunterrichts mehr
als bisher geleistet werden wird. Das Ministerium des Unter-
richts etc. hat sich einer Deputation des „Allgemeinen deut-
schen Musikvereins** gegenüber für das selbständige Singen
nach Noten (also für das Treffen derselben) in den Schuld
behufs Erhaltung und Stärkung der musikalischen Kraft un-
seres Volkes ausgesprochen. Auch in der vom Königl. Pro-
vinzial-Schulkollegium im Auftrage des Ministers einberufenen
Kommission zur Bearbeitung des Lehrplans für den Gesang-
unterricht der Berliner Gemeindeschulen herrschte volle Ober-
einstimmimg darüber, daß das Treffen der Noten geübt wer-
den müsse und — wie ich gleich hinzufüge — nicht erst in
den oberen Klassen der Volksschule, sondern bereits in den
imteren, nämlich mit dem Beginn des zweiten Schuljahrs. Die
Treffübxmgen haben allerdings nach bestinmiten Grundsätzen
zu erfolgen. Besonders wichtig erscheint die Forderung: „Von
der beweglichen zur feststehenden oder von der Note ohne
Zeitwert zu der mit Zeitwert.** Die Bewegung ist der Aus-
druck des Lebens, Leben erweckt Leben. Demnach kommt
der Bewegfung in der Psychologie eine hohe Bedeutung zu,
und es ist die Aufgabe der Pädagogik, die sich hieraus er-
gebenden Konsequenzen zu ziehen. Wie bedeutungsvoll der
Gebrauch der beweglichen Note für den Gesangunterricfat ist,
beweist schon die Tatsache, daß die Schüler oft gewisse fest-
stehende Noten nicht treffen, während sie die entsprechenden
Intervalle mit Leichtigkeit beim Gebrauch der beweglichen
Note treffen. Der Gebrauch der beweglichen Note versetst
eben den Geist in eine höhere Aktivität. Daher die. über?
A, Guämd$,
43
raschende Tatsache, daß bereits Kinder des zweiten Schul
Jahres leicht und bequem soweit gefördert wurden, daß sie
leichte einstimmige Lieder ohne weiteres vom Blatte sangen.
Oberflächlich betrachtet, hat es den Anschein, als wäre das
Treffen feststehender Noten zunächst zu betreiben, weil hier-
bei Gelegenheit gegeben ist, das Intervallen Verhältnis zu be-
rechnen. Wurde es sich um die Noten f-a handeln, dann müßte
sich das Exempel etwa so gestalten: Gegeben ist die Note
f tmd a ; wie weit ist die zweite von der ersten entfernt ? Nun
ist zu rechnen^ daß von f*g eine ganze Stufe, von g-a wieder
eine ganze Stufe ist, zusammen also 2 ganze Stufen heraus
kommen. Bei der beweglichen Note tritt der Schüler sofort
ms Abzählen der Stufen — der elementarsten Berechnungs-
form — ein und vermittelt to die Höhe oder Tiefe eines Tones
unmittelbar in dem Augenblicke, wo sie einen Raum im Noten-
liniensystem durchmißt. Die bewegliche Note ist also das kon*
krete Maß, das ihm bei der Ermittelung der Hohe oder Tiefe
eines Tones zum Werkzeug wird, während er bei feststehenden
Noten eines solchen entbehrt. Dazu kommt noch der hohe
Wert, daü der Schüler \'on Anfang an zur ungeteilten Auf-
merksamkeit beim Singen insofern erEogen wird, als er ge*
z^'ungen ist, den ersten Ton resp, die erste Note im Gedächt-
nis festzuhalten, und seine Aufmerksamkeit nur auf ein»sn Punkt
(die bewegliche Notel zu richten, während er in seiner gei-
stigen Betätigung durch eine Vielheit von feststehenden Noten
abgelenkt wird. Hierin scheint vorzugsweise der Schlüssel für
die überraschenden Erfolge, die beim Gebrauch der beweg-
lichen Note im Gesangunterrichte sich einstellen, zu liegen.
Nachdem die grundlegenden Übungen beendet sind, handelt
es sich freilich nur noch um eine reproduzierende, nicht aber re-
flektierende Tätigkeit des Geistes. Zur Vervollständigung der me-
tbodischen Maßnahmen, zur Erweiterung und Vertiefung des
Unterrichts muß man allerdings tiach dem Gebrauch der beweg*
liehen zu dem der feststehenden Note übergehen. Das ist schon
deshalb notwendige weil nur durch feststehende Noten die No-
tation des ganzen Gesangstückes dauernd vor das Auge des
Srfiülcrs tmd so der Bau desselben ausreichend zu seiner Er-
Icemitnis gebracht werden kann. — Dem Treffen einzelner Tone
ist das Treffen in Akkorden gegenüberzustellen. Beim Treffen
m
44 Neue Versuche und Häfamiiel im GesanguiUerriM
im Unisonogesang handelt es sich hauptsächlich um die richtige
Erkenntnis der Intervalle^ wobei dann die einzelnen Töne mit
oder ohne Vermittelung von Hilfstönen resp. der bloßen Repro-
duktion der entsprechenden Tonvorstellimgen gesungen werden.
Beim Singen in Akkorden tritt insofern ein ganz neues Moment
hinzu^ als die eigentümliche Klangwirkung der Akkorde erfaßt
und richtig zum Ausdruck gebracht werden muß. Man ver-
gegenwärtige sich z. B., wie die Quinte, die Terz, die Septime,
wie leiterförmige Töne in Akkorden klingen und wie sie dement-
sprechend gesanglich zu behandeln sind. Die Töne der ein-
zelnen Intervalle erscheinen hier als Teile organisch ge-
gliederter Ganze, der Akkorde, die hinwiederum die Elemente
der Harmonik darstellen. Kann die Volksschule ihre Kinder
zum Treffen in Akkorden bringen? Wer Gusindes Singema-
schine beim Gesangunterricht verwertet hat, wird diese Frage
ohne weiteres mit „ja** beantworten. Die Singemaschine ge-
stattet die Vornahme von leichten und schwierigen Akkord-
folgen. Die in dieser Hinsicht vorgeiK>mmenen Versuche des
Unterzeichneten haben sich sehr fruchtbringend gestaltet. Wer
mit leichten dreistimmigen Akkorden beginnt, und methodisch
stufengemäß fortschreitet, wird bald den Erfolg seines Unter-
richts merken. Die Kinder werden wahrscheinUch rascher im
Singen najch Akkorden Sicherheit bekunden, als man erwartet
hat, und die leidigen Klagen über das Unreinsingen bei mehr-
stimmigen Liedern werden verstummen. Das sind Erfolge, die
die Freude am mehrstimmigen Gesänge sowohl beim Lehrer
wie beim Schüler erhöhen müssen. Die Akkordfolgen selbst
stellen entweder eigene Gedanken des Lehrers oder Sätze aus
Liedern resp. ganze Gesänge dar. Da aber mehrstimmige Ge-
sänge oft auch schwierige, vielleicht gänzUch unbekannte
Akkorde enthalten, ist aus methodischen und pädagogischen
Gründen zu fordern, daß der Lehrer dieselben vorher schul-
gemäß behandle resp. an der Singemaschine vorher darstelle,
zunächst entsprechende Hilfsakkorde einschiebe imd allmählich
das Schwierige im Gesangstücke herausarbeite und schließlich
das Ungewohnte zum Gewohnten erhebe. Sollte z. B. ein Septi-
menakkord neu auftreten, so gehe man von einem bekannten
Akkorde aus, lasse dann den Septimenakkord in der entsprechen*
den Lage singen, löse ihn richtig auf, schiebe weitere Akkorde
A, Gitsinde
45
ein, bringe wieder und immer wieder den Septimenakkorod bald
in dieser, bald in jener Umkehrung zur Darstellung, bis sich das
Ohr all seine Klangwirkung gewöhnt hat. Der geschickte Lehrer
wird in solchen und ähnlichen Fällen mehr an der Singema-
schine zu machen wissen, als ihm hier gesagt werden kann.
Uniweifelhaft wird es ihm aber an der mehrklassigen Volks-
schule gelingen, die Kinder in den oberen Klassen zum selb
ständigen Treffen in Akkorden zu befähigen. Von ganz be*
sonderer Wichtigkeit bei der Vornahme von Treffübungen ist
der Umstand, daß der Schüler bei seiner eigenen geistigen
Arbeit nicht durch Anwendung unzweckmäßiger Mittel beein-
trächtigt werde. Hierher gehören insbesondere das Vorsingen
oder Vorspielen von Melodien oder Tonfolgen auf der Geige,
j^Was der Schüler finden kann, soll man ihm nicht geben,*' sagte
der alte Dinter. Auf den Gesangunterricht angewandt, lau
tet dieser Satz: ,,Da die Kinder 2rum selbständigen Treffen
der Töne und Tonfolgen gebracht werden können, soll
man diese weder vorgeigen^ noch vorspielen.'* Viel wich-
tiger ist, die Kinder zur höchsten Aktivität zu erregen,
alles möglichst aus ihrem Geiste herauszuarbeiten und
^o ihre musikalischen Kräfte zu beleben und ta stärken.
Jedes verarbeitete Gesangstück weckt und stärkt ihre musi-
kaiischen Fähigkeiten und gibt ihnen Waffen im Arsenal der
Kraft. Das Vorsingen könnte im Notfall bei der Korrektur
imd Tonbildung gestattet sein, sonst ist es zu vermeiden. —
Wie bereits angedeutet, schließt sich an den Gebrauch der
beweglichen der der feststehenden Noten. Dabei ist lu be-
achten, daß sich die Notation eines Gesangstückes vor den
Augen der Kinder vollziehen muß. Das Werdende genießt den
Vorzug vor dem Fertigen. Das Werdende ist ein allmählich Ent-
stehendes und erregt das Interesse der Kinder in höchstem
Grade, indem es ihre Mitarbeit, die ^Betätigung des eigenen Ichs
als elementarster Lebensäußening gestattet. Sodann erleichtert
es die Einsicht in den Bau des Gesangstückes insofern, als all
mählich vom Teile zum Ganzen fortgeschritten wird. Dabei
erlangt der Schüler nicht nur eine tiefere Einsicht in die Noten
folge, sondern auch in die Gesetze der Harmonik und Formen
lehre der Musik, Er wird befähigt, das im Gesänge Erfaßte,
4jas Wahrgenommene zum bestimmten Ausdruck zu bringen.
46 ^^^ Versuche und HüfimiUel im GesamgunUrnAL
Das geistige Leben des Schülers erfährt dabei einen wesent-
lichen Zuwachs, indem der Blick für das Musikklisch-Schöne
erweitert wird; denn dieses besteht nicht nur in den Tonver-
hältnissen an sich, sondern auch im Bau des Gesangstückes,
sowie in der Folge, Anwendung, Verbindung und Zahl der ein-
zelnen Sätze. Der Unterricht sucht dabei das unwillkürUche
Gefallen zu überwinden und den Geist des Schülers auf die
Stufe des ästhetischen Gefallens und Denkens zu erheben. Dazu
kommt, daß bei der entwickelnden Lehrform die Schüler viel-
seitiger angeregt werden. Bald berechnen sie, wieviel Taktteile
zum vollständigen Takte fehlen, bald welche Noten gebraucht
werden könnten usw. Die Singemaschine gestattet endlich» die
eigene Selbstbetätigung der Schüler beim Aufbau der Notation
noch insofern, ab die Schüler körperliche Noten leicht und be-
quem an derselben anstecken können, was sie gewöhnlich mit
großer Freude vornehmen. Die Noten selbst haben ein ästheti-
sches Aussehen, so daß das Kimst-Schöne des Liedes durch
Zeichen, deren Anblick nicht das ästhetische Gefühl der Schüler
trübt, dargestellt werden kann. Doch das Kunst-Schöne verlangt
auch seiner Natur und Wesenheit nach eine eigene Behand-
lung. In einzelnen Handbüchern der Methodik wird verlangt,
daß der Lehrer eine Melodie zuerst vorspiele oder vorsinge,
dann in ihre Teile zerlege und diese den Klindem einpräge.
Dabei dachte man durch vorangegangene Teilung resp. Be*
handlung der Teile das Ganze zu erreichen. Bei den Unter-
richtsfächern, deren Ziel außerhalb der Kunsterziehiuig liegt,
mag das ridhtig sein, beim Gesangunterricht ist es verwerf-
lich. Wer ein Ästhetisch-Schönes in Teile zerlegt, nimmt ihm
seine geheimnisvolle Wirkung. Wollte man z. B. Goethes Denk-
mal im Berliner Tiergarten zerstückeln oder den Christus von
Thorwaldsen in Teile zerlegen, so wäre augenbliddich das Ge-
heimnis des Schönen, das diese Ktmstwerke umgibt, vernichtet.
Nim muß ja zugegeben werden, daß bei Schöpfungen der dar-
stellenden Kunst, das Sinnwidrige der Zerstückelung leichter
einzusehen ist, als bei Werken der übrigen Kunstzweige. Den-
noch bleibt auch hier bestehen, daß ein Kunstwerk nur als
Ganzes entsprechend wirken kann. Wer z.B. den ersten Teil
einer Melodie singt, immer wieder nur allein singt, beendet ihn
jedesmal bewußt oder imbewußt in unbefriedigter Weise. Sein
A, Gushtde,
47
eigenes musikalisches Gefühl drängt ihn nach Fortsetzung und
Vervollständigung des musikalischen Gedankens, Indem aber
diesem Gefühl Zwang angetan wird, wird es verletzt resp. ab-
gestumpft. Es bleibt schließlich ein Reflex zurück, nämlich
eine Schwacliung des natürlichen Drängens nach Vervollständi-
gung von musikalischen Gedanken. Damit ist der Schulung
des Geistes zur Erfassung musikalischer Gedanken geradezu
zuwidergehandelt. Zudem handelt es sich bei der Kunster-
ziehimg um die Entwickelung der Fähigkeit, sich mit dem
Kün^er (Komponisten) im Denken und Empfinden bis zu einem
gewissen Grade zu identifizieren und den ins Kunstwerk hinein-
gelegten geistigen Gehalt aufs neue in der eigenen Seele er-
stehen zu lassen, sowie um die Entwickelung des lebendigen Ge-
fühls der Befriedigung imd Freude über das Kunstwerk. Auch
die Melodie ist ein Kunstwerk. Als solches stellt sie dar eine Ver<
bindung von Geistigem und Formalem zu völliger Einheit, worin
etwa^ Geheimnisvolles liegt, das die wunderbare Macht be-
gründet, mit der uns ihre Schönheit ergreift* Diese geheimnis-
volle Wirkung rufen aber nicht die Teile der Melodie, sondern
ganze Melodien hervor. Nur die ganze Melodie erweckt das
Gefühl der Lust und Freude am Schönen, während beim müh-
seligen Memorieren ihrer Teile Lust und Freude beeinträchtigt
werden. Wer eine Melodie zerstückelt und ihre einzelnen Teile
mühsam den Kindern übereignet, handelt den Gesetzen der
Ästhetik und Kunsterziehung zuwider. Er nimmt ihr den poe*
tischen Hauch und beeinträchtigt ihre ästhetische Wirkung ganz
wesentlich, hebt sie teilweise vielleicht gar auf; er verhindert
mehr oder weniger den Kunstgenuß und lehrt die Kinder, sidh
dem Kunstschönen nicht zu , sondern abzuwenden, , Das Schöne
wül geschont sein. Die Melodie muß als Ganzes aufgefaßt
tmd empfunden werden. Somit hat der Gesangunterricht die
Pflicht, diese Tatsache zu beachten resp. die Melodie als Ganzes
dem Schüler zu übermittehi, was jedoch nicht ausschließt, daß
etwaige Schwierigkeiten für die Auffassung vorher sinnig hin-
weggeräumt werden können. Durch entsprechende Treff -
Übungen an der Singemaschine erweckt man das Gefühl der
Lust und Freude am Schönen, wahrend es beim mühseligen
Einpauken der einzelnen Teile eines Liedes beeinträchtigt wird.
— Da eine Melodie als Kunstschönes nicht zerstückelt werden
43 Neue Versuche und HüfimUtei im Gesangunierrichi
-darf^ muß dafür gesor^ werden, daß die Kinder zuvor fähig
gemacht werden, sie als Ganzes zu erfassen. Das geschieht
durch zweckmäßige Vorübungen, wobei an bereits^ bekiaimte,
bis zur völligen Treffsicherheit geübte Intervalle und Ton-
fortschritte angeknüpft und allmählich so weit gegangen wird,
bis die Kinder die schweren Intervalle der Mek>die selbständig
treffen. Diese Vorübungen sind so tm halten, daß sie den Cha-
rakter von technischen Übungen bewahren imd den musildali-
^hen Gedanken, der in der Melodie fliegt, nicht erldennen lassen.
Da auch die Rhythmik einer Melodie eifaßt werden muß, em-
pfiehlt es sich, auch rhythmische Vorübimgen vonemiehmen.
Wie diesie Übungen im ein^lnen sich gestalten müssen, hängt
von der Konstruktion der einzelnen Melodien ab. JedenfaUs
müssen sie stets so gehalten sein, daß der Melodie der Reiz der
Neuheit erhalten bleibt. Bei der Einübung von Liedern resp.
Melodien slollte man nicht allein darauf sehen, daß die Tonfolge
an sich gedächtnismäßig erfaßt wird, sondern daß sie die
Schüler auch intervallmäßig wiederzugeben vermögen. Es
gibt Sänger, die wohl Intervalle treffen, nidht aber imstande
sind, die in Noten ausgedrückten Gedanken zu lesen oder eine
mit dem OKr aufgenommene Tonfolge in Noten richtig darzu-
stellen. Beim Treffen der Noten kommt ein physiologisches
Moment hinzu, der Muskelsinn, der sich beim Gebrauch des
Stimmorgans geltend macht. Die einzelnen Tonfblgen erfordern
nämlich beim Singen eine größere oder geringere Anstpannung
der betreffenden Muskeln, woraus sich ein gewisses Gefühl
entwickelt, das sich mit geistigen Regungen associiert und dem
Sänger eine gewisse Fähigkeit bei Treffübungen verleiht. Dieses
Gefühl ist für Anfänger im Singen nach Noten recht erwünscht,
denn es erleichtert das Treffen derselben. Es kommt aber beim
Gesangunterricht im Sinne der Kunsterziehung darauf an, mu-
sikalische Gedanken aus den Noten herauszulesen, was dann
der Fall sein wird, wenn die &af t der Kinder, Tonvorstellungen
bequem und gewandt zu reproduzieren, hinlänglich geübt ist.
Diese Übung ist bei jedem Gesangstück vorzunehmen. Was
ist wohl natürlicher, als eine Melodie, die bereits von den
Kindern erfaßt ist, wieder in Noten darzustellen? Auffassung
und Darstellung einer Melodie gehören notwendig zur Be-
handlung eines Liedes. Dort führt der Weg von der Ver-
A, Gusinde. 49
anscfaaulichung zur Vorstellung, hier findet das Umgekehrte
statt. Man geht von der Vorstellung zur Darstellung, zum
Körperlichen über. Auch hier wird sich die Singemaschine als
willkonunenes Hilfsmittel erweisen, denn sie gestattet dem
Lehrer die freie Bewegimg der Note, wobei die Schüler zu
kontrollieren haben, ob er bekannte Melodien und Tonfolgen
richtig darstellt. Sodann können auch die Kinder in der freien
Darstellimg der Melodien geübt werden, imd zwar einerseits
durch sfelbständige Hantierung mit einer beweglichen Note,
anderseits durch Übungen im Anstecken von körperlichen Noten
zwecks vollständiger Notation eines Gesangsstücks.
Zeitschrift für pädagogische Psychologiei Pathologie und Hygiene.
Zur Behandhing und Bewertung: der grieäliiscben
Dtchterlektflre auf Oyitiinaälen.
Karl Löschhorh.
Die neuesten preußischen Lehrpläne schreiben hinsichtlich
der griechischen Dichterlektüre auf Gymnasien eine Auswahl
aus Homers Odyssee und Ilias, femer aus Sophokles^ eintreten-
den Falls auch aus Euripides und, wenn angebracht, aus der
griechischen Lyrik vor. Bezüglich des imterrichtlidhen Ver-
fahrens wird die Aufstellung eines Kanons empfohlen, welcher
aus den beiden homerischen Gedichten, bez. den zu lesenden
Sophokleischen oder Euripideischen Stücken, diejenigen Ab-
schnitte auswählt und bezeichnet, die regelmäßig zu behandeln,
die nicht zu lesen und die der beliebigen Auswahl des betreffen-
den Lehrers zu überlassen sind. Natürlich wird jeder Lehro"
hierbei den Schülern zusammenhängende Bilder vorzuführen
sich bemühen, also bei Homer z. B. mit Nitzsch den heim-
kehrenden, heimgekehrten, Rache sinnenden, Rache übenden
und versöhnten Odysseus, mit Kiehhe und Bäiunlein den über-
mütigen, büssenden und versöhnlichen Achilleus u. a., bei
Sophokles den glücklichen, unglücklichen und begnadigten
ödipus, die allezeit heldenmütige, aber doch der weiblichen
Zartheit, in dem Augenblick, als ihr, der jungen Braut, die
Todes^hrecken entgegenwinken, keineswegs entbehrende An-
tigone u. s. w. Recht beifallswert erscheint, daß, wie auch
A. Biese, Pädagogik und Poesie. Vermischte Aufsätze. IV.:
„Die griechischen Lyriker in den oberen Klassen" mit Recht
wünscht, einzelne Proben aus der griechischen Lyrik, also nach
der StoUschen oder einer neueren Anthologie etwa aus! Kallinos,
Tyrtaeos, Mimnermos, Solon, Theognis, Archilochos, Simonides,
einiges aus Anacreon, z. B. Ov (loi fiiXei xä rv/eoD, ''Ag>$g
fie, Totg d^eovg ooi, ^H y? (ilXaiva nlvet u. a., Alkaios, Sappho,
Aari Lä$£kh&rm
51
Alcman, Stesichcn-os und Bacchylides in imseren Gym-
oasieti zu behandeln nicht unterlassen werden soll, falls
die Zeit dazu ausreicht. Es ist die Aufnahme einiger
Partien aus der griechischen Lyrik in die Lehraufgaben um
so dankenswerter, ab dieses so schöne und lehrreiche, zur
schulmäßigen Bildung des Geschmacks, insbesondere des
Schönheitsbegriffs, höchst wichtige, also padagogisch-psydho*
logisch überaus wirkimgsvoll verwendbare Gebiet bisher im
Unterricht fast ganz vernachlässigt zu werden pflegte. Dazu
kommt, daß es, indem es mm Schönen hinführt, eine treffliche
Ergänzung zur Beschäftigung mit den griechiskrhen Tragikern,
soweit diese auf Schulen überhaupt gelesen werden können,
bietet, denn letztere ersieht gum Erhabenen.
Alle philosophischen, namentlich die ethischen Grund-
begriffe sind, in ihren ersten Anfängen wenigstens, praktisch
dem Schüler schon im Homer vor Augen geführt. Man kann
getrost sagen, daß kein Dichterwerk in der alten Welt, aber
auch in der Neuzeit denselben unberechenbar großen Einfluß
auf das ganze Gebiet der bildenden Kunst und Poesie, ins-
besondere auf ihren Inhah, aber auch auf die frühzeitige Er-
delung einer richtigen plastischen Imagination imd die Ge-
winnung lebenswahrer Anschauungen bei Schülern sowohl als
bei Erwachsenen gehabt hat. Aber noch mehr. Finden sich
nicht schon die ersten Grundlagen christlicher Theologie bei
Homer? Nach Od. IV, 237, 379 besitzen die homerischen
Götter absolutes Erkennen und Vermögen, nach Od. XI V, 84, 85,
sind sie unbedingt sittlich gut und herrschen mit der größten
Gerechtigkeit. Auch die erste Angabe des Beweises für das
Dasein Gottes e consensu gentium findet sich bei Homer, nämlich
Od. Ill, 48. Ein großer Teil psychologischer Hauptlehren,
namentlich die von der unvollkommenen und vollkommenen
Wahrnehmung, also der Perzeption und Apperzeption oder Auf-
merksamkeit, die von der Phantasie als dem inneren Bildungs-
vermögen der Seele und die von der Darstellung der von dieser
geschaffenen schönen Gebilde, also hauptsächlich der Dicht*
kunst, nicht minder jedoch auch die Grundzüge der Gesetze
von den sympathischen und antipathischen, mithin auch den
Wertgefühlen, die Lehren von den Affekten, der sittlichen Frei-
heit u* a. lassen sich leicht an typischen, dem Homer entlehnten
4*
52 Z^^ BehandL u. Bewertung der grieck. Dichterieklüre auf GymnasieH,
Beispielen illustrieren^ wenn man nur Ernst damit machen will.
Hat nicht femer der große Lessing unwiderleglich nachge-
wiesen, daß schon Homer, indem er den Schild des Achilles
nicfht als einen fertigen, sondern als einen vor imseren Augen
entstehenden beschreibt und Telemachos oder Agamenmon sich
selbst jedes Kleidungsstück ebenfalls vor unseren Augen um-
und antim läßt, das Gesetz beobachtet hat, wonach Körper
mit ihren sichtbaren Eigenschaften Gegenstände der Malerei,
Handlungen die der Poesie sind und daß die Malerei zwar auch
Handlungen, aber nur andeutungsweise durch Körper, nach-
ahmen kann, wie die Poesie andererseits auch Körper, aber nur
andeutungsweise durch Handlungen, zu schildern imstande ist.
Bekannt ist, daß auch Schiller und Goethe, z. B. im Spazier-
gange, bez. in Hermann und Dorothea sich genau nach diesem
schon bei Homer niemals verletzten Gesetze gerichtet haben.
Homer ist der bedeutendste naive oder Natiudichter, der je
gelebt, zumal seine Gedichte das ganze, damals bekannte Reich
der Natur behandeln oder wenigstens berühren. Er bescbränkt
sich nicht, wie die bildende Kunst, auf die Darstellomg der
Schönheit und des Guten, sondern zieht auch, unbewußt den
Les^singschen Regeln entsprechend, das Häßliche und Schreck-
liche in seinen Bereich, wie die Beispiele von Thersites, Iros,
Polyphemos, dem das Auge ausgebrannt wird und der nun
an seiner Höhle und den sie umgebenden Felsen herumtastet,
dem Freiermord, der mit allen seinen blutigen Einzelheiten ab-
gemalt wird, u. a. aufs deutlichste zeigen. Hochwichtigen Ein-
fluß übt also Homer auch auf den deutschen Unterricht aus,
vorzugsweise bei der Erklärung des Laokoon. Sehr treffend
und noch heutzutage überaus bedeutsam sind entschieden die
von Lessing für die Dichtkunst aufgestellten Gesetze, wenn
auch nicht zu leugnen sein dürfte, daß einige seiner Aus-
führungen über Malerei in seinem Sinne bei den wesentlicfa
veränderten Objekten und Zielen der gesamten bildenden Kunsit,
hauptsächlich aber dem außerordentlich erweiterten Umfange
derselben in unseren Tagen überholt sind. Wem fiele endlich
nicht Hör. ep. I, 2, 3 — 4 ein, wo Homers einfache Philosophie
den Lehren aller späteren Philosophenschulen vorgewogen ^i^id?
Wem nicht die weiteren Ausführungen des Horazs in deneifaien
Epistel über den erziehUchen Wert der Ilias und Odyssee, na-
Karl Ut*£khom*
53
mentlich auch bezüglich ihrer charakteristischen Unterscheid
düng der Affekte und Tugenden, die in jeder einzehien der
beiden unsterblichen Epopöen vorwiegend zum Ausdruck ge-
bracht werden sollen ? Freut sich nicht Schiller, daß auch ihm,
bei, den Deutschen die Sonne Homers glänze ?
Ja. es steht fest, nicht bloß Hellas hat der Homer erzogen,
wenn auch zunächst der griechische Knabe an ihm das Lesen
übte und seine lebensweisheitsvollen Senten2en auswendig
lernte, um sie das ganze Leben hindurch zu behalten und 2U
bewahren, und der grietrhisfche Mann seine höchsten Tugend-
ideale in den homerischen Helden fand. Die ganze Menschheit
hat der Homer, der Dichter des vollendeten ewigen Werk%
im Laufe der Zeit durchdrungen; für uns Deutsche ist die
Obersetirung von Voß das Meisterwerk aller Übersetzungen ge-
worden und es liegt keine Unterschätmng deutscher Literatur
und deutschen Wesens darin, wenn wir zuversichtlich behaupten,
daß auch jetzt noch, trotzdem schon seit 1800 im Unterricht
der preußischen und infolgedessen auch der meisten deutschen
Schulen überhaupt auf die deutsche Sagengeschichte Verhältnis*
mäßig recht viel Wert gelegt wird, uns die alten homerischen
Helden immer noch vertrauter und lieber sind als die unserer
eigenen alten Sage. Bekannt ist, daß die Ilias und Odyssee für
die ganze weitere griechische Epik, Lyrik und Dramatik eine
überaus reiche Fundgrube boten und selbst der älteste der drei
großen Tragiker Aschylos seine gesamte Poesie nur als Bro-
samen vom großen Mahle desi Homer zu bezeichnen pflegte.
Aber die homerischen Gedichte entrollen selbst schon dra-
matisch überaus interessante und spannende Szenen, wie die
Entwicklung des Streites zwischen Agamemnon und; Achilles» die
Wiedererkennung des Odysseus von Telcmach, der Pflegerin
Eurykleia und zuletzt der Penelope, Hektorsi Abschied von An-
dromache, das wachsende Interesse für die Erzählungen des
Odysseus in seinen verschiedensten Lebensverhältnissen seitens
aller Zuhörer u, a,, mit einem Worte : Homers Dichtimgen ent-
halten bereits die älteste Einführung in die Dramatik.
Von Sophokles müssen in der Gymnasialprima mindestens
zwei Stücke gelesen werden; es wäre ferner wenigstens
wijnschenswert und nicht schwer durchführbar, daneben noch
den Prometheus des Aschylos und die Medea des Euripides
54 ^'"' Bthandi. u. Bew^iung dir griech.
t«f au/G^mnauen.
ZU behandeln. Denn ersterer ist, wie Baumeister in den j,Lehr-
pmben und Lehrgängen^* 1902, IL Heft LXXL, S. 101 mi
Recht hervorhebt, für Primaner auch heutzutage noch nich^
zu schwer, bietet übrigens, was für den christlichen Religions
Unterricht durchaus nicht zu unterschätzen sein dürfte, wie aller-
dings schon von früher her nicht unbekannt ^ist und noch neuerj
dings von Schröder in seinem gediegenen Programm: „Zt
menhang des Religionsunterrichts mit dem griechischen xmi
römischen Altertum und dessen Behandlung**. KatheL Pr
gymnasium zu Frankenstein in Schlesien* 1902. Nr. 203, S. 1%
gebührend betont wird, das Protevangelium von der Verheißunj
eines Erlösers in fremdartiger Vermischung* Das erste Weil
also die Stammmutter des Geschlechts, Pandora, bringt durcf
Öffnen eines Fasses alles Unglück über die vorher mühck
und unbedingt glücklich dahin lebenden Menschen und Pro
metheus wird zu ihrem größten Wohltäter, weswegen er namen-
lose Qualen erleiden muß, die er indessen im Gefühl seiner Un-
sterbHchkeit und in tröstlicher Zuversicht auf seinen Befreier
Herkules geduldig erträgt. Auch die Theorie der Erbsünde
findet sich schon in der Prometheiissage, was um so wichtiger
ist, als Luther gerade darauf seine gan^ Rechtfcrtigungs- und_
Erlösungslehre aufbaut, denn die unglückseligen Folgen de^
ersten Sünde erstreckten sich auf das ganze MenschengeschleiAl
wie später bekanntlich Ovid, Metam. VII, IQ— 21 und Amof
3,4, 17 so schön ausgeführt xmd schon Homer Od. 111. 236—238.
ähnlich wie Soph. Oed, Col. 1224—1227, andeutet.
Wom Euripides würde Verf. nur die Medea, hauptsächlich
ihres berühmten Monologs wegen, lesen lassen» nicht aber, wie
Baumeister a, a, O. will, daneben noch die Bacthen, die wif
ein für allemal der Universität zugewiesen sehen mochten,
wie sie denn tatsächlich von jeher sehr häufig erst auf der Hoch-
schule interpretiert worden sind und noch werden. Von So-
phokles ist, wie Baumeister a. a. O. zutreffend urteilt, jedes
Stück außer den Trachinierinnen nach Inhalt und Form füi
Schüler gleich gut. Die Programme ergeben jedoch, daß auf
deutschen Gymnasien fast nur Antigone und König Odipus,
allenfalls noch Ajax und Electra, aber fast gar nicht mehr
Ödipus Coloneus und Phik>ktet gelesen werden, während doch
im Ajax die beiden großen Monologe des Haupthelden, nament-
Karl Ukchhom.
55
Uch der zweite, also die überaus wehmütige^ ja herzzerreißende
Abschiedsrede nicht minder als das muntere Tanzlied zur Freude
über die vermeintliche Sinnesanderimg des Ajax entschieden,
auch ps>^<rhologjsch betrachtet, geradezu Meisterwerke des Ge-
fühlsausdrucks sind und Neoptolemos im Philoktet sich sehr
wobl mit Goethes Iphigenie vergleichen läßt. Denn beide sollen
eine lediglich durch List ausfuhrbare, von einem klug be-
rechnenden Dritten ihnen als einziges Mittel empfohlene Hand-
lung vollbringen, greifen dieselbe auch tatsächlich an, schrecken
dann aber vor dem Mittel zurück, um sich schließlich wieder
io ihrer ursprünglichen Aufrichtigkeit und Reinheit zu zeigen.
Man wird es nicht mißbilligen, vielmehr nur als pädagogisch
Ttchtig bezeichnen, daß in den neuesten preußischen Lehrpläneiv
zwecks Gewinnung typischer Gestalten und Gesamtbilder des
Altenums seitens der Schüler dem Lehrer gute Übersetzungen
heranzuziehen geraten wird, um das in der Ursprache nicht
vollständig Gelesene zu ergänzen. Gänzhch ausgelassen werden
kann übrigens der letzte Teil des Ajax, vielleicht auch aUe oder
doch die meisten Chorüeder aus dem König Ödjpus, da in
diesem dramatischen Meisterw^erk hauptsächlich die Schilderung
des merkwürdigen Sturzes des Haupthelden aus dem höchsten
Glück ins höchste Unglück sogar bei psychologisch wenig oder
gar nicht geschulten Lesern das Hauptinteresse erregen muß.
AUerdings werden auch das erste Chorlied und der großartige
Schluß in volltönenden, dabei aber tieferasten trochäisfchen Ok-
tonarien ihren gewaltigen Eindruck auf fühlende Herzen und
Sinne nicht verfehlen.
Das eigentUche, an pädagogisch-psychologisch überaus in-
struktiven Situationen, Seelenzustanden und Charakteren reich-
ste, formell und materiell geeignetste Schulstück des Sophokles
ist jedoch und wird stets bleiben die Antigone^ die m^Hp wie es
früher nicht allzu selten geschah, am liebsten vollständig aus-
wendig lernen imd sein ganzes Leben hindurch als teures Erb-
stück behalten möchte. Schüler hat in seinem noch jetzt wohl
2U beheraigenden Aufsatz: „Über die tragische Kirnst" die
<ler oragischen Rühnmg zu Grunde liegenden Bedingungen ge-
na^ untersucht und festgestellt, daß die tragische Handlung,
an der wir als Zuschauer teilnehmen sollen, eine moralische,
d. h. aus dem Gebiet der Freiheit entnommene stein muß. D^nn
5g ^r B^ktm^, u. Beaf£riung d^r grieck. Dicht^rUkiüre auf Gy$nnAritn,
muß, wie Schiller a. a. O. wörtlich fortfährt, das Leiden, seinel
Quellen und seine Grade in einer Folge verknüpfter BegebenJ
heiten vollständig mitgeteilt und drittens sinnlich vergegen-1
wärtigt, nicht mittelbar durch Beschreibung, sondern unmittel-
bar durch Handlung dargestellt werden. In dem nicht minder
trefflichen Aufsatz: »jÜber den Grund desi Vergnügens an tra-
gischen Gegenständen** hat Schiller bewiesen, daß uns selbst
die durchgeführte Konsequenz böser Handlungen, wie in deut^
liebster Weise bei Kreon, obwohl diese an und für sich unseremi
moralischen Gefühle durchaus widerstreiten, dennoch ergotatJ
also Zweckmäßigkeit uns unter allen Umständen Vergnügenl
bereitet j sowohl wenn sie sich gar nicht auf das Sittliche t>eJ
lieht als auch wenn sie demselben sogar offenbar widerstreitetJ
Alle diese Forderungen sind bei Sophokles und Euripides voU*
kommen erfülh, wenn man andererseits natürlich auch nicht
leugnen kann, wie u. a. Baumeister, a. a, Ü. S, 100 urteilt, daß
die Tragödien dieser beiden griechischen Dichterheroen hin-
sichtlich der Großartigkeit des Aufbaues^ der Charakteristik
und selbst zuweilen der Ausdrucksweise von Shakespeare und
Schiller überholt sind, obwohl ich. offen gestanden, darin nicht
ganz so weit gehe als der genannte berühmte Schulmann, denn
ich trage durchaus kern Bedenken, den Euripides bezüglicl
seiner Schilderungen der Leidenschaften dem ersten Meiste^
dieser Kunst, Shakespeare, völlig gleichmsetzen und bei Sc
phokles eine musterhafte Behandlung dramatischer Kunstgriffe
wie den Übergang vom höchsten Glück ins entsetzlichste Ui
glück, die schroffen Gegensätze der Charaktere, unvorbereitet^
und daher unerwartete Erkennungsszenen und ähnlicheSt an-
zuerkennen. So urteilt Baumeister a- a. O. ganz richtig, wem;
er die auf unseren Gymnasien zu lesenden Sophokles- und Eur^
pidesstücke, von welchen letzteren ich aus dem oben angeführte^
Grunde allerdings lediglich die Medea in Betracht ziehe, ge
rade wegen ihrer durch die ganzen Verhältnisse des Altertur
bedingten Einfachheit als lehrreiche, ich möchte sagen, d\i
besten, weil pädagogisch -psychologisch am meisten geeigneten
Muster und Vorstufen für jene höheren Leistungen ansieht
Dazu kommt, daß sich die für das Verständnis der Schüler viet
fach etwas vagen Begriffe des Idealismus und Realismus am
besFten durch eine Gegenüberstellung des Sophokles und Euri
Kari lätehhQm.
57
pides, welche^ weil sie fast auf der Hand liegt, gar nicht einmal
bis in alle oder auch nur einige Einzelheiten hinein durchgeführt
zu werden braucht, im Unterricht erklären lassen^ denn So-
phokles war Idealist^ weil er die Menschen so darstellte^ wie
sie sein sollten, Euripides Realist, weil er sie zeichnete, wie
sie w irklich waren. Zu beachten ist auch, daß die Schicksals-
idee bei Sophokles sehr zurücktritt, während sie bei Äschylos
eine Hauptrolle spielt, denn bei ersterem wird der unglückliche
Mensch, von dessen leidvollem Schicksal das Stück handelt, von
den Göttern meist gnädig aufgenommen und seine Personen
sind, weil sie aus eigenem Antriebe handeln, sittliche Charaktere,
auch entbehren, was bei der Lektüre und Erklärung der Harn-
burgi sehen Dramaturgie entschieden klargestellt werden muß,
seine Stücke noch einer gelegentlichen Darstellung sittlicher Kon-
flikte und daher auch einer wirklich dramatischen Entwicklung,
worin gerade die Meisterschaft des Sophokles besteht, aber
andererseits die schw^ächste Seite des Euripides, der sich zwecks
Verdeckttng dieses Schadens mit dem erzählenden Prolog im
Anfang und dem deus ex machina am Schluß helfen muß. Euri-
pides, von einer Welt voll Leidenschaften und Verderbnis um-
gebeüj w^andelt die idealen Charaktere in gewöhnliche Personen
um und behandelt in seinen Tragödien die Probleme der Pöbel-
berrschaft, entwickelt aber auf dieser Gnmdlage in vortreff-
licher Weise die Lehre von der Gerechtigkeit Gotteä in bezug
auf die gesamten menschlichen Verhältnisse, nachdem er die
mythologischen Götter mit ihren unedlen Trieben und Sinnen
in physikalische Begriffe aufgelöst hat. Welcher Reichtum
an psychologischen, für die Schule vei*wendbaren Gegenständen
und Fragen 1
Wir hatten oben behauptet, daß die ^^tigone das Sopho-
kleische Schulstück xar igox*}» sei. Ist es nicht eine fets-
stehende Tatsache, daß viele erwachsene Leute, die nicht einmal
den Xenophon mehr übersetzen und höchstens notdürftig grie-
chisch deklinieren und konjugieren können, noch im Greisen-
alter ganze Chorlieder aus dieser Tragödie, namentlich das
zweite und vierte, oder die Abschiedsstrophen der Antigene
von der Welt mit erstaunlicher Sicherheit auswendig wissen?
Sollte es nur die Schönheit der metrischen Form sein, die einen
solcbeii Einfluß auszuüben vermag? Ja leicht und melodiös
gg Zur BehandL «. ß^xttriung der j^ricch, DkkUfUkiürt au/Gj^mnamm.
fließen des Sophokles Trimeter dahin, großartig schön und
ergreifend klingen seine logaödischen, choriambischen und zu-
letzt die dochmischen Gesänge, Mehr aber noch sind es die
erhabenen Gedanken, die Teligionsphilosophischen, Gnmdbe-
griffe und die psychologisch überaus feinen Schildeningen der
wechselnden Gefühle, die jeden Hörer und Leser mit unwider-
stehlicher Gewalt fortreißen. Schwärmt nicht noch jeder in
dankbarer Erinnerung an seine Jugendzeit und jugendlicher
Begeisterung von der im zweiten Chorlied der Antigone {jtoZJbß^
ra ö'fiva novölv dv^QiSjtov (SitvoTaQar TiiXet) geschilderten
gewaltigen Kraft des Menschen, die sich die ganze Natur Unter-
tan macht, Sprachen erlernt und erfindet, Städte und Staaten
gründet, alle weltlichen Hindemisse überwindet und nur dem
Tode nicht entfliehen kann? Freükh. lehrt der Chor weiter,
darf der Mensch seine Fähigkeiten niemals überschätzen und
mißbrauchen, indeni er dadurch die menschlichen und göttlichen
Gesetze zu übertreten beginnt. Glänzend und in hohem Grade
drastisch ist die Beschreibung der aufgehenden Soxme im ersten
Chorhede, zugleich e'm Muster metaphorischer Darstellung im
Sinne von A. Biese; wonnig beleuchtet sie die Stadt Theben
als günstiges Vorzeichen für den bevorstehenden. Frieden und
die weitere Ruhe und Sicherheit in ihren Mauern; kein trüber
Gedanke, keine unliebsame Erinneruiig an frühere Zeiten soll
mehr auftauchen; nur des von den Göttern gewährten Sieges
und der ihnen dafür schuldigen Huldigung solle man gedenken.
Das dritte Chorlied der Antigone enthält schon denselben Ge-
danken wie Schillers berühmter Ausspruch : „Des Lebens unge* ^j
mischte Freude ward keinem SterbUchen zu teiL" Prachtvotl^H
ist auch das vierte, von der Allgewalt der Liebe handelnde Chor-~
lied. Es zeigtj daß sich ihrer Herrschaft zwar keiner entliehen
kann, aber ni^nand ihr unterliegen darf, wenn ^e auch oft
selbst bei der Beurteilung der höchsten menschüchen Gesetze
eine entscheidende Rolle gespielt hat, — wiederum ein wich-
tiger Beleg für ein psychologisches Haupt gesetz, nämlich die
gegenseitige Begrenzung der Affekte, Herzzerreißend und zu-
gleich metrisch unvergleichlich dargestellt sind die Gewissens*
bisse des Kreon, der im Schlußkommos zu spät erkennt, daß
er alles Unglück seines Hauses allein heraufbeschworen hal;
selbst das verdorbenste Gewissen muß die in den Schlußana-
Kart Läschhiirti.
m
pästen des Stückes ausgesprochene Lehre, wonach das Wohl-
ergehen der Menschen auf Besonnenheit beruhe, aufrütteln
und es noch rechtzeitig, ehe es zu spat ist. auf den Weg der
Tugend führen. Fast christUch ist hier die Macht des Ge-
wissens geschildert.
Ahnliche, psychologisch und ethisch mehr oder weniger be-
deutsame Gedanken finden sich in allen Stücken des Sophokles,
namentlich den auf unseren Gyranasien gewöhnlich gelesenen.
Aber auch auf die Gewinnung einer richtigen Denkfähigkeit
im ailgemeinen kann die Sophokleslektüre nur günstig ein-
wirken, d. h. Klarheit und Deutlichkeit des Denkens, al^ die
imellektuellen Gefühle bei den Schülern erwecken und fördern,
da der logische Zusammenhang der einzelnen Stücke völlig
durchsichtig und viel einfacher ist als z. B. in der durch Zu-
sätze \md Nachdichtungen vielfach zerrissenen llias, ja selbst
in der Odyssee, in der man langst die einzelnen Bestandteile
jüngerer Bearbeitungen und die Interpolationen der Pisistrati-
denrezension von dem alten mcTQ^ klar geschieden hat Da^u
kommt, daß der Schauplatz der Handlungen in den sopho-
kkischen Stücken sich fortgesetzt gewissermaßen von selbst
vor unseren Augen abspiegelt, eine Tatsache, die das An-
schauungsvermögen der Schüler zu erhöhen imstande ist, wenn
sie vom Lehrer ununterbrochen darauf hingewiesen werden.
Überall finden wir ferner bei Sophokles bereits die Grundlagen
der christlichen Ethik und zwar in einer über die homerische
Sittenlehre hinausgehenden Form und Ausprägung, wenn auch
im einzelnen nicht zu leugnen ist, daß die Grundprinzipien des
höchsten Gutes, der Tugend imd der Pflicht, wie zuerst Mar-
tensen erkannt, weniger für die christliche Ethik als für die
antike passen ^
Der Begriff des Erhabenen» auf den wir schon oben hin-
wiesen, wird endhch den Schülern an d^i sopbokleischen
Tragödien recht leicht klar zu machen sein, wie die des Schönen
an d^i auszuwählenden lyrischen Stücken, beides im Schiller*
sehen Sinne* Das erstere erklart Schiller in seiner Abband-
hmg: ,,Über das Erhabene" ab ein aus Lust und Unlusi ge-
mischtei^ und dieser berechtigten Auffassung entsprechend kann
man auch das Tragische, Komische und Roniantische zu den ge-
miftcitren Gefühlen rechnen und in diesem Sinne erklären. Schü
(^ Zur SekmäL u. Bewertung^ der ^wuek, DükierUktur^ tmf üymmatim.
kr verstehen diese Erklärung leicht. Vom Schönen ist bei
Schiller viel idie Rede, besonders in den Abhandlungen: „Über
die ästhetische Erziehung des Menschen" und „Über die not*
wendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen*** Im zehn-
ten Briefe über die ästhetische Erziehung behauptet der Ver-
fasser mit Recht, daß die Schönheit zwischen Roheit undi
Erschlaffung glücklich hindurchleitct, in dem zweiten Aufsatzj
daß das wahrhaft Schöne sich auf die strengste Bestimmtheii^|
die genaueste Absonderung und die höchste innere Notwendig-^
keit gründe, in der Voraussetzung, daß sich diese Bestimmtheit
eher finden lassen muß als sich gewaltsam hervordrängen und
die höchste Gesetzmäßigkeit als Natur erscheint. Ein solches
Produkt, sagt Schiller weiter wörtlich, wird dem Verstand voll-^
kommen Genüge tun, sobald es studiert wird, aber eben weil es
wahrhaft schön ist, so dringt es seine Gesetzmäßigkeit nicht
auf, so wendet es sich nicht an den Verstand insbesondere, son-
dern spricht als reine Einheit zu dem harmonierenden Ganzen
des Menschen, als Natur zur Natun Diese natürliche, nocl
nicht zu der höheren Instanz des Erhabenen entwickelte SchÖn-^
heit kann nun der Schüler am leichtesten an den bedeutendsten!
Proben der griechischen Lyrik kennen lernen. Denn die überall
in Griechenland infolge der Wanderungen ausgebrochenen Gäh*
rungen und Kämpfe hatten das Volk zur bewußten Empfindung
seiner Lage gebracht und so die Lyrik hervorgerufen, in wel-
cher das im Epos ganz zurücktretende Subjekt seine Gefühle
ausspricht. Hierbei knüpften die Dichter zxinachst, wie natür*
lieh, an die sie umgebende Gegenwart an, um wirksam, nament*
lieh ermutigend und anfeuernd^ in dieselbe einzugreifen, und
so erstanden die in ihrer Art imvergleichlichen Elegiker auf der
Gebiete kriegerischer und politischer Lieder, wie Tyrtaeos. So-
Ion und Theognis. Erst später brachten die Lyriker auch di
Empfindungen des eigenen Herzens zum Ausdruck. Bei dieser
Gelegenheil wollen wir nicht imerwähnt lassen, daß auf das^
leider immer noch zu wenig beachtete Erziehungsideal im ari-*
stokratischen Geiste der dorischen Musterzeit, wie es des Theo-
gtiis fvvSficu jtQog KvQvoT eüthalten, beim Unterrichte in den grie-
chischen Lyrikern sehr großes Gewicht gelegt werden muß^
zmnal sie bereits ein Vorbild von Xenophons Cyropädie bieten«!
Auch Solon hat als gnomisch-elegischer Dichter insbesondere
Kari UschM&m.
Öl
auch dadurch große Bedeutung, daß er vermöge seiner durch-
aus edlen Gesinnung seine Aussprüche vielfach schon auf Gott-
vertrauen und Gerechtigkeit der Wellordnung aufbaut. Mim-
nermos, der liebliche Sänger, gilt als einer der bedeutendsten
erotischen Dichter der Griechen. Archilochos, erfindungsreich
m Metrik, Musik und musikaUschem Vortrag, wurde von den
Alten nicht mit Unrecht mit Homer, Pindar und Sophokles ver-
glichen: er zeichnete sich entschieden durch künstlerische
Genialität und Vollendung der Sprache aus; auch weist seine
persönliche Bitterkeit stets interessante Seiten auf und zeigt
keine Spur von gemeiner Rachsucht, ist also auch in psycho-
logischer Hinsicht beachtenswert, d, h, namentlich bei der schul
mäßigen Behandlung der Affekte zu verwerten. Die Oden
des AlkaioSj die uns leider nur in höchst dürftigen Fragmenten
überliefert, aber aus den freien Nachbildungen des Horaz etwas
genauer bekannt sind, zeugen von glühender Vaterlandsliebe, wie
die derSappho von der größten Innigkeit und Anmut. Anakreon,
der zuerst die zwanzigsaitige Lyra benutzte und sich mit ihrer
Hilfe zu einer großen Mannigfahigkeit der Melodien erhob,
muß als der vollendetste ionische Gesellschaitsdichter bezeich-
net werden, Stesichoros, der Chorauisteller, ist wichtig gewor-
den hauptsächlich durch seine künstlerische Gestaltung der
Chorgesänge, welche die ganze Tragik behi^rrschte, und Bacchy-
lides verfaßte nur Gedichte von formeller Vollendung. Alle
genannten Lyriker sind daher treffliche Vorbilder und Lehr-
meister der Jugend und erziehen sie zum Gefühl der Schönheit,
2tinächst zur Fonnschönhcit, wie sie sich in den durchgängig
von ihnen erfimdenen prachtvollen lyrischen Versmaßen» die
von den großen Dichtem aller Nationen mit mehr oder weni-
ger günstigem Erfolge nachgeahmt sind, ausprägt, dann aber
auch zur inhaltlichen oder materiellexi Schönheit, die auf dem
bei aller seiner Einfachheit großartig wirkungsvollem Gefühls-
ausdruck beruht.
Beobachtiinsen fiber das Anschairangsvennögen
der Kinder. L
Von
L Maurer.
Schon lange ist mein Interesse darauf gerichtet, zu er-
forschen, was Kinder in Bildern sehen, wie sie das Gesehene
wiedergeben und wie die Resultate dieser Untersuchung prak-
tisch im Unterrichte zu verwerten sind. Zu'diesem Zwecke ließ
ich von einem dreieinhalbjährigen Kinde Bilder betrachten und
zwar acht an der Zahl, der Gartenlaube entnommen. Das Kind
mußte die Bilder im Juli, Oktober und Dezember ansehen. Seine
Außenmgen schrieb ich sofort nieder. Die günstigen Resultate
verlockten mich zu neuen Versuchen. Dieselben Bilder mußten
Kinder im Alter von 4, 5—13 Jahren anschauen. Die größeren
Schüler schrieben als Aufsatz nieder, was sie im Bilde ge-
schaut. Dadurch gewann ich eine Vorstellung von dem An-
schauungsvermögen der Kinder in feeiner fortschreitenden
Entwickfelung.
Im folgenden schildere ich die Ergebnisise der Beobachtung
des 3jährigen Kindes.
Die Tabelle I zeigt, daß das Kind im Juli 32, Oktober 58
und Dezember 75 Hauptwörter, Dinge oder Personen bezeichnet.
Tabelle L
(Zahl der Hauptwörter.)
Juli
Oktober
Dezember
Karo, Eätzla,
Erau, M&dla,
Kinder, Bube,
Wolle, Lichter,
Wickelband, Mann,
Hut, Mutter,
Heßler, Korb,
Tafel, Bauer,
Schulstubl, Hamper,
Wägelein, Eisenbahn,
Karo, Bube, Mann, Mutter,
Frau, Eätzla, Paula, Luila,
Hut, Lichter, Stecken,
Fäßla, Mädla, J?fote, Fuß,
BaUen,Scliwanz,Strümpfe,
Schranze, Earloffel,
Fenster, Thüre, Ghokolade-
tafel, Bild, Weihnachts-
baum, Baroln, Großmutter,
Wagendeck, Muhpetz,
Luila, Karo, Ballen,
Schnur, Schranzen,
Fensterla, Chokoladetafel,
Haus, Eartoffd, Bu,
Zwirn, Ball, IVau,
Bilderbuch, Stiege, Hanna,
Gaul, Weihnachtsbaum,
Hamper, Hund, Stuhl,
Lichter, Ballon, Mann,
Wäsche, Vorhang, Lampe,
^^^^^^^^^^^K ^^^^^V ^^H
Juli
Oktober
Bezember ^^^^|
Bli&me, Nacketfroscb,
Wag«n, Stuhl, Vater,
Qockelhahn. Kinder. ^^H
Lenditer, Luila,
Bank, Lampe, Zünd-
hdbcheni Stube» Zimmer,
Faufierlens. SchreJbtafel. ^^^H
Eetra, HaTil>e,
Bank. Flasche. Faß. ^^^H
Stecken, Köchin,
Schürae, tachreibtafel,
KuoDfstiefel. ZQnd- ^^^H
Bier, Pfeife,
Kopf, Schlgtfeger, Leine,
hölzchen. Mitte. Heßler. ^^H
r&flk, Mirmerla,
Kat^akrakel, Gras, Birne,
T.ampiJTiH/*hirnn Riroi^K ^^^^H
Blamenstrauß, Wickfsl-
Pfote. Kut llinnerlA. ^^^H
kissen, Arm, Spiegel,
Häfele, Bein, Zopf, Puppe,
Händchen, Wecida,
Mümi. Kat^krakeL KätzL ^^^H
Teppich« Mucken« ^^^^|
Nrtiiwiin^ Wftld V«.t^r ^^^M
Knopf söefel, Hanna,
Mutter. Fauia« ^^H
Flafeche.
^hwegterJa, Bluman, ^^^^H
Leudifcer, Tinte, Spiegel, ^^^H
Blumenstrauß, 8teckeu, ^^^^|
Puppe, Hut, Waiden, ^^^H
Kehrwiscb, Kopfl, Haube, ^^^H
PottkitteV Hand, ^^^H
Kaüeemahl, Schöpft, ^^^H
Maß, Bier, Hals. ^^M
S.S, = 31 ff«iiptwSrtcir,
SM* ^ 58 HattptwÄrtor»
75 HimptwCrt«r. ^^^|
Um diese Hauptwörter vergleichen xu können, dem System ^^^|
entsprechend, nach welchem ich die größeren Kinder die Bilder ^^^|
anschauen ließ, ordne ich sie nach demselben: es soll daraus ^^^H
«rsehen werden, wie sich der Bewußtseinsinhalt der Kinder ^^^|
oder auch schon des Kindes allmählich erweitert: ^^^H
Tabelle ^^M
(Hauptworter nach Gruppan geordnet) ^^^|
A, Pfrion^ii: _ ^^^H
Juli
Oktober
Pofemb^r ^^^H
Ft»u, MSdla, Kinder,
Bnbe, Mann, Matter, Fr an,
Lnüa, Bn, Frau. Hanna. ^^^^1
Bebe, Mann, Mutter,
Paula, LuÜa, Mädla,
Mann, ivinder, HetSler, ^^H
Heßler, Baner, LuÜa,
Großmutter, Vat^r,
Vater. Mutter. Paula. ^^H
Köchin,
Schlotfeger, Hanna.
Schwegt^rla. ^^^|
S.S. s= 10 Pt*r5ontiii,
SS. *^ 3i Peraflnuii.
^^^^1
b) Teil« des tuen seh lieben K9rpers. ^^^H
FuB, Kopf, Arm, Bein*
Faß, KopfU Hand« .^^^1
—
Zopf, Händcheu,
Schöpfe!, Hais. ^^^1
S, 8. :^ 6 KörpoiteÜ«*.
S. S. ^ & KGrpctrtoiliP. ^^^|
c) KleldunesstaGlitt. ^^^M
Wüekelbond, Hut,
Hut, Strümpfe, Sohürzt,
KnopfsUefel,
KnopfsMefel. FotlMtteL ^^H
Haube.
^^^1
S. S. ^ 3 KloMimfwtflGk^.
fl
64
ßgobachhmgtn über das Amehauungsvermdgen der Kinder. L
d) Das Qebittde und seine Teile.
Fenster, Thüre, Stabe,
Zimzner.
S. S. at 4 GeModetaae.
Fensterla, Hans, Stiege.
S. S. a 8 Gehindefetae.
e) Nabmngsiiiittel«
Bier.
S. 8. ■• 1 NahnngimittAl.
Kartoffel, GhokoladetafeL
Birne, Weckla.
S. 8. a 4 NahmngsiiiitteL
Ghokoladetafel, Kartoffel,
Bier.
8. 8. s 8 NahranganiittaL
f) Qerlte «nd Qebranclisartikel.
lichter, Korb, Tafel,
Sehnlstnhl, WSgelein,
Eisenbahn, Lenohter,
Betri, Stecken, Pfeife,
E&ßla.
8 8.
llQ«c8t».
lichter. Stecken, F&ßla,
Ballen, Sehrftnze, Bild,
Wftihnachtsbanm, Baroln,
Wagendeck, Wagen,
Stahl, Bank, Lampe,
Zündhölschen,
Schreibtafel, Leine,
WickeUdsseoL, Spiegel,
Hifele, Pappe, l^laMhe.
8.8.
tSl OMtte.
Ballen, Schnnr, Schranze,
Zwirn, Ball, Bilderbach,
Stahl, Lichter, Ballon,
Wfisehe, Vorhang. Lampe,
Schieibtafel, Bsnk,
Flasche, Zündhölzchen,
Lampenschirm, Teopich,
Leocnter, Spiegel, Pappe,
Wagen, Kehrwisch,
Kaffemnahl, Maß.
a 8. = 86 Oflrttte.
g) Tiere nnd deren K8rpertefle.
Karo,
K&tsla.
froscn.
Nackefc-
s. s.
! 3 Ti«r9 «te.
Kaio, Kitsla, Pfote,
Schwans, MohpetK,
Katsskrakä.
S. S. SS • TSar» etc.
KacOyGookalhahn, Hiraoh,
Pfete, Katakrakel, KfttEi,
Mucken, Schwanz,
Handda.
S. 8. 8 9 TSai» «te.
h) Dinge in der Nntnr (Feld «nd WnM).
Blome.
Gras, Blomenstranß
Wald, Bhmien,
0 Stoffe.
Wolle.
Sw S. a 1 Stoff.
t Tinte.
! S.8.»18tefL
k) AtetrskU.
Fangerlens, lOtte.
s. s. » s
Diese Hauptwörter bilden sozusagen den Gnindstodk des
Materials, weldies das Kind aus den Bildern gewonnen hat,
welches es aus der Masse des Vorgefährten erkannt hat. Was
L. Mmtftr.
65
ein Kind nicht erkennt, benennt es entweder gamicht oder falsch.
Von diesen Hauptwörtern sagt es verschiedenes aus : wie sie sind,
was sie sind, was sie tun. Es deutet iins an, wa3 es über die
oder jene Handlungsweise (iihlt, es vergleicht das Tun und
Treiben der im Bilde dargestellten Scenen mit denen seiner
Umgebung, es knüpft Bemerkungen an Personen oder Tiere,
deren dargestellter Akt mit Vorkommnissen aus seinem Leben
oder dem seiner Umgebung Ähnlichkeiten hat. Es vergleicht
das eben betrachtete Bild mit dem vorhin gesehenen, es gibt
den Personen der Bilder Namen aus dem Familien- und Be-
kaimtenkreis* Die über die Hauptwörter gemachten Aus-
sagen geben uns Aufschluß hierüber. Um ein klares Bild
zu bekommen, stelle ich zunächst alle über die Personen, Tiere
und Dinge gemachten Aussagen der Reihe nach zusammen
und zwar wieder der Zeitfolge nach:
Tabelle IIL
(Zahl der Aussagen.)
Juli
Oktober
Des&ember
Karo neibetßen
MädU DekmeD.
Der Knabe hat solchg
hftt ^hue
£&ro Im Mund an"
gapumt
Korb mtitergrlafieu
Ofmd ao fam-en als
Wagen
Kuv> hlngfaJhi
Fmu am^2iogn
K&ro Blnt raus
setxt Bauer aof
kragen mit den Föfieo
Katxe MDleg^n
Kätda Boden nanf
Behwaj-3se Katz
Pfote daher legen
Frau Blumen haben
Naeketf rosch hingfaün
Frmn macbts so
Frau Haabe auf
Stecken hauen
Bier da drin
Mann hat Pfeife
Karo wart auf
B« barfnß
Grad so wie a Karo
nicht Strumpf anziehen
l Karo nicht aufwarten
Karo gibt Pfote
Ihr Mutter thut Lulla nefc
nehmen
kommen Kartoffel nei
Bild zerrissen
Lichter brennen
Ist eLngepackt
Der Bn schiebt a Wagen-
deck
keine Wage anspannen
Ihr Vater Lichter nauf-
stechen
Bild nicht zerrissen
uet anzünden t ka Zünd-
hölzchen^ eins kaufen
Mag ich nicht essen, sind
hart
Eopf hinlanga, so thut er
Sein FuBS dannnter
Schlotfeger hergsehreibt
Is net zrissn
Die zwei sind zrlsan
Pfote her
An Schwanz grad so wie
a Karo
Wart auf
A Bu hat Chokoladetafel
Immer noch IdeM
Ball mit Ballen
Bu hat a Bilderbuch
Die Frau auf der Stiege,
Luilanet drauf, Bu drauf
Weimer Karo hat Bein
Wo iat Hanna?
Da hinter steckt der Mann
Dös ie sei Hans
Mann kann nicht vor
Lampe nicht dahinter
Kinder thun Fangerlens
Hamper sind zerriBsen,
sieht mau gar nicht
Bubn, sitzen In der Bank
nichts da gschrieben
Lampe net anzünden
net Zündhölzchen^ haben
die Buben
In der Mitt a Bn
Der Heßler hat net Knopf-
stiefelf hah ich Knopf-
stiefel
hat ka Lampenscliinn
Grad so wie a Kirsch
Der Karo ihr Pfote hin
Zfitichrift iBr pidiEOgiadi* P*ydM>logie, PiÜiol©gic und Hygiene,
66
Awi^BthiMMg'tM ühcr Smm .
Jnli
Oktober
D«sember
H. 8. «i 28 AiMUgen.
Hirt; kft]
her. naC mMdmtmim
Km Mütter dnn
Hei aafwwtBB
Memi eoa kntnmm, Hst
drenf
Zeder 1dm
Mel e bOee lOmii
iKe Lfline
Die UBnerie
y^tialrleVl de dzeä ilur
Pfote
y***^^ edient tot
Anf der Ket» Bine
Kätde dnrdiKhfaqpft
Kitzle Bei nnnter
Kleine Ketx auch
! Andere lÜBiii, wie mei
i Ketokield, ibr m^mi
loctL WeU Beat. Yetor
mid Matten
Net
Loileim VirlrelMf
Nedketfroechiietemiuhfm
Wo Penle?
Bie
ibr
Ibie
{ibr Vi
; Bn dnnf
Pknle
Scbweeterie
A Muat B«in so tot
Paolm bat Zopf
Das bin icb, nicbt icb
Die Pappe
Eraa macbts so
a so
Ibr Matter soll Pluila a
'Weckla geben
Bab soll ibran Hat aof-
Grad so Knop£rtieiel wie
icb
Madla so beten
Fran bat kleinen Stock
Dort ka Karo
Laila ka Hanna ka Panla
Eraa hiriHcbana
ka Wickelband kaof en
Madla bat Flascbe
bat Bier
S. S. = 64 AwsBMfsen.
a Ba bat a^
b) docke B^pp» da
Der Be da oben soll
nmter
Eren bat an Kopfl und
a Haabn aof
bat Pottidttel en und
a Hand
Hnndala bat Scbwans,
da bint steckt Loila^
tbat man
Laila bat an
S. S. »66
Diese Aussagen^ welche im folgenden gegliedert werdea
tollen in einfache Aussagen, Urteile und Schlüsse, sind zu er-
gänzen durch die mit Eigenschaftswörtern verbundenen
Hauptwörter imd durch diejenigen, welche als Attribut Zahl-
begriffe haben:
Z. Maurer,
67
TabaUe IV.
(Erg&nzang der Aussagen.)
a) HanptwSrter mit BlgenschaftswBrtern.
Jali
Oktober
Dezember
schwarze Katz
kleiner Bu
große F&sser
kleia Karo
klein Schwanz
baeer Bub
Großer Karo
kleiner Eaio
kleine Minni
b) HaaptwOrter mit ZahlwOrtern.
Alle 5
Drei Wickelband
Alle Kinder
5 Karo
5—8—9 Bn n.
5 Frau
5 E&fila
1 T^a-nn
Die paarla Pfote
Viel Tran
Aus dem so gewonnenen Material der Aussagen schäle
ich tzunächst heraus:
1. UnvoUkonunene Sätze.
a) Sätze, welche nur reine Aussagen enthalten und zwar
aa) solche, in welchen die Aussage ein Hauptwort
sie ein Eigenschaftswort
„ „ Partizip
„ „ Zeitwort
bb) „ „ „
^^) » )) »
dd) „ „ „
b) Sätze mit Objekten
c) Sätze mit Umständen:
aa) des Ortes
bb) der Zeit
cc) des Grundes
2. Vollkommene Sätze (Einteilimg derjenigen der im-
vollkommenen entsprechend, vergl. diese).
3. Zwei oder mehrere Sätze, welche in sich zusammen-
hängend einen Schluß bilden.
4. In sich zusammenhängende Sätze, welche eine Er-
zählimg darstellen sollen.
N,ach der Beobachtungszeit geordnet ergeben sich daraus
die folgenden Tabellen:
5*
68
Beobackiunffem über das Antdumungsvermögem. der Kimdar. L
TabeUe V.
(Aastagen nach Gruppen geordnet.)
I. Unvollkoa»eiie Sitxe.
a) Sitae, welche aar reine Ansaagen entluüteBt
xwar aelche»
In denen:
aa) die Anaaage ein Hauptwort.
Jnli
Oktober
Desember
achwane Kala
kleiner Ba
groflse Etaer
Grad so wie a Karo (?)
klein Karo
klein Schwanz
bOeer Bab
Grad ao wie a Hirsch (?)
Groaer Karo
kleiner Karo
bb) Die Annage ein Eigenechaftswcvl*
Bn baifnß
oe) Die Anesage ein Pluüsip.
Karo hli^pfiJln
Eran anangn
NMAetfroe£^ilng£inn
BildnRlBMn
Isteinpeckt
Bad nicht aenteen
Isnetsrinn
Kitda dmchflchhipft
Lm^ net anaonden
dd) die Anaaage ein Zeitwart.
Karo neibetten
Karo wart aol
wart aal
Midla nehmen
Ein Karo nicht aof warten
Katae hinlegen
Sohlotfeger hergaehielbt
Net aufwarten
Die lOnnerla hmkgen
Kleine Kata andh beringen
¥id1a 80 beten
Kaa btnenbana
^ Anmerkung. Hier maß ich ergSnaend bemerken, daß ich aoent
die S&tae, in welchen die Aussage ein Farüaip ist» mit hier anfmaihlen im
Sinne hatte. Doch nach reiflicher Überlegimg, nach nochmaliger Durch-
sicht der Aussageo, bekam ich die Überseugung, daß auch schon daa kleine
Kind weiß, daß der „Korb heruntergerissen^^ worden ist und auerst an einem
anderen Hatse war, daß der ,,Karo hingefallen" ist« zuerst aber gestanden
war. Deshalb scheide ich Eigenschaftswort und Partizip.
Z, Maurer.
m
b) Sfttxa mit Objektoii.*}
Jmli
Oktober
Dezember
Mädlft nelämen
ai&ht Strüiapfe anziehen
setzt Batier auf
keine W&g6 ftüspaiuieii
Tt^u Bltimea babea
Du- Vater Lichtet nauf-
PnQ Hftube auf
Au Sdiwanx grad eo wie
a Karo
Mag Ich nicht easeUf Bind
hart**}
e) Sltse mit Uniftlndeii.
aa) des Ortes:
Jnll
Oktober
Dexemfaer
Karo im Mnnd
ui^^annt
Karo Bhit raus'")
Sein Fuß danunter
Kateakrakl aa drauf ihr
Pfote.
Wo iat flaima?
Mann kann nicht ^or
Lampe nicht dahinter
*} Anmerkung. Auf den eraten Blick erscheint eSt als ob manche
dieser unvollkommenen Sätze keine Objekte enthielten — und docb Ist es
so, daB Objekte vorhanden sind. „Mädla nehmen.^^ Das Ejnd denkt sich;
.,I)ie Mutter soll das Mädchen nehmen.'* Es hat den Gedanken im Eopfi
aber es kann ihn nicht anssprechen. Es hat die S^sene nach seinem Sinne
anf gefaßt, aber es kann nufl seine Anffagsnng nicht spraclilich korrekt
wiedergeben. Deshalb sind wir gezwnngen^ den Satz in des Kindea Sinne
zn ergäzt^sen. „Setzt Bauer aal" Es deutet mit der Hand auf den Hut
und spricht: „Setzt Bauer auf," »Der Bauer setzt den Hut auf* oder» dem
Gedanken des Kindes folgend: Den Hut da »etzt ein Bauer auf, „Nicbt
Strümpfe anziehen". Es eieht ein Kind, das keine Strümpfe hat. Nun
aetzt es bei ihm alle l'age einen Xampf ab, bis die Strümpfe angezogen
sind. £s vergleicht diese Kampfesscene mit dem BarftiBele» sein Gedanke
ist: ,,Der Bube Ifiüt sich seine Strümpfe nicht an^aehen.** (Strömpte ^
Objekt, daa Subjekt mußte ergänzt werden)* „Hat ka Lampenschirm". Es
betrachtet eine Lampe ohne Lampeuschirm. Meine Studierlampe ist mit
einem solchen bedeckt. Das Kind erkennt den Gegenstand als Lampe, dal
dieselbe keinen Schirm hat| fällt ihm auf. Biese Dlfl'erenz tritt in den
Yordergmnd des Bewußtseiua, Es sa^: hat keinen Lampenschirm* der
Beobachter hat zu ergänzen : „Die Lampe**, Nun erscheint der vollständige
Gedanke des Kindes; die Lampe hat keinen Lampenschirm. Ich komme
auf den Mangel im Gebrauch der Sprache noch einmal in den späteren
AtufUhrmigen zurück, mußte aber einen Teil dieses Abschnittes jetst schon
bringen, um mich darüber zu rechtfertigen, warum ich diese abgerissenen
Oedanken als ,, Objekte" bezeichnete.
*•} Anmerkung. „Mag ich nicht essen, sind hart". Anf dem Bilde
sah das Kind eine Schiefe rt^el und hielt sie für eine SchokolsdetafeU Es
schien nau doch in ihm zu dämmern, daß die Buben Schiefertafeln haben
und nicht Schokolade. Deswegen denkt sich das Kind:
Die Schiefertafeln sind hart; diese mag ich nicht essen. Der Beob-
achter mußte „diese *^ ergänzen ; d. k das Objekt ist durch ihn in dem
iprachlichen Ausdruck ergänzt worden, weil er der ÜberzeugnaBg wai, daß
<fer Gedanke dee Kindes richtig gewesen ist^ w. o.
•••) Anmerkung. „Kw> Blut raus" bedarf wohl einer Ergämsting.
70
Beobackhmgem über das AnschauungsvermSgen der Kmder» L
Juli
Oktober
Dezember
K&tzla net nnnter
Bnbn sitasen in der Bank
Pfote daher legen
Lnila im Wickelkissen
In der Mitt a Ba
Bier da drin
Wo Paula?
Der Kaio ihr Pfote hin
Minneria gnekt rans
E&tzla die paarU Pfote
drauf
Zn der hin
Wald nans
Bn drauf
Der Bu oben soll
runter
Da hint steekt Luila
bb) der Zeit:
Juli
Oktober
Desember
Immer noch klein*)
cc) des G^rundes^
Juli
Oktober
Dezember
kratzen mit den Füßen
Ball mit BaUen
a. Vollkommene Sitze»
(Artikel ausgeschlossen.)
a) Sitxet welche oar Aussagen enthalten, and swar Ist
aa) die Aussage ein Hauptwort
Juli
Oktober
Dezember
—
Das ist sein Haus
bb) Die Aussage ein Eigenschaftswort
—
Die zwei sind zerrissen
Hamper sind zerrissen
Der Hund, den das Kind als ,^Karo'^ bezeichnet, ist in Wirklichkeit ein
Mops mit schwarzen Flecken. Diese schwarzen Flecken hält das Kind fttr
Blut Es denkt sich: ,,Aus dem Karo läuft Blut heraus". Es sagt: ,,Karo
Blut raus«".
^ Anmerkung. „Immer noch klein«. Es fällt dem Kinde auf, daß
der Knabe auf dem BÜde immer noch klein ist. Es erinnert sich des erst-
maligen Betrachtens der Bilder. Das Kind selbst fühlt, daß es gewachsen ist,
man hat ihm gesagt, daß es groß geworden ist. Daher der Aussprach:
iJnmier noch kfoin**.
*^ Anmerkung. Hierzu bemerke ich, daß ich gar keinen Gtrund
etnaebe, den ümstan^ der mit dem Verhältniswort y^asMcf* gebildet ist, als
einen umstand des Jt^rundes" anzuerkennen. Das ist doch kein yßxisu^^
wenn ich „mit den Füßen** kratze! Doch ich folgte der allgemein tlblichfiii
Sprachbeeeichnung (z. B. Gärtner.)
^^^^^^^^^HH ^^^^^B ^^^H
^^^K dd^j dJo Auflgage ein Zeitwort ^^^|
Karo wart auf
Hinnerla guckt raus ^^|
^B
Kätzia gebaut vor
Frau machte so
J
\^ b) Sitse mit Ob|«kteii.*«) ^^|
Juli
Oktober
Dezember ^^^B
Ber Knabe hat sokhi
Karo gibt Pfote
A Bu hat Chokoladetafel ^^^|
d&
Ihr Mutt-or thut Lnlla net
Bn hat a BOderbuch ^^^B
hat ZÄKue
nehmen
Weyier Karo hat Bein ^^^B
1 Jlann Jiat Pfeife
Der Bu schiebt a
Der Hebier hat net ^^^B
^^K
Wagendeck
Knopfätiefel ^^^^B
bab leb Kuopf Stiefel ^^^B
^
Patüa hat Zopf
Ihr Mutter soll Paula a
^^^^^^^^^
A Bn hat an Stecken ^^^B
^^^^^^^B
Weckla geben
Frau hat au Kopfl und a ^^^H
^^^^^^^^H
Btib soll ihren Hut
Haubn auf ^^^H
^^^^^^^B
aufsetzen
A hat Pottkittel an und a ^^^B
^^^^^^^^
Frau hat kleinen Stock
Hemd ^^^^B
^^^^H
MMchen bat Flasche, hat
Luila hat an Schopfl.***} ^^^B
^^^^
Bier
^^^B
P^* Zw«! oder inefarer« ^usaitimenliingefifle Sitxe» welche zuaainineii ^^^H
[ einen Schtuss btlden, ^^^|
^B Juli Oktober
Dezember ^^^H
^H L Nel artzündetij ka Zünd-
6. Hamper sind zerrissen, ^^^H
^H hölzchen da, eins kaufen^
sieht man gar nicht ^^^^B
^^B 2. Hag ich niclit essen, sind
net 7Mii dhüizcben , haben ^^^H
^^^H hart
^^^H 3. An großen HTit, Ka Mann
die Buben ^^^H
^^^^^^^^ her, net auf&etzeii
8. Kätzia, die paarla Pfote ^^H
^^^^^H| 4. Mami soll kotmnen, Hat
drauf, zu derbin, mal & ^^^H
^^^^^^H aufsetzen
böse MinuL^**) ^^H
■^P
5. ka Wickelband kaufen
^H
^^K *) Anmerkni
i£« ec) r= Aofisage ein Fartiidp ^akat. ^B
^H **) Anmerkuiig. 0ruppe c (aa— ec) irakat. ^H
^^H ***) Anmerkung, Ei arübrigt noch, darauf hinzuweisen, daß das ^^^H
^^Etnd bereits Gegenwart nnd Vergangenheit nnterscheldet, siohe: ^^^H
^^F Lichter brennen ^^^H
^^B SeMotfeger hergeeh reibt. ^^^H
^^B Es wendet Pronomina an, aber noch fakch, siehe: ^^^H
^^1 Bub soll Ihr^n Hut aufsetzen. ^^^H
^^B ^^*) Anmerkung. Ich versnche den Qedankeogang des Kindes Ter* ^^^H
^^blgendp die Behlüsse YoQstandig aufzulösen: ^^^H
r L Die Lampe iBt nicht angezündet. £a sind keine Zündhölzchen da. ^^^|
^H Man muß welche kaufen. ^^^H
^H 2. (Siehe oben]. Die Tafeln^ welche die Bnben haben, mag ich nicht ^^^B
^^B eesen^ sie sind rair zu hart. ^^^H
^H 3. Hier i^ ein grosser Hut. Diesen Hut sollte ein Mann aufsetzen, ^^^B
^^K Es ist keiner £l, Abo kann er ihn oicbt aufsetzet. ^^^H
^^^^^^^^■^■M
72
Beobachtungen über das Atuchauungroermögen der Kinder. L
4» In sich sasamineiihinsend« S&tze, welche eine Brxihlaaf
darstellen sollen:
Juli
Oktober
Dezember
Andere Mümi, wie mein
Katzkrakl, ihr ICinni
fort, Wald nana, Vater
und Matter sndiena.*)
Ich ziehe das Resultat aus dem gewonnenen Material:
Tabelle VI.
(Znsammenstellnng der Ergebnisse.)
a) HaoptwOrter«
JnU
Oktober
Dezemb.
Snmma
1. Personen
2. Körper, seine Teile . . . .
3. Eleidnngastücke
4. Das Hans und seine Teile
5. Nahnmgsmittel
6. G^er&te nnd Gtobranchsartikel
7. Tiere nnd deren Körperteile
8. Dinge in der Natur . . .
9. Stoffe
10. AbBtrakta
10
1
11
3
1
1
Neu
5
6
4
4
4
18
4
2
Nen
1
2
1
2
11
6
2
1
2
16
8
8
6
5
40
13
5
2
2
Snmma
30
47
28
105
4. Der Mann soll kommen nnd soll ilm an&etzen.
5. Der Hnnd hat kein Wickelband. Man muß eins kaufen.
Bemerkung: Der Hund, den es auf einem anderen BÜd gesehen hatte,
ein Mops, hat ein Oeschirr über Brust und Bücken. Diesen Gnrt
h< es für ein Wickelband. Der Hund auf diesem Bild ist nicht ein-
geschirrt Das sieht es. Deswegen denkt es sich, wie dargestellt.
6. Die Hamper sind zerrissen. Man sieht sie fga nicht.
Bemerkung : Das Papier ist zerrissen. Dieser ümstsnd Tersnlaßt das
Kind zu dem obigen Schlüsse.
7. (Siehe Schluß 1). Die Lampe ist nicht angezündet Es sind keine
Zündhölzchen da. Diese haben die Buben.
8. Das Kätzchen legt seine Pfote auf ein anderes 'irn^<Tff^hf>p. Es wlU
zu ihm hin. Das ist einmal eine böse MinnL (Sittliches Urteil).
31 Anmerkung. Wir hatten eine Katze. Während der Perien lief
en nahen Wald und wurde dort erschossen. Das Kind Termißt auf
dem Bilde eine Katze. Eine derselben hat Ähnlichkeit mit der entlaofenen.
(mei Katzakrakl) Das ist der Assoziationspunkt, der hinüberieitet cor
eigenen Katze. jNfun erzählt es deren Leidensgeschichte.
„Die andere Minni sieht aus wie die meinige. Ihr Kamerad ist fort
Er ist in den Wald hinausgegangen. Vater und Mutter gehen iKth nach
nnd suchen ihn. —
Z. Maurer,
73
b) UnvoUkomaMoe Site*.
Juli
Oktober
Dezemb.
») Baine 8Um anr mit Anaasge:
dtoMlbeiat
Mk) Hauptwort
U>) SigMiMhaftnrort
3
4
4
11
—
1
— .
1
ixA Pltfti2ip
dd) Zeitwort
b) Objekt«.
4
5
1
10
3
9
1
13
4
5
9
c) Umstinde
M)Ort
5
6
13
24
bb)Zelt
—
„^
1
1
CO) Grund
1
—
1
2
Summa
c) Vonkommene Sitze.
71
a) Aussage.
aa) JBaaptwort
bb) Eigenschaftswort
dd) Zeitwert
b) Objekte.
1
2
4
20
Snnuna
d) Schlösse.
27
e) Brzlhlangen.
TabeUe VIL
(Gesamtübersicbt der vorstebenden Tabelle.)
Juli
Oktober Dezemb. Snmma
L Hauptwörter
n. UnTollkommene Sätse
HL YoükOTmiene Sätase
IV. ScUllsse
y . SislUnng
30
20
3
47
30
12
5
28
21
12
3
1
105
71
27
8
1
Einige Erläuterungen mögen die gegebenen Tabellen
ergänzen.
Zu S. 68: Unvollkommene Sätze, in denen die Satzaussage
ein Hauptwort ist, bemerke ich : ,,sthwarze Katze" : Das Kind
74
Beobachtungen über das AnschauungroermSgen der Kinder /.
denkt sich: „D^s ist eine schwarze Katze". Der Beobachter
hat das Subjekt zu ergänzen, den gesprochenen unvollständigen
S;at2! des Kindes nach dessen Sinn zu vervollkonunnen. Es ist
ein Unterschied, ob das Kind sagt : klein Karo, böser Bub oder
„Bu barfuß". Im ersteren Falle lautet der vollständige Satz:
„Das ist ein böser Bube." Die Antwort des Kindes ist eine
Aussage, zu welcher das Subjekt ergänzt werden muß. Im
zweiten Falle ist Subjekt und Ausisage schon gegeben. Die
Ergänzung erstreckt sich nur auf die Form des Satzes, nicht
auf den Inhalt. Es braucht nur der Artikel und die Kopula
ergänzt zu werden, während im ersteren Falle ein wichtiger,
unentbehrlicher Satzteil fehlte.
Zu den Sätzen mit „Umständen" bemerke ich' folgendes!:
Es war mir nicht möglich, in den Rahmen der systema-
tischen Zusammenstellung die Umstandsworter selbst einzu-
kleiden. Da dieselben aber so zahlreich auftreten und eine
gewisse Reichhaltigkeit besitzen, kann ich nicht umhin, dieselben
aufzählend hier nachzuholen: Das Kind gibt sich selbst Ant-
wort auf die Fragen:
Wo ? (im, da, dahinten, in der Mitte, oben)
Wohin ? (hinauf, daher, danunter, dadrauf nunter, vor, hin,
hinaus (heraus), runter.) —
Bis jetzt hatte ich mein Augenmerk auf die Sprache des
Kindes gerichtet, seine Ausdrucksweise, seine Sprachfertigkeit.
Nun will ich diese Worte de^ Kindes ^eleben mit seinem Geiste,
mich versenken in seine Psyche imd darzustellen versuchen,
wie die Gedankenfolge des Kindesi war, etwaige Lücken er-
gänzen imd in das Gefühlsleben des kleinen Beobachters hin-
einleuchten. Die Resultate folgen wiederum in Tabellen.
Tabelle VIII.
1. Negationefl.
Jnli
Oktober
Dezember
a) 1. Kein Wagen an-
spannen
2. Ka Matter
3. ka Karo da
4. ka Matter dran
5. ka Lampe
6. ka Pappe
a) 1. ka Chokoladetafel
2. ka Ba drauf
3. ka Pappe
4. ka Wickelbaad
b) 1. ka Oockelhahn
2. Lampe netanzandon
L, Mmikw^r^
75
Juli
Oktober
Dezember
k& Karo
ka WickelbftDd
nei ZfindMIzcli/eti
Heßler hat net
KDopfsÜefel
ka Lampenschirm
ka Hat da
ka Luila.
b) 1. ka ZUndhöIzclien
2. ka Zimmer
3. ka Schuld
4. ka Mann har
5. ka Lein©
6. ka Kanna
7. ka Pania
8. ka Hulipetz
Während der Durchsicht der Angaben des Kindes fiel mir
auf, daß es m oft sagte : das und jenes wäre nicht da. Also ver-
mißte es etwas auf dem Bilde, das es dort vermutet hatte. Auf*
fallend ist, daß derartige Negationen während der erstmaligen
Betrachtung nicht vorkommen. Im Oktober finden sich deren
16 (8+8), im Dezember 11 (4+7). Ich habe diese Negationen
in awei Gruppen gebracht. Sieht man dieselben nämlich etwas
nähen schärfer an, so bemerkt man, daß sich die erste Gruppe
auf Dinge bezieht^ welche es deshalb auf seinem Bilde ver-
mißtej weil etwas ähnliches auf dem vorausgegangenen Bilde
oder einem früher vorgeführten war. Die zweite Gruppe ent<
hält diejenigen Negationen, die sich auf die Umgebung des
Kindes: Familie, Haus, Freunde und sein eigenes Ich beziehen-
Daß das Kind im Juli derartige Negationen nicht brinert, erkläre
ich mir aus dem Umstände^ daß es früher noch keine Bilder an-
schauen durfte, in seinem Gedächtnis, in seiner Erinnerung also
noch keine Vorstellungen derartiger Wahrnehmungen haften
konnten und der Reiz der Neuheit den Hintergrund der Um-
gebung zurückdrängte» Die Erklärung einiger dieser Nega-
tionen wird genügen, um den Gedankengang des Kindes fest-
stellen £u können.
^,Ka Karo da/* So sagt das Kind beim Anschauen des
zuzeiten Bildes. Auf dem ersten Bilde war der Hund {sein eigener
Hund heißt Karo) der Mittelpunkt des Redeflusses* Nicht we-
niger als 5 Mal nennt es während der erstmaligen Betrachtung
den Hund. Zu tief sitzt der Karo, sein eigener Hund, in der
Erinnerung, als daß es ihn bei Betrachtung des Bildes 2 nicht
vermissen sollte.
,3£a Wickelband''. Der Hund eines früheren Bildes war
76
Beobachtungen über das Ansehauungsvermögen der Kinder, L
gegürtet^ der Hund auf dem später vorgeführten Bilde hat
keinen Gurt, das fällt dem kleinen Beobachter auf; deshalb
sagte er: ka Wickelband.
,,ka Hanna» ka Paula." Seine beiden Schwestern heißen
Hanna und Paula. Nun sieht esi auf dem Bilde ein Mädchen,
das es sich in seinem Alter seiend vorstellt. Deswegen sagt
es : Dös bin ich. Zu ihm gehören aber, für das Kind als etwas
Selbstverständliches geltend, seine beiden Schwestern. Diese
vermißt es. Deshalb sagt es: ka Hanna, ka Paula. Diese
Art der Negation kleidet es auch oft in Fragen : Wo ist Paula,
wo ist Hanna?
„Ka Godcelhahn." Das Kind hatte zu Weihnachten einen
Gockelhahn erhalten. Das vorgezeigte Bild stellt die Weihnachts-
bescherung dar. Nach seiner Ansicht gehört dazu auch ein
Gockelhahn. Es findet unter den Gaben kein solches Tier,
deshalb sagt es: Ka Gockelhahn. —
Wir sehen aus dieser Betrachtung, daß das Kind seinen
Bewußtseinsinhalt, seinen Vorstellungskreis in Beziehimg bringt
zu den von ihm angeschauten Bildern. Diese Tatsadie läßt
den Schluß zu, daß das Kind das auf dem Bilde sucht, was es
sich zu der dargestellten Scene zugehörig denkt, daß es das
nicht sieht, was seinem Vorstellungskreis fremd ist.
Tabelle IX.
1. Anshilffsmltt«! als Brsatxmittel ffflr 4«b Mang»! aa Sprech- oder
Spnichfertifirait:
Juli
Oktober
Dezember
machte so
Bubn a so zsammn
80 thut er
macbts so
das Paula a so
Arm 80 her
Fuß so nunter
Frau machte so
Der Knabe hat solchs da
Es zeigt die schiefe
Lage des Hutes des
Knaben
Bier da drin
Im Juli bediente es sieh der Geberdensprache 6mal, im
Oktober 5mal, im Dezember gar nicht mehr. Diese Geberden-
sprache ist scharf zu imterscheiden von den eigentlichen Nach-
ahmungen. Das Wörtchen ,,so" deutet \ms an, daß das Kind
eigentlich etwas sagen wollte, daß es uns beschreiben wollte,
wohin die Frau den Arm tut, wohin ^ie Katze den Fuß legen
L^ Mmxfwr*
77
wQl. Am deutlichsten kommt das zum Ausdruck in der An*
gäbe : Der Knabe hat s o 1 c h s da. Der Knabe hat eine Tafel
in der Hand. Die Tafel ist» scheint ,es, etwas undeutHch ge*
seicboet. Es kennt die Tafeln im Juli schon. Siehe oben.
Warum sagt es: Der Knabe hat solchs da? Es erkennt diesen
Gegenstand auf diesem Bild nicht als Tafel, es sieht nur die
Form* Es weiß noch nichts von einem Rechteck. Deswegen
hilft es sich mit seinen Händchen und macht uns ein Recht-
eck vor. Unwillkürlich denke ich hier an den Witz, den man
sich oft erlaubt. Was ist eine Ratsche? Fast die meisten
Menschen geben zur Antwort : Ein Ding mit welchem man es
,^so** macht (sie ahmen die drehende Bewegung der Ratsche
nach.)
Ein Tirolerbube hatte einen Hut mit einer Spielhahn-
fcder schief auf den Kopf gedrückt. Das Kind kann sich
nicht ausdrücken. Es nimmt seine Händchen tmd zeigt uns die
schiefe Lage des Hutes, In einem Maßkrug ist Bien Den
Sat2 kann es nicht voitständig sagen. Es kann sich nicht richtig
aasdrucken : Es deutet auf den Krug und sagt : Bier da drin
u*s.w. Die Erklärung der Juli-Beispiele mögen genügen da-
för, daß die Behauptung richtig ist: Fehlt dem Kinde das
Won, so sucht es sich durch Geberden zu verständigen. Anders
ist es mit den eigentlichen
3. Nachafamungsn.
Hier ersetzt nicht die Geberde die Sprache, sondern das
Kind ahmt nach aus dem natürlichen Nachahmungstrieb. Auf
dem einen der gezeigten Bilder ist eih lebenslustiges Bauern-
weib abgebildet, sie lacht herilich, ihre weißen Zähne
bliüEen. Der Künstler hat das Porträt herrlich wieder-
gegeben. Das Leben des Bildes erweckt den Nachahmungs-
trieb des Kindes. Täuschend gitot es die Mienen des
Weibes wieder, so daß ich wünschte, ein Photograph wäre
zugegen. Er hätte mir die Züge des Kindes festhalten müssen.
Auf einem anderen Bilde ist eine Katzenfamilie abgebildet.
Ein kleines Kätzchen kratzt mit den Füßen. Das Kind sieht
die Bewegung der Kat^e mit seinem geistigen Auge. Diese
Wahrnehmung resp, Vorstellung veranlaßt es, die Katze nach-
xoamnen: es strampelt mit den Beinen.
Der Knabe auf dem ersten Bilde hat weiße Zähne, wie
78
Beobachhingen über das Anschauungsvermögen der Kinder. /.
Perlen. Diese fallen dem Kinde auf. Es madit seinen Mund
lauf und zeigt ebenfalls seine Zähne.
Alles was Leben hat, reizt das Kind^ weckt den Nach-
ahmungstrieb, das Kind folgt willenlos. —
Im Anschluß an die mangelnde Sprechfertigkeit und die
Defekte im Sprachgebrauch möchte ich auf eine andere Er-
scheinung aufmerksam machen: auf die unrichtigen Bezeich-
nungen mancher Gegenstände:
Tabelle X.
(Falsche Bezeichnungen.)
Juli
Oktober
Dezember
Die Festung, mit der
Die Stiese des Hauses ist
eine Chokoladetafel
Stuhl =» Haspel
die Knaben amWeih-
Wandkarte — Ghokolade-
nachten spielen, ist
Die Portiere eine Wagen-
taM
zuerst eine Eisen-
deck
Tisch » Chokoladetafel
bahn, dann ein
Der Spiegel eine Choko-
Gartenhaus
ladetafel
Per Gurt des Hundes
ebenso die Schreibtaf el
ist ein „Wickel-
Eine Puppe identifiziert
band"
sie mit sich selbst:
DieFliege, welche auf
dös bin ich, nicht ich die
der Katze l&uft, ist
Schlot^r hergschreibt
eine Wunde, ein
„Wewe"
Die schwarzen Flecke
des Mopses ist
„Blut"
Zweifel: Die Puppe
Korrektur: Die Portiere
Wenn ich diese „unrichtigen Bezeichnungen" betrachte»
so muß ich an Goethes Wort denken :
„Anschauen, wenn es dir gelingt.
Daß es erst ins Innere dringt.
Dann nach außen wiederkehrt :
Bist am herrlichsten belehrt/*
Armes Kindl „Wenn es dir gelingt!" Ich entsinne mich
noch meiner Kindheit. Mein Vater nahm mich Sonntags mit
in die Kirche. Wir saßen stets auf der sogenannten Empore.
Von da aus konnte man gut den Altar sehen. Vor* dem Ahar
saßen die Lateinschüler. Ich freute mich von einem Sonntag
auf den andern: „die Feuerwehrleute" wiederzusehen. Daä
waren für mich die Lateinschüler. Den Zusammenhang kaim
Z. Maurer,
n
ich mir momentan nicht erklären* Beobachten wir Landleute,
wenn sie in die Stadt gehen. Welche ,,naiven Ansichten** —
Anschauimgeo, so wie sie die Personen, die Dinge, die Si*
tuationen ,janschauen**. Doch ich schweife ab* Zurück zum
Thema* Das kleine Mädchen sieht eine Festung, eine solche,
welche der Weihnachtsmann bringt, für eine Eisenbahn an. Die
Eisenbahn hat in dem Schlot der Lokomotive einen erhöhten
Punkt, der in groben Umrissen dem Turm der Festung gleicht.
Das Gartenhaus, für welches das Kind die Festung später hält>
hat die viereckige Gestalt derselben. Das Kind sieht „Formen**,
„Form*' und weiß nicht, was es mit ihr anfangen soll; Ebenso
geht es ihm mit verschiedenen Gegenständen, welche in der
.»Form'* einer Chokoladentafel gleichen. Die ,,recht eckige**
Stiege, der ,,recht eckige'* Spiegel, die „rechteckige** Schreib-«
tafel, die ,jrechteckige** Wandkane = alle diese Gegenstände
sind Chokoladentafeln, Am meisten Berechtigung verdient wohl
der Vergleich mit der Schiefertafel, weil hier das Moment;
,,dunkfe Farbe** hinzukommt* Irgendwelchen Berührungspunkt
müssen wohl die beiden Gegenstände, welche das Kind in ihren
Bezeichnungen verwechselt, haben. So der dunkle Flecken auf
der hellen Haut des Mopses, Es sieht fast so aus^ als ob der
Mops blutetCj ebenso die Fliege auf der Katze, Ein Flecken auf
dem Fell - das ist für das Kind Blut, Wo Blut herausläuft,
muß eine Wunde, ein „Wewe** sein. Aber schon erhebt das
Kind Zweifel, Es sieht eine Puppe. Es denkt: Diese Person (?)
ist so groß wie ich. Es „schaut die Puppe** als so groß an, wie
sie sich selbst dünkt. Es sagt: „das bin ich." Nun hat ihr,
scheint es, an der Puppe doch etwas nicht gefallen, was zum
Vergleich mit ihm nicht recht stimmt. Es erheben sich in
seiner Psyche Zweifel, Es sagt: nicht ich: eine Puppe* Es
korrigiert sich auch. Im Juli hält es die Portiere für eine Wagen*
decke. Im Oktober sagt es: ein Vorhang, Diese „un-
richtigen Bezeichmmgen** haben mich sehr interessiert* Sie
sind der Angriff spunkt, an welchem wir den Hebel anzusetzen
haben, um das „Anschauen*' iind ,,Anschauungs vermögen*' der
Kinder recht studieren zm können. Der Anschauungsunterricht
gravitien nicht auf die „Objekte** hin, sondern muß das Subjekt
„Kind** im Auge behalten. Ich schließe diesen Abschnitt mit
den Worten KarlGerocks;
80
Beobachtungen über das Anschauungsvermögen der Kinder. I,
„Singt immer: wie singen die Alten
Und lesen die Schrift mit Verstand
Und doch ach I wie hundertmal halten
Das Buch wir verkehrt in der Hand."
Sprach- und Sprechmängel.
Unterwirft man die Aussagen des Kindes nur einer
flüchtigen Durchsicht, so fallen sofort die vielen ,,a" auf:
Mädla; dieses ^^a" findet sich am häufigsten an Stelle des im-
bestimmten Artikeln Hier kommt der Dialekt der leichten
Ausisprache des ,,a" entgegen: statt y.ein'* erscheint stets ^.a".
Selten wendet es den bestimmten Artikel an.
Tabelle XL
(UnbMtimmtar Artitel).
Juli
Oktober
Dezember
Summa
2 X
5 X
13 X
20 X
Pronomina wendet es häufig an \md !zwar :
Tabelle XII.
(PronomliuL)
1. Fendnliche
2. BeaitarAugeigende
3. Hinweiflenae
4. BüGkbezfigUcke
5. TJubeetimmte
6. Fragende
JuU
1 (solches)
Oktober
ich 5X er IX
ihrVXSeinlX
des 4X
Was IX
Deoember
ick 2X
seinlXihröX
das 4X
3X
Summa
8
15
8
1
4
36
Wendet es diesielben audi richtig an? Folgende Ta-
belle XIII. führt die falschen Anwendungen der Pronomina an:
TabeUe XIIL
(Falsche Anwendungen der Pronomina.)
Juli
Oktober
Dezember
ihr Pfote (Eatn)
ihr Großmutter der Bu
g)ie Großmutter des
üben)
Ihr Mutter soll Paula a
Weckla geben
Eatzakrakel ilir Minni
Da ihr Schwans
diegroßePaulaihr]
Schwesterla;ihrelfotter:
ihr Vater.
Z. Maurer,
81
Juli
Oktober
Dezember
Bab soll ihren Hut auf-
setzen
Eigentliche Pronomina
ihr Pfote
ihr Mntter
ihr Schwanz
ihre Mntter
ihr Vater
Wir sehen hier die mannigfaltige Anwendung des Prono-
mens ihr : „ihr Großmutter der Bu** : die Großmutter des Buben.
„Die große Paula ihr kleines Schwesterla** = das kleine
Schwesterchen der großen Paula. Das besitzanzeigende Pro-
nomen ersetzt den Genetiv, der ja auch eigentlich den Besitz
anzeigt.
„Ihr Mutter soll Paula a Weckla geben**: Das ist eine
der vielen Umstellungen, die ich schon bei anderer Gelegen-
heit schilderte (AUg. deutsche Lehreraeitung 49: der Ge-
dächtnisstoff). Die Mutter soll ihrer Paula a Weckla geben.
„Bub soll ihren Hut aufsetzen** =f Verwechselung mit
„seinen".
Das Pronomen „ihr** wird von dem Kinde teils richtig an-
gewendet, teils falsch; es imterlaufen ihm Umstellungen; es
wendet das besitzanzeigende Fürwort an Stelle des Genitivs an.
Tabelle XIV.
(Zahlwörter.)-
Jnll
Oktober
Dezember
Alk) 5
Diei
5 Karo
5-8—9 Bu
5 Frau
SFäßla
Die paarla Pfote
Viel Trau
5
Während der beiden ersten Betrachtungen ist eine
größere Anzahl von Gegenständen immer 5; das: drei = Zufall.
Interessant ist das Zählen : 5—8—9 Bu. Das betreffende Bild
stellt nämlich eine Schule dar, in welcher viele Kinder sitzen.
Die große Anzahl derselben geht wohl über den Zählhorizont des
Kindes hinüber. Deswegen nennt es 5—8 — 9 sprungweise. Im
Dezember drückt es sich unbestimmt aus. Es sagt : Viel Frau.
Zeitschrift fftr pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 5
'. L
srrr.- = v^^niTi. -ss '^ ritf at TCOBC 5 ha&EC ax. Es hat
.ne Z-jT-^rriiTLicfiksn: n räe^ Ana^raciiß. Ar Sprache der
r iheriliüiiir js" ixe .\zLi9^ndxai!g <fi» Ciiffiuir- t- Ich unter-
Iftn zmi vjc: dese J :m -s-aecr vnL
Mangel tct-
= u
&&>
Im Juli wendet das Kind den Infinitiv 7mal, im Oktober
Hrnal und im Dezember 2mal an, (siehe Tab. XV). Daß es
Uli Juli von dieser Form seltener Gebrauch macht, als im
OkuAn-r, hat seinen Grund darin, daß es eben im Juli
wiTiiK'^r wr:iß. Deshalb steht mir auch bei der JuH-Besprechung
w#riiK^-r Material zur Verfügung. Die Gegenprobe wird jetzt
Anyru, ith korrekt angewendete Verba im Dezember den In-
finitiv vordrängten.
Tabelle XVI.
(Vnrdrlinfcutif; dei Infinitivs durch Verbformen.)
Juli
Müll II Imi nnlfiin
Hill KimtiMliiitiinldhHfU
IlMli /.Hllllfl
Hill«) lUlllM Allf
Oktober
Karo wMft auf
hat Tafel
Karo ffibt Pfote
Int ««tnpaokt
DeEember
Wart auf
Ba hat Ohokoladetaftl
Bn hat Bildertrach
Weifier Karo hat Beine
Z. Maurer,
83
Juli
Oktober
Dezember
Der Ba tchlAbt
Dahinteoateckt der Mann
Mag ich lücht
Das ist sei Hans
Mann soll kommen
Ptalakat Zopf
Kinder thnn Fangeilens
Matter soll geben
Bub soll amaetzen
Hamper sind aerrissen
sieht man gar nicht
Frau h*t Stock
sitzen in der Bank
Das bin ich
Große Ghokoladetafeln
MSdia hat Flaache
sind BÜder
hat Knopfstiefel
Heßler hatnet Knopfstiefel
hab ich Knopfstiefel
gsehn.
Minneria guckt r»us
Vater und Muttor suchens
hat Blumenstrauß
A Bu hat an Stedcen
Bu da oben soll runter
Frau hat an Kopfl und
a Hanbn auf
Hundela hat Schwanz
Da hint steckt Tiulla
Karo tut man anspannen
Luila hat an Schopfl
S. S. = 5
S. S. == 18
S. S. = 26
Bei den erstmaligen Betrachtungen überwiegen die In-
finitive, im Dezember haben die korrekten Sätze einen sehr be-
deutenden Vorsprung. Während eines! halben Jahres hat das
Kind „im Sprechen" sehr viel gelernt. Die beiden Tabellen:
XV imd XVI beweisen das.
Tabelle XVII.
(Fehlerhaft ausgesprochene Worte.)
Juli
Oktober
Dezember
mehme
Baroln
hergschreibt
Katzakrakel
Pottkittel
'R'ftffiiiAynit'hl
Unter der großen Anzahl von Wörtern ist eigentlich die
der fehlerhaften sehr gering. ^^Mehme** imd „Katzakrakel" bilden
eine Gruppe. Das Kind sagt: mehme^ weil das zweite „m"
assoziativ auf den ersten Laut wirkt: ebenso: Katzakrakel.
34 Beobachtungen über das AnschauungsvermSgen der Kinder, L
die zwei „K" in Katzenbrack üben ihre nach- und rückwärts-
wirkende assoziative Kraft aus. Das Kind spricht unter diesem
Drucke: krakl statt brack (siehe obenerwähnten Aufsatz der
Allg. deutschen Lehrerzeitung, in welchem ich diese Kraft des
Näheren erläutert habe). Pottkittel (Bettkittel), Baroln (Ballon)
imd Kaffeemahl (Kaffeemühle) hat sidh das Kind selbst ge-
bildet, wie vielfach Kinder ihre Sprache selbst formen.
Sittliche Gefühle.
Laien behaupten oft, Kinder mit 3 — 4 Jahren verstünden
noch nicht viel. Auch ich wmrde ausgelacht, als! ich von einem
3^ jährigen Kinde Bilder ansehen ließ. Wir haben gesehen,
daß ims der kleine Mann sio viel^ Stoff geliefert hat, daß er
kaum 7>x bewältigen ist. Das Kind hat nicht nur Geberden,
Mienen imd Worte. Es hat audi schon Gefühle und ist in
seinem Innersten empört, wenn es sieht, daß einem Wesen
Unrecht geschieht. Seine Psyche ist erregt darüber, daß ein
anderes Geschöpf leiden soll. Unzweideutig gibt uns der kleine
Schüler darüber Antwort. Im Juli merkt man davon noch
nichts. Aber schon bei der zweitmaligen Betrachtimg gefällt
es ihm dxurchaus nicht, daß der Nacketfrosch „nicht angezogen
ist". Es nennt den Buben „böse", weil er einen Stecken hat.
Es vermutet, daß er mit demselben zuschlagen will. Seine
Haltimg gefällt ihm nicht. Im Dezember sieht e^ wie eine
Katze zu der andern will. Das Kätzchen legt eine Pfote auf
die andere. Das Kind meint, es will dem Kätzchen etwas* tun :
es *sagt : mal a jböse Minni.
Es hat nicht nur sittliche Gefühle, sondern das Anschauen
der Bilder ist auch mit einem gewi^en Frohgefühl verbünden;
das Isbgenannte Heurekagefühl kommt oft zirni Durchbruch.
Es emj)findet Freude über die Freude, die aus den Augen der
im Bilde gezeichneten Personen blitzt, es empfindet Freude,
wenn es Gegenstände, Tiere und Personen aus seiner Umgebung
in den Bildern wiedererkennt. „Es strampelt mit den Beinen"
und ahmt die Mutter nach. (Siehe Nachahmung.) Es hat
auch religiöse Gefühle. Andächtig legt es! die Hände zusammen,
als es sieht, daß ein Mädchen betet. Hätte es kein religiöses
Gefühl, nimmermehr würde es auf die betende Haltung des
Z. Maurer. 35
Mädchens reagieren. Man spreche mir hier nicht von einer
Nachahmung. Ich habe mich so gründlich von dem Vor-
handensein der religiösen Gefühle überzeugt, daß mir niemand
das strittig macht. Eine offene Frage ist die, ob und inwieweit
die Vererbung mitspielt.
Damit wäre ich mit meinen Betrachtungen zu Ende. Ein
II. Teil behandelt die Ergebnisse des Anschauens der Bilder
von Seite schulpflichtiger Kinder.
ifs^^^
Sitzungsberichte.
Psychologische Oesellschaft zu Beriin.
Sitzung vom 11. Dezember 1902.
Beginn: 7» Uhr.
Vorsitxender: Herr Th. S. Fla tau.
Schriftführer: Herr Pfungst
Der Vorsitzende begrüßt die zahlreich erschienenen Gäste und madtt
folgende Mitteilungen:
Die Stadtbibliothek zu Göteborg überreicht im Austausch gegen
ca. 18—14 Schriften der Gesellschaft für Psychologisdie Forschung Bd. VII
der Göteborgs Högkolas Ärsskrift, Göteborg 1901.
Das Institut G^n^ral Psychologique zu Paris ist bereit, sein zwei-
monatlich erscheinendes Bulletin gegen die Schriften der Gesellschaft auszu-
tauschen. Die Psychologische Gesellschaft ist damit einverstanden und
übersendet Heft 12 und 13-14 ihrer Schriften.
Der Vorsitzende begrüßt hierauf den Redner des Abends, Herrn C. £ i t z ,
Gesanglehrer in Eisleben, als Gast und erteilt ihm das Wort zu seinem Vor-
trage über:
Die Ton wor tmet hode in psychologischer und
musikpädagogischer Hinsicht.
Zu einer guten Allgemeinbildung gehört auch die musikalische. Darum
müssen auch die, die kein Instnunent spielen, sie erwerben können. Bei
richtigem Betriebe kann das auf der Grundlage des elementaren Schul-
gesangunterrichts geschehen. Dieser Unterricht ^'ermittelt gegenwärtig keine
genügende musikalische Bildung. Selbst auf höheren Schulen gelangt man
nicht weiter als zu einiger Notenkenntnis, im übrigen aber nicht zum volkn
Notenverständnis. Dieser Mißstand ist nicht auf die mangdnde BefiUiigaDg
der Schüler, auch nicht auf die Schwerbegreiflichkeit des Mnwkalisdiia^
sondern auf die Mängel der Unterrichtsmethode und ihrer Mittel snrück-
zuführen. Das soll hier nachgewiesen und ein neuer Wag gewägt werden.
Ein Schüler, der nach Noten spielt, hat von vornherein nicht nötig,
sich den notierten Ton vorzustellen. Er hat nur für jede Note die ent-
sprechende Griffstelle am Instrument anzuspielen, um den riclttjgeQ Ton
zu treffen. Der Gesangschüler dagegen hat nach dem NotenbiMe seinen
Stimmapparat einzustellen. Das gelingt ihm aber nur dann, wem vorher
Säzurifs^erüki^,
87
das Notenbiid die entsprechende Ton Vorstellung in ihm erweckt hat. Diese
Wirkung will sirh aber meist nicht einstellen* Wenn es dem Spieler mit der
Zeit gelingt, schon beim ersten bb0en Anblick der Noten die entsprechenden
Tonvorstetlungen zu haben, so hat er eine Entwicklung hinter sich, in der
gewi^e Zwischenvxjrstellungen, etwa das chromatische Schema der Klaviatur,
besonders aber die durch das Spiel gewonnenen Bewegungs Vorstellungen, eine
%'ertmttelnde Rolle zwischen Noten- und TonvorstcUung gespielt haben. Mehr
oder minder bewußt spielen diese Zwiscbenvorstellungen auch später in den
Reproduktionsproieß hinein» wenn er mit musikalischem Verständnis Noten
liest* Dem des Spiels unkundigen Sänger fehlen derartige Zwischen Vor-
stellungen. Die Vorstellungen von den beim Singen gehabten Empfindungen
im Slimmapparat können dahin nicht gerechnet werden, denn sie werden erst
mit Hilfe der Tonvorstellung und nicht umgekehrt reproduiiert- Man kann aber
auf dem Wege des Solfeggierens dem Sänjger brauchbare Zwischenvorstel-
lüiXgen anerriehen. Die hierbei nach dem Gesetze der Gleichzeitigkeit dem
Tonvorstellungskomplexe assoziierte Vorstellungskomponente des Tonnamens
enthält ein durch die Sprechbewegungen erzeugtes senso motorisches Vor-
stcüungselemem. Diese Bewegung! Vorstellungen haben aber so wie so schon
eine enge Beziehung zu unserem logischen Vermögen und werden bei dcf
nahen Verwandtschaft zwischen Denken und Sprechen voraussichtlich das
mnsikalkche Denken viel wirksamer und zuverlässiger beeinflussen als die
vom Spiel herrührenden Bewegungs Vorstellungen.
Der Schulunterricht hat das früher geübte Solfeggieren aufgegeben, weil
die arctinischen Silben für das chromaiische Tonsystem nicht mehr aus-
reichten. Das Abec edieren auf Tonbuchstaben hat sich nicht eingeführt, da
CS den Erfolg der Stimmenbildung vereitelte, denn die gebräuchlichen Ton*
namen sind nicht sangbar. Sie bilden auch in ihrer Gesamtheil ein logisch
wertloses System, wekhes die Betiebur^gen der Töne untereinander fast gar
nicht zu versinnbildlichen vermag. So ist es gekommen, daß wir einerseits
zwar Tonnamen hatten, sie an^drerseits aber nicht verwerteten^ um sie durch
hinreichende Übungen ebenso fest mit den Tonvorstellungen zu assoziieren,
wie die Worte der Sprache mit den Vorstellungen aus andern Sachgebieten
assodiert sind.
Mein Tonwortsystem bietet für den musikalisch bildenden Gesang-
umerrichi ein neues Sprachmittel an, welches das ganze chromatische Ton-
System und die musikalischen Beziehungen der Töne untereinander lu ver-
sinisft^ildlichcn vermag. Die Tonworte sind auch sangbar, wie die aretinischen
Silben, Sie sind wie diese zweilautig und jedes besteht aus einem Kon-
sonanten im Anlaut und einem Vokal im Auslaut. Die Konsonanten be-
zeichnen die chromatische Stufe, Deren Skala von c bis h ist folgende:
b r t m g s p 1 d f k n.
Die Vokale heieichnen die enharmonischen Unterschiede auf den chro-
matischen Stufen, as heißt z. B. da, gis dagegen de. Die enharmonische
Skala beißt: a e i o u. Die Tonwort reihen der Dur- und Moll ton 1 eitern
lassen die diatonfischc Gliederung nach Ganz^ und Halbtonstufen sowohl an
den Konsonanten- ais auch Vokalfolgen erkenneti. Die IntervaUe werden
■^
88 SitsungsberühU.
als große, kleine, verminderte und übermäßige zuverlässig unterschieden.
Trotzdem will das neue System das schwebende Problem der natürlich
reinen Stimmung nicht lösen, überhaupt an der hergebrachten Art und Weise,
wie die Musiker die Stimmungsverhältnisse denken, nichts ändern, sondern
als Bildimgsmittel eine technisch und logisch wertvolle Ergänzung zu dem
bewährten, jetzt gebräuchlichen Notensystem sein. Die Tonworte sollen
demnach auch als neue Notennamen gelten. Die Namen für die Be-,
Grund- und Kreuznoten sind folgende:
ces-dur : ne ri mo go pu da ke ne
c-dur: bi to gu su la fe ni bi
cis-dur: ro mu sa pa de ki bo ro.
Betrachtet man die Namen von c-dur als Gnmdnamen, so findet man
die Namen der mit einem Kreuz bezeichneten Noten, indem man von den
Lauten des entsprechenden Grundnamens sowohl in der Konsonanten- als
in der Vokalskala eine Stufe fortschreitet und die gefundenen Laute zu
einem Tonwort verbindet. Bei den mit b vorgezeichneten Noten sdu'eitet
man in den Lautskalen je eine Stufe zurück. (Ausführlicheres findet man
in meinem „Tonwort", No. 1).
Die natürlichste Grundlage der Tonarten sind die Hauptdreiklänge,
Darum beginnt die Tonwortmethode mit den Sekimdenreihen der T<m-
leitem, sie glaubt dem Anfänger nicht von vornherein das Treffen dis-
sonanter Intervalle zumuten zu dürfen. Aus dem klangverwandtschaftlichen
Zusanunenhang der Durdreiklänge wird der Schüler mit allen konsonanten
Intervallen bekannt. Sodann werden in der Form dreistimmiger Kanons
zwei Dreiklänge, z. B. c e g und c f a, miteinander verbunden und die
Tetrachorde, wie e f g a, daraus entwickelt, deren Töne dann in auf- und
absteigender Folge zu einem mitklingenden, ihnen konsonanten Vergleichs-
tone, in diesem Falle c, intoniert werden müssen. Auf diesem Wege
werden die Schüler auch mit den dissonanten Intervallen vertraut imd
schließlich zum Singen der Tonleiter befähigt. Der Zusammenhang der
klangverwandtschaftlich verbundenen Tetrachorde in c-dur ist folgender:
Die an die Klammem gestellten Töne des tonischen Dreiklang^ sind
die den Stufen der entsprechenden Tetrachorde konsonanten Vergleichstöne.
(Näheres siehe im „Tonwort", No. 3).
Die Tonwortmethode erreicht durch den Gebrauch der sangbaren Ton-
worte eine gute Stimmbildung und saubere Artikulation, durch die drei-
stimmigen Tonalitätsübungen eine reine Intonation. Die Asozziation der
Tonworte mit der Tonvorstellung schafft dem Schüler in dem Tonwort-
system eine brauchbare Handhabe für sein musikalisches Denken, die ihm
das Festhalten xmyd die denkmäßige Weiterverarbeitung seiner musikalischen
Erfahrungen gewährleistet. Der Unterricht nach der Tonwortmethode ist
Stiaung^^enekie.
89
darum auch eine gute Verarbeininj^ für das Instrumentenspiel, gewinnt
dafür aber noch einten besonderen Wert, indem die Konsonanten der Ton-
wotte die chromatische Stufe bezeichnen.
Trotz der TonaHtätsübungen bleiben Choräle und mehrst immige
Volksmelodien der Hauptstofl. Sie werden mit Hilfe des Tonworts ange-
eignet* Dabei gilt die Note als graphisches Symbol für das Tonwort. Die
gebrauch Liehen Notenpamen bleiben ganz außer Betracht. Die theoretische
Belehrung i^ird auf das für ein sicheres Können tmerläß liebe MaÖ bc»
scbränktj den'n das Vom-Blatt-Singen soll bis zum unwillkürlichen auto*
inatischen Akte ausgebildet werden. Dieser Prozeß wird durch häufiges
Daiwischentreien bewußter Überlegung eher gehindert als gefördert. Die
Tonwortniethode zielt somit nicht auf ein theoretisches musikalisches Wissen
ab^ sondern in durchaus elementarer Weise durch Vermitiltmg des Ge-
sangsunterrichts auf ein sicheres Können im verständnissvollen Musiklesen
vom Blatt,
Diskussion:
Herr T h , S. F 1 a t a u bemerkt* die Diskussion eröffnend, daß er es
für wichtig gehalten habe, dem Autor einer Methode selbst Gelegenheit zu
geben, deren Prinzipien und Absichten vorzutragen. Es müssen gerade solche
Bcftrebungeu, die den Elementarschulen und damit dem Volksunter richte
sm gute k€nimen sollen, besonders sorgfältig gewürdigt und untersucht
werden.
Herr Mam Battke: Die Methode des Herrn E i i z ersieht den Schüler
systematisch zum Unreinsingen, denn sie nimmt auf die großen und kleinen
Canitonsch ritte keine Rücksicht. Wenn sich z, B. in dem Ohre des Schülers
«lie Entfernung g— a (von E i t z ; la— fe benannt) für c-dur, also als kleiner
Gamton festgesetzt hat, so kann er nachher denselben Schritt la-fe un<
möglich für g-dur brauchen, da von der ersten zur zweiten Stufe ein großer
Canfton liegt. Und der Unterschied von g bis a in der eingestrichenen
Oktave betragt zwischen 5 bis 6 Schwingungen, also etwas mehr aJs der
Unterschied zwischen unserem Kammerton und der Pariser Stimmung, ist
also selbst für weniger geübte Ohren deutlich vernehmbar. Der Sänger
soll aber nicht dem am wenigsten musikalischen Instrumente, dem tempe-
rierten Klavier nachsingen, sondern sich eher nach der Geige richten. Und
jeder gebildete Geiger wird, selbst wenn er im Orchester sitzt, für jeden
Ton drei bis vier vcrschiedejie Anschlagsstellen haben, entsprechend der
Stufe^ die der betreffende Ton in der jeweils v-orliegendcn Tonart einnimmt.
Herr v- H o r n b o s t e l erinnert an, die Arbeit von M. Planck über
die rdne Intonation beim Acapella-Gesang^ aus der hervorgeht^ daß die
beut igen Sänger in Üiren Ton Vorstellungen von der temperierten Kjavier-
Stimmung stark beeinflußt sind.
Herr Prof. Dr, Zelle (a\ GJ : Die reinen Tonverhältnisse sind dem
menschlichen musikalischen Vermögen so angeboren, daß es ganz tiimiög-
Ijch ist, die einfachen Verhältnisse (8, 5, 4) unrein, d. h, temperiert, tvi
singen. Es kann daher eintreten^ daß ein rein gesungenes Stück höher oder
tiefer schließt, als es begonnen hat. Aber bei mehrstimmigem oder bc-
90 SüsungsberickU,
gleiteten! Gesang müssen wir beständig temperieren. Dies geschiefat bei
den weniger konsonierenden Verhältnissen: 6, 3, Ganzton, Halbton. Das-
selbe tut jeder Spieler eines Streichinstruments im Zusammenspiel nut anderen.
Herr Th. S. Flatau wünscht, sich zu der Methode noch vom
Standpunkte der Stimmhygiene imd der Sprachästhetik zu äußern. Wie er
Herrn Eitz schon nach dem ersten Eindrucke der Vorführungen in Eis-
leben bemerkt habe, glaube er, daß die Methode die Keime inf sich, trage,
auch nach diesen Richtungen ausgenützt zu werden; bisher aber sei dlet
noch ein unangebautes Feld. Jedenfalls sei es richtig, vor einem abschließenr
den Urteil sich selbst gründlich in die Idee und die Praxis der Methode
zu vertiefen.
Herr Eitz erwidert in seinem Schlußworte: Die theoretische Frage,
welcher Einfluß auf den Musikbetrieb der sogenannten „natürlich-reinen"
Stimmung beizumessen ist, gilt heute noch als ungelöstes Problem. Ich be-
dauere, daß sie in die Diskussion hineingezogen worden ist. 'Wn sind
hier gar nicht in der Lage, sie zu löse«. Wolken wir auf die Forderung
eingehen, daß schon durch die Tonnamen große imd kleine Ganztöne imter-
schieden werden müßten, so würden wir finden, daß dann auch eine Ände-
rung imseres gebräuchlichen Notensystems imabweisbar wäre. Das Noten-
system unterscheidet bis jetzt zwei, um ein syntonisches Komma verschie-
dene gleichnamige Töne ebenfalls nicht. Das beeinträchtigt aber die reine
Intonation in keiner Weise. Die Tonwortmethode lehnt sich deshalb eng
an das gebräuchliche und bewährte Notensystem an und will an demselben
nicht mäkeln und modeln. Sie kann sich noch viel weniger damit be-
freunden, das Noten- imd Tonnamensystem zugunsten der temperierten
Stimmung umzuändern.
Für mein TeU hätte ich gewünscht, daß sich hier in dieser Sitzung die
Besprechung auf die psyclK^ogische Frage geleitet hätte: Kann der sen-
somotorische Teü der Tonwortvorstellung erzieherisch für das musikalische
Vorstellen der in der Notenschrift dargestellten Musik fruchtbar g^nacht
werden? Ich freue mich aber, daß mir hier zugesichert worden ist, diese
Frage in einer späteren Sitzung der Psychologischen Gesellschaft besprechen
zu wollen.
Schluß der Siteung: 9** Uhr.
Verein für Kinderpsychologie zu Berlin.
Sitzung vom 16. Januar 1903.
Beginn 8*0 Uhr.
Vorsitzender : Herr K e m s i e s.
Schriftführer: Herr Hirschlaff.
Der Vorsitzende eröffnet die erste Sitzung des Jahres mit einige«!
einleitenden Worten und wendet sich darauf an den bisherigen Vorsitzenden
Herrn Geh. Reg.-Rat Stumpf, um ihm für die dem Verein geleistet^ai
Dienste zu danken. Folgendes war der Wortlaut der Ansprache:
Siiwungshtriektd,
91
„Gcchrtü Damen und Herren t Es ist mir eine angenehme Pflicii^
Herrn Geh. Reg,*Rat Stumpf, der durch sein heutiges Erscheinen sein
weiteres Interesse an unsero Bestrebungen bekundet, sowie Herrn Geh.
Re^.'Rat H e u b n e r , der leider heute verhindert ist, an der Sitxung teil-
zujichmen, den Dank für die bisherige hingehende und bedeutsame Tätig-
keit in unserm Kreise auszusprechen. Als wir vor 3^^ Jahren an die
Gründung des Vereins gingen, waren wir dann einig, daß er nur durch
anerkannte Autoritäten auf eine streng wissenschaftliche Basis gestellt werden
und einen angemessenen Rahmen erhalten könne.
Sie, Herr Geheimrat Stumpf, haben damals die Statuten entworfen
und die reitraubenden Vorarbeiten bei der Gründung auf sich genommen;
Sie haben uns darauf mustergültige Vorträge gehalten und für anderweitige
wtssensdiaftHche Beiträge Soige getragen, Sie haben die Diskiission^n,
stets in streng sachlicher Weise geJeitet und die Veröffentlichungen in
Form der Sammelbände und Sitzungsberichte ins Werk gesetzt, so daß
wir heute auf eine ertragreiche Arbeit lurückblicken. Ich spreche Ihnen
im Namen der Vereinsmitgliedcr unsern tiefgefüMtesten Dank dafür aus,
Urnen, der Sie die Idee, die uns vorschwebte, so fruchtbringend t\i ver*
wirklichen verstanden,
Herr Gehe im rat H e u b n e r hat als Mediziner den Verein nach seiner
Richtung in gleichem Maße gefördert, er hat uns einen ausgezeichneten
Vortrag gehalten und manches klärende Wort in der Diskussion ge-
sprochen.
G. D. y. HJ Ich fordere Sie auf, sich xtim Ausdruck Ihres Dankee*
von den Platzen zu erheben."
Nachdem dies geschehen war, erwiderte Hert Stumpf: er danke ver-
bindlichst für die freundlichen Worte und gebe zu, daß der Verein ihm
sehr am Herzen gelegen und ihm freilich auch manche schwere Stimde
bereitet habe. Indessen habe er sich durch die rege Teilnahme der Mit*
gÜeder an den Interessen des Vereins stets reichlich belohnt gefühlt. Er
wünsche dem Vereine auch in Zukunft weiteres Blühen und Gedeihen,
Es folgten einige geschäftliche Bemerkungen des Vorsitzenden. Zu
Kassenrevisoren wurden ernannt die Herren P f u n g s t und G i e r i n g.
, la den Verein aufgenommen wurde Herr etud, W i 1 1 m a n n , Berlin,
I Oranicnburgerstr. 37. Sodann hielt Herr Döring den angekündigten Vor*
I ^ag* ,,Über sittliche Erziehung und M oral u n te rri c ht/*
I Der Vortrag ist unter den Original beitragen dieser Zeitschrift in ex-
I Ktim abgedruckt.
fc Dtskussio n.
^ Herr K eins i es hebt für die Diskusston einige pädagogisch-psycho-
logische Gesichtspunkte hervor, nämlich: Für welches Lebensalter soll der
Moralunterricht bestimmt werden? Soll die Verbindlichkeit der Morallehre
vor <len Schülern diskutien werden? Sollen Märchen und Fabeln vom
^*ua«hen Anschauungsunterricht ausgeschlossen sein? Welchen Platz nimmt
« Gewöhnung innerhalb der sittlichen Erziehung ein? Wie hat sich der
^f'öraiiiniej^^hi bei moral insanity zu gestalte!?
92 Sit9ungsberichte,
Herr Münch dankt dem Redner für die klare Anseinanderlegong
des Stoffes und formuliert die seiner Ansicht nach nur Besprechung sich
vornehmlich darbietenden Fragen. Um Bedürfnis, Wert und Einrichtung eines
xusammenhängenden Moralunterrichts würde es sich handeln und um das
Verhältnis desselben zu dem bis jetzt zugleich mit der ethischen Be-
lehrung betrauten Religionsunterricht. Daß der letztere sich dieser Aufgabe
vielfach nicht mit der Sorgfalt und Vollständigkeit annehme, wie sie mög-
lich \md wünschenswert wäre, gibt er zu. Auch, daß ein Interesse an der
Erörterung ethischer Fragen als solcher sich bei der Jugend unschwer
wecken lasse oder von selbst hervortrete, namentlich aber bei den zum
ersten selbständigen Denken über die Fragen des Lebens gelangten Jüng-
lingen der Oberstufe der höheren Lehranstalten. So hofft Redner auch,
daß die „philosophische Propädeutik**, für die man einen emsdichem Be-
trieb innerhalb unseres höheren Schulunterrichts erwartet, das ethische Ge-
biet durchaus nicht meiden werde. Im übrigen ist es nach seinen Be-
obachtungen und Erfahrungen zweifelhaft, ob gerade ein zusammenhängender
Moralunterricht so viel wertvolle Wirkung tun werde, als man davon erwarte.
Eigentlich wirksam erwiesen sich \'ielmehr gelegentliche ethische Beleh-
rungen, in besonderen, empfänglichen Momenten und namentlich im An»
Schluß an Erlebtes angeknüpft. Zu allermeist aber wirke die Übertragung
sittlicher Gesinnung von Person auf Person, gleichsam durch ein nicht
zu analysierendes seelisches Fluidum.
Herr Rauh: Der Vorredner hat mit Recht bemerkt, das eigentlich
Wirksame an solchem Moralunterricht sei nicht die Belehrung, scmdem
das innere Feuer des Lehmrs, das bei den Kindern zünde. Fragen wir
nach der psychologischen Ursache dieser Erscheinung, so stellt sich heraus,
daß der Wille durch Belehrung, durch den Intellekt so gut wie gar nicht beein-
fhißt wird. Der Grundsatz des Vortragenden, daß Tugend lefarbar sei,
widerspricht dem psychologischen Befunde. Beeinflußt wird der \raie eines
Menschen im obigen Fall nur dadurch, daß die WiDensregung eines anderen
seinem Willen sich mitteilt. Der Einfluß geht von Trieb za Trieb, von
Instinkt zu Instinkt, \tm Wille zu Wille, nicht vom IntdMt zum Willen.
Die zweite Grund\x>raussetzung des Vortragenden, daß die Sittfich-
keit einheitlich sei und sein müsse, widerspricht ebenfalls den psychologisch
konstatierbaren Tatsachen. Das Willensleben des Menschen ist keineswegs
einheitlich, der Mensch ist in seinem NMUensleben ein durch idmI durch
pluralistisches Wesen. Es herrscht in seiner Brust ein fortwährender Kampf
der Instinkte, und wenn äußeriich in der Erscheinung etwas wie eine Ein-
heit zutage trin, so liegt das nur daran, daß jeder Kampf schließlich ta
einem Resultat führt. Die Einheit ist also nicht innerlich im Wesen des
Willens begründet, sondern ist nur das äußerliche Ergebnis des Kampfes
der vielen sich widerstreitenden Kräfte, die in ihrer Gegensätzlichkeit den
Willen bilden.
Deshalb ist auch drittens der Versuch des Vortragenden» ein System
der Sittlichkeit aufzustellen, als \-erfehh zu betrachten. Die Instinkte sind
in ihrer Art und Stärke bei \^rschiedenen Menschen sehr verschieden.
ds
^^ȟ
^^m
Keiner dieser Instmkie trägt in sich ein Merkmal^ daB er der grundlegende
oder übergeordnete sein müsse. Der Systematiker wird sich aiso, wenn
er übexbaupt nach eigenem Erleben handelt, dadurch bestimmen lassen,
daÄ bei ihm vielleicht e i n Trieb durch seine Stärke alle andern, überragt.
Wie soll solch System aber auf All gemeingültigkeit Anspruch machen, wenn
bei jedem das Stärkeverhältnis der Triebe ein anderes istj abgesehen
davon, daß der Wille jenes Systematikers schon gar nicht an das System
sich kehrt, weil auch bei ihm >e nach augenblicklichen Stimmung^i
und Verhältnissen das Siärkcvcrhäitnis der Triebe schwankt. Der Glaube
an eine aJlgemeingüliige, einheitliche Sittlichkeit, und damit an die Mög-
lichkeit eines Systems derselben, ist eine der ungeprüften Voraussetzungen,
die durch die Jahrtausende sich schleppen, aber vor eingehender Prüfung
nicht Stich bähen.
Herr Döring: Im Anschluß an die Worte des Herrn Münch
wolle er nur bemerken, daß ihm der Gedanke einer alsbaldigen Verwirk-
Üchung durchaus fernliege. Notwendig aber sei, das für richtig und
önschcnswert Erachtete zunächst in konkreter Gestaltung glejchsam im
lüde vonnf Uhren. Nur so lasse sich ein Urteil über die Durchführbarkeit
d Brauchbarkeit des Vorgeschlagenen gewinnen.
Gegenüber dem ersten Einwände des letzten Vorredners weise er
einesteils darauf hin, daß er dem Prinzip der personlichen Einwirkung
aych seinerseits in den Ausführungen über die Gewöhnung eine bedeutsame
SteJltmg eingeräumt habe, andrerseits aber doch in der nachdrücklichen Be-
tonung des intellektuellen Faktors nach wie vor die eigentlich ausschlag-
gebende Sanktion des Sittlichen erblicken müsse. Gegenüber dem zweiten
Einwände sei zuzugeben, daß manche Partien der sittlichen Vorschrift
einen von Individuum lu Individuum wechselnden Charakter hätten. Es
sei das auch in dem Vortrage wenigstens hinsichtlich der Berufsethik schon
angedeutet worden. Dagegen könne die lähmende Wirkung verschwommener
und unklarer Vorstellungen über das Ganze der sittlichen Forderung nicht
chdruckiicb genug betont werden, und daß in sehr weitgehendem Maße
le bestimmte Formulierung des sittlich Richtigen schon im Jugendunter^
ficht möglich sei, habe er mehr als im Rahmen eine3 Vortrags habe ge-
schehen können, in den betreffenden Partien seines Handbuchs gezeigt,
auf das er daher verweisen müsse-
Die weitere Diskussion wird vertagt.
Schluß der Sitrung 10 Uhr,
SiUung vom 13. Februar 1Q03.
Beginn 8*» Uhr.
Vorsitzender : Herr K e m s i e s.
Schriftführet : Herr H i r s c h 1 a f f .
Der Vörsitiende eröffnet die Sitzung mit einer kurzen geschäftlichen
fi^rachc. Aufgenommen in den Verein wurde Herr Dr, med. G a 1 1 e w s k i ,
94 SÜMMMgikenckU.
Berlin C, Sophienstr. 6. Es folgte der Vortrag des Herrn Gusindo:
,,Neue Versuche und Hilfsmittel im Gesangunterricht"
(Mit Demonstration der Gusind eschen Singeinaschine.)
Der Vortrag ist unter den OriginalbeitrageQ dieser Zeitschrift abgedruckt.
Diskussion:
Herr Körte schildert die persönlichen Eindrücke eines Besuchs der
Gesangsklassen des Herrn Vortragenden und gibt der Überraschung Aus-
druck, die die Leistungen einer Klasse von 11— 13jährigen Knaben und
Mädchen im dreistimmigen Gesang hervorriefen. Ein von ilun auf der Stelle
komponierter kleiner dreistimmiger Satz wurde mit Hilfe der Maschine -
der Name ist in Analogie von Lese- und Rechenmaschinen gewählt —.nach
einigen Wiederholungen (da einige absichtlich nicht ganz leichte Stimm-
Fortschritte vorkamen) von den Kindern übermschend schnell aufgefaßt
und wiedergegeben. Auch die Rhythmik des Tonsatses, die natürlich nur
einfach sein darf, wird beim Singen nach der Maschine sozusagen in Um-
rissen wiedergegeben, muß dann aber, wie der Vortragende näher ausgefäfait,
im wirklichen Notenbilde dargestellt und hiemach «nggnd aufgearbeitet
werden. Auch hier, wie überhaupt in der ganzen Methode, ist leitendes
Prinzip: lebendige Mitarbeit der Schüler. Bezüglich des mehrstimmigen
Singens hat die Maschine den großen Vorzug, jede Akkmrdbildimg und jeden
Akkordwechsel, ohne daß sie aufgeschrieben werden, auf einer und der-
selben Stelle fortwährend neu entstehen zu sehen, so daß es einei' ganüten
großen Schülerklasse ohne weiteres möglich ist, einen Tonsatz — zunächst
in groben Zügen — vohi einer einzigen Stelle der Tafel j^zuksen. Freilich
muß der Lehrer mit der Harmonie, i^enigstens mit ihren Grundbegrifics«
vertraut sein, ebenso mit Melodie-Führung. Aber das ist kein Nachtdl, son.
dem ein .wesentlicher Vorzug der Methode.
Auf die allerdings sehr wichtige, psychologisch besonders intercssame
Frage, inwieweit das Prinzip der Bewegung das in der Mutrhiiif zum
Ausdruck kommt, gegenüber dem Absingen starrer, feststehender Noten-
komplexe pädagogisch zu bevorzugen ist,. — was der Herr Vortragende betonte
— ging Redner absichtlich nicht ein, hob dagegen hervor, dal das
gebräuchliche Noten-System, dessen Anwendung auf Schulen für Gciinp
Übungen von der Behörde vorgeschrieben sei, in der Maschine eine sehr
zweckmässige Berücksichtigung fände. Sehr wesentlich erschien ihm anch
in der Anordnung des Lehrgangs die streng durchgeführte Tendenz; dem
ästhetischen Element Rechnung zu tragen, wie er überhaupt zum Schluß anf
die vielen feinen Andeutungen des Herrn Vortragenden hinzuweisen sich er*
laubte, deren Ausbau für den Gesangsunterricht auf Schulen sehr förderlich
erschiene.
Herr Fischer: Die Erfahrung, daß ein Ausländer die Erfolge iigeod
eines Unterrichtsfaches bei uns ungenügend findet, von der der Herr Vor
tragende gesprochen, scheint uns jetzt häufiger beschert werden zu foDeB*
Wenigstens hat erst jüngst ein amerikanischer Geograph, der den deutschen
Schulunterricht in Erdkunde kennen gelernt hatte, sogar in Sachsen, «o er
S^9im^i^erickte.
US
ativ mm mebtefi gepflegt wird, eine überraschende Unkenntnis über fremde
iex ab Resultat erklärt.
Nach einigen Bemerkungen des Herrn Vortragenden wird die weitere
ktissioti vertagt, nachdem Herr Cusinde die Anwesenden aufgefordert
atte^ sich von seiner Methode im Gesangsunterrichte durch persönlichen Be-
sucli seiaef Schule (Berlin W., Mohrenstr. 41) überzeugen zu woUen.
Schluß der Sitzung 10 Uhr.
Sitzung vom 20. März 1903.
Beginn 8«* Uhr.
Vorsitzender : Herr K e m s i e s.
Schriftführer : Herr H i r s c h 1 a f f «
Der Vorsitiende eröffnet die Sitzung, indem er die erschienenen Gäste
iritlkommen heißt und von der erfolgten Aufnahme des Herrn Rektors
OS IQ de« Berlin^ Mohrenstr. 41, in den Verein MitteUung macht. £s
folgt die FortAetxung der Diskussion über den am 16. I. a- c. gehaitenen
iVoFtrmg des Herrn Döring: ,,Üher sittliche Erziehung und
loralunter riebt/'
Diskussion:
Her? Dörimg rekapituliert zunächst in größter Kürze den Ge-
dankengang seines Vortrags. Um die Möglichkeit eines wirksamen mensch-
bch-natüilichen Moral Unterrichts sowie der sittlichen Erziehung überhaupt
ti,achziiweisen, habe er zunächst den wesentlichen Inhalt der sittlichen For-
lemng systematisch darstellen müssen, um sodann die der Erziehung für
Zweck zur Verfügung stehenden Hilfsmittel aufzuweisen. Dieselben
unter die beiden grossen Gruppen Gewöhnung {Mog) und Unterricht
• (jU/vfX Vorau&setEung sei eine gewisse Normalitat der fomg.
Herr K e m s i e s rekapitulien sodann den Verlauf der früheren Dis-
ilnssion^ Indem er den Standpunkt der eimehien Redner in kurzen Worten
r&miert.
Herr Hirscblaff; Er stehe mit dem Vortragenden prinzipiell auf
^dttn Sokra tischen Standpunkte, wonach die Tugend 1 ehrbar sei; die
' vdxislamttsche Auffassung des Herrn Raub mache nach seiner Über-
teugimg |ede Ethik als Wissenschaft illusorisch. Dennoch habe er einige
Bedenken gegen die Einführung des vom Vortragenden skizzierten Moral -
oateiriehtes, die sich in der Hauptsache aus zwei Gesichtspunkten her*
kielifi. Zunächst scheine es ihm aus pädagogisch-psychologischen Gründen
VBKndgticb, auf dem Wege eines Moralunterrichtes bei ll»14jährigeii
lodern die wahre sittiichc Bitdung zu fördern. Denn zur wahren ethischen
^^^ätt^g gehöre doch wohl nicht die Beherrschung eines theoretischen
Mottl KMcchismus, sondern vielmehr die siithcbe Einsicht in die Motive
^nkl Folgen unseres Handelns und vor allem der sittliche Wille, der
wBlt mm Guten, wie Kant sagt^ der uns veranlaßt, unter allen möglichen
96 SiUungsberickte,
I^Undlungsweisen diejenige zu wählen, die dem ethischen Ideal entspricht.
£s sei zu bezweifeln, daß diese beiden Eigenschaften vor dem 15. Lebens-
jahre entwickeh werden könnten, zumal sie ja auch beim Erwachsenen
noch nicht allzu häufig in die Erscheinung traten. Und ob der propädeutische
ethische Unterricht, den der Herr Vortragende im Sinne hatte, dazu bei-
tragen würde, diese notwendigsten Requisiten des ethischen Lebens zu
fördern, sei gewiß auch nicht ohne weiteres anzunehmen, da erfahrungs-
gemäß in einem überwiegenden Prozentsatze der Fälle das Interesse für
die in der Schule gelehrten Gegenstände im späteren Leben erkalte und
nicht selten, vielleicht infolge der Art der Behandlung dieser Gegenstände
in der Schule, sich sogar in eine ausgesprochene Abneigung unkehre.
Es sei daher vielleicht pädagogisch richtiger, den Sinn der Kinder für
das Ethische mehr durch das Vorbild sich entwickeln zu lassen, das
Lehrer und Eltern unaufhörlich und bei jeder Gelegenheit den Kindern
praktisch vor Augen führen könnten und sollten. Wenn erst das gesamte
Leben in der Familie und in der Sdhule von ethischem Geiste erfüUt
und durchdrungen wäre, dann werden die Bedingungen für die ethische
Entwicklung der Kinder weit v-oUkommener gegeben sein, ab durch einen
besonderen Moralunterricht. Aber noch ein zweiter Gesichtspunkt spräche
gegen die Einführung des Do ring sehen Morahmterrichtes : das sei die
theoretische Schwierigkeit der wissenschaftlichen Ethik, sich über die Sank-
tion des Sittlichen zu einigen. Wenn auch Redner selbst durchaus auf
dem cudimonistischen Standpunkte stehe, den Herr Döring in seinem
Handbuohe der menschlich-natüriichen Sittenlehre so ubezzeugend cnt.
wiokeh hat. so sehe er doch keine Möglichkeit, zur Zeit eine mlfgemeine
Einigung über die Grundlegung der Ethik herbeiiufnhren. Und solange
dse hetexonome Sanktion des Ethischen der autonomen gleichberechtigt
^^r^nuberstehe, solange die Utilitaristen. Evohitionisten. Eudämonisten n. a.
n^chr ihrxr eig^enc AuftJissimg für die allein berechtigte halten, so lange sei an
die Emfuhnii^ eines fruchtbringenden Morahmterrichtes bei Kindern nicht
lu denken. Eine klajüische Illustration lu der Verwimmg, die nodi heatigen-
tA^ auf dem Gebiete der thecvretischen Eduk herrsche, biete die Ge-
schichte des Begriffes des Egoismus. Während die strei^ge und wissen-
$oK4tthoh ebenso >ik:e rrak:i$oh allein r^Iässige Definition des ^[oismns
rme Handtun^weisie charakterisiere, die einem anderen Schaden bringt
isSri cm« änderten Nu;»n vernachlässigt, um sich seftst VortetI zu vcr-
ikcSattVn. >«r7\ie uv. l eben w:e m der Wr^sM^nschift fälschlicherweise fast allge-
w«'*.n *^:c HA!Hitv.:xj: ai* egv^i^^.soh bezeichnet, die wir mit der Absicht aus-
ttth?v:\. wi\* *r'N« ju nuirrn, auch >*^-jj cas Moraect der Schädigung oder der
vri^ww«*'« Kv\'.cixu\c <'»«c* anderra KvKiele. Das führe natürlicfa an den
^!\<b«t^» Mt^x-efsundnidtsM^n und :u e:ner IVkn^ditie^ong mancher echt
ethwu^hett Uavsi?tt:vj^fn» x%w deaen :!^c>. auch der Wvtragende nicht ganz
ttv* jtrNÄtt^^ hawe Anjjrswhi* Ä^cSer Tatsachen, dereii Bciqriele leicht
(t'Nauix ^^'A^<'n k\^u)^ten. >rt e$ sksh «vshl kaum deckhir. über die Gnind>
lo^uivi^ i-j»v<v* rthwhe^i Vwtrxv.chtx** Nm K:>ie^m eiae Einigung an er-
»v*„MV tV? Txs^a. N'^^t^c. det a fx^tX-h ^S^we-lNee Sc^viexxgkeiicn unter-
^K^ii*'. *(i"^i »Hsi^M^^iw :u cn\ei o\jir«v*, ».^pcisc^ivj^ «iMser Fragen eher bc-
Sittungsi>€rkhk,
97
id befähigt^ als er eine eigene Weltanschauung besitie. Aus allen
gründen cTschicne ihm die Einführung eines Moralunterrichtes bei
Kmdcm vor dem 15, Lebensjahre umwcckmäßig; für Erwachsene, specicU
^r Lehrer und Eltcnip würde er freilich einem Moral unterrichte dankbar
ad freudigst lugmnmcn.
Herr Döring wandte sich zunächst gegen die Annahme^ daß seine
Theorie au&scMicßHch iatellektualisiisch sei. Er faßte sodann seine Er-
widerung auf eine Reihe außerdem geltend gewiachter Bedenken in der
Ausführung zusammen, daß man sich hinsichüich der Einführung des Moral-
cimerrichtK in einer Zwangslage befinde. Es sei eine Frage» die in kürzester
Frist aktuell und brennend werden müsse und die daher schon jetzt eine
K^jung durch gemeinsame Arbeit gebieterisch fordere.
Herr Rauh: Ich bestreite die drei Grundvoraussetzungen des Re-
f^-enten und behaupte; 1) di& Tugend ist nicht lehrbar, 2) es gibt keine
allgemein anerkannte Sittlichkeit, 3) es kann kein aUgemeingiikig beweis-
bares System der Sittlichkeit geben.
Der erste Punkt ist bestritten, aber nicht widerlegt worden. Ich
füge den Bemerkungen der vorigen Diskussion eine Frage MnäU: Wodurch
werden unsere Taten veranlaßt? Durch verständige Überlegungen, oder
durch unsere Triebe, Neigungen^ Instinkte? Wer sich ehrlich prüft, wird
TU dem Resultate kommen: Das eigentttcbe agens sind die Instinkte^ der
ICampf dej Motive ist nichts als ein Verse hie ierungs versuch vor uns selbst,
Nietzsche nennt diese Motive die V^ordergründe und weist uns an,
ach den Hintergründen zu suchen, wenn wir eine Tat verstehen wollen.
>iese Hintergründe aber sind immer utisere Instinkte; und diese sind durch
'Verstandeserwägungen unbelehrbar, sie sind vielmehr nur durch andere
Instinkte Diederzuringen. Daraus ergibt sich, daß Tugend nicht lehrbar
ist Bezeichnend dafür ist auch der große Mangel an Selbsterkenntnis
slbst bei Leuten, die sich viel beobachten. Man beurteilt sich nämlich
immer nach seinen Motiven; und weil diese gar nicht das Ent^
pchddende sind, beurteilt man sich falsch.
ad 2 und 3 verweise icii auf die Ausführungen der vorigen Diskussion.
P-Ich füge noch einen vierten Pimkt hin^u: Ich halte den vorgeschlagenen
Moral Unterricht aus pädagogischen Gründen für unannehmbar. Kinder ver^
m<jgen solchem Unterricht nicht lu folg^i^ weil er über ihr Auffassungs-
irermögen hinausgeht. Ich habe das in einer ersten Klasse einer höheren
Töchterschule erprobt. Es ist unendlich schwer, Begriffe wie „sittlhch",
„Sittltchkeit", „Sitte'* einigermaßen zum Verständnis zu bringen, Hai solch
Unterricht einen Erfolg, so beruht dieser sicher nicht auf der abstrakten
Auseinandersetzung, sondern auf dem Einfluß dw Persönlichkeit des Lehrers.
Der Wille des Kindes wird wesentlich beeinflußt nur durch Persönlichkeiten.
D^balb ist die sittliche Erziehung vor allem Aufgabe der Eltern. Die
Schule kann sie diesen gar nicht abnehmen. In geringem Grade kann
sie helfend eingreifen durch die Persönlichkeit der Lehrer und durch Per-
sonljchkeiten, die der Unterricht vor der Phantasie der Kinder so er<
stehen läSt, daß sie im Innern davon ergriffen werden. Deshalb ist gerade
ZdUdUin fflr pidtgogisch^ Psychologie, P&thologi« iind Hygiene. 7
98 Sittungjberickie.
vor abstraktem Moralunterricht lu warnen, und statt dessen auf den deutschen
Unterricht, die Geschichte und, wenn er dementsprechend erteilt wird,
auch auf den Religionsunterricht zu verweisen.
Bildung wird nicht durch Addition gewonnen« Man sollte deshalb
nicht auf neue Fächer sinnen, in der Meinung, dadurch den Bildungs-
umfang zu erweitem. Man sollte lieber auf Vereinfachung des Lehrplanes
sinnen und darauf achten, daß die werdende Persönlichkeit des Kindes
diu'ch imponierende Persönlichkeiten zur Entfaltung komme.
Herr Fischer glaubt als Schulpraktiker ebenfalls den Döring-
schen Moralunterricht ablehnen zu müssen. Wenn, wie wir gehört hätten
(Rauh), die Schülerinnen der ersten Klasse einer Mädchenschule für ihn
noch nicht reif seien, so gelte das auch noch von Primanern, wie jeder
Aufsatz allgemein moralischen Inhalts zeigte. Der Vortragende habe in
der Geringwertigkeit des Katechmnenunterrichts der Konfessionen ein Ar-*
giunent für sich gefunden, es sei dies, die Geringwertigkeit zugegd>eii»
aber gerade eins dagegen, dann wäre ja bewiesen, daß ein Moralunterricht
innerhalb eines Kreises, der eine gemeinsame Moral anerkenne, einer Koi^
fession oder einer Religion, so wertvoll er den Anhängern bei seiner Be-
gründung erschienen sei, doch ein verfehltes Mittel sei Ohne die Aosf&h»
nmgen der anderen Herren wiederholen zu wollen, die er im: allgemeinen
anerkennen müsse, wolle er nur darauf noch hinweisen, daß auch hier wieder
von der Schule nidit Erfüllbares verlangt, während die wahre Jnstanz für
die sittliche Erziehung, das Elternhaus, zurückgestellt werde. £s sei aber
für ihn, um ein Wort Paul de Lagarde» zu gebrauchen, „die
taktische Einheit im Kampfe gegen die Sünde nidht das Individuum, sondern
die Familie".
In seinem Schlußwort wies der Vortragende zunächst gegenüber den
Einwänden des Herrn Rauh nach, daß dieselben sämtlich Zeugnis far
die Dringlichkeit der von ihm vertretenen Sache ablegten und in diesem
Sinne von ihm nur mit Genugtuung begrüßt werden könnten. Gegenüber
dem Wunsche des Vorsitzenden, die Diskussion besonders auf die Frage
der Lehrbarkeit der Tugend zu richten, wies er nach, daß diese hinsichtlich
einer Darlegung der sittlichen Forderung in systematischer Anordnung oh
zweifelhaft vorhanden sei, aber auch hinsichtlich der intellektualistiscbeB
Beweggründe z\mi Sittlichen nicht wohl bestritten werden könne. Gegen-
über der Forderung, daß die Vorstellung der sittlichen Vorschrift, uai
wirksam zu sein, von einem positiven Gefühlston begleitet sein müss^
wies er nach, daß diese Forderung durch den Nachweis realisiert werde,
daß das Gute das dem Handelnden selbst Heilsame sei.
Als zweiter Punkt der Tagesordnung folgte nunmehr die Fortsetmog
der Diskussion über den am 18. Februar a. c gehaltenen Vortrag de»
Herrn Gusinde: „Neue Versuche und Hilfsmittel im Ge-
sa n g s u n t e r r i c h t.'*
Diskussion:
Herr Gusinde stellte folgende Thesen ziu: Debatte, die im
von ihm näher begründet und erläuten wurden:
^tmmgibtridtU.
9Q
1* Die Volks- und höheren Schulen haben die Pflicht^ ihre Schüler
^tmi selbsiändigcn Treffen der Noien in bringen, weil damit einerseits die
Fähigkeit, Intervalle scharf abzumessen, entwickelt und das Gehör in spe-
lifischer Form gebildet, anderseits aber auch die gesamte musikalische
Bildutig unserer Jugend wirksam gefördert wird.
2. Diese Treffiibungen haben sich anfänglich lediglich auf die Ge-
winnung und Reproduktion von TcmvorsteUungen zu beziehen; später ist je-
doch auch zu Regeln über das Einschieben von Hilfstönen fortzuschreiten.
3. Besonders wichtig sind Treff Übungen in Akkorden als den Elementen
der Harmonie, weil im Akkorde die einzelnen Töne teilweise abweichende
Qualitäten hinsichtlich ihrer Klangwirkung aufweisea und diese Treffübungen
die Reinheit des Gesanges wesentlich fördern,
4. Die Notation eines Gesangstückes hat möghchst in entwickelnder
Webe 2u erfolgen, weil das Entstehende, Werdende die Schüler in hohem
Grade interessiert^ zur Betätigung Anlaß gibt und eine tiefere Einsiebt in
den Bau eines Gesangstückes und in die Gesetze der Harmonik und Fonnen-
lehre gewährt.
5. Das Zerstückeln von Melodien ist zu verwerfen, denn es behindert
das musikahscbe Denken imd schwächt die ästhetische Wirkung der Melo-
die ab.
6. Die Darstellimg von Intervallen mittels beweglicher Noten seitens der
Schüler ist erwünscht, weil dadurch die intcrvallmäßige Unterscheidung
von Ton Vorstellungen außerordentlich gefördert wird.
Herr Fischer glaubt die Zweckmäßigkeit der Treff Übungen am
Anfang des Gesangsunterrichis als den besten hierüber vorhandenen Tradi-
tionen entsprechend, zugeben zu können. Er fragt femer an, ob er recht ver-
standen habe, wenn an dieser Daistelluag der Intervalle, Akkorde, Tonarten
I etc. hier deren Bezeichnung nach ihrem Erklingen gemeint sei. Wenn das der
I Fall sei, glaube er, das könne leicht zu weit und vom eigentlichen Gegen-
I stand abführen. Ihm sei das gesungene Intervall das Dargestellte. Gegenüber
^^^isr Gesamtheit der Bestrebungen des Herrn Vortragenden möchte er zum
^Htchlusse noch folgendes bemerken;
^^ Wir haben hier das Beispiel einer gdjxz außerordentlichen Förderung der
Kinder auf einem Untern chtsgebiete vor uns, verursacht durch die Befähigung
und Hingabe des Vortragenden an seine Sache. Aber es dürfte vielleicht
nicht richtig sein — und so könnten sich beide heutigen Themata lu einem
schließen — nun auch hier wieder die Forderung gerade dieses Lehrbetriebes
für Musik zu erheben. Denn, was der Leistungsfähigkeit eines einzelnen
hervorragenden Lehrers möglich sei, das sei nicht die Norm für den, Durch-
sehniiT. Daß dies verkannt werde, sei einer der häufigsten Fehler unserer
modernen Pädagogik.
Herr Marbitz; Herr Gusinde hat die Frage aufgeworfen: „Haben
die Volks- und höheren Schulen die Pflicht, die Kinder zum selbständigen
Treffen nach Noten zu führen?*' Er meinte, diese Frage sei lücht ohne
weiteres zu bejahen, da eine ministerielle Verfügung, welche das Notensingen
vorschreibt^ bis jetzt weder für die Volks- noch für die Ihoheren Schulen
.«ßustiere. Demgegenüber möchte ich Herrn Rektor Gusinde darauf auf-
7'
100 Sämngsberichte.
merksam machen, daß eine ministerielle Verordnimg, die das Notensingen
fordert, für unsere Mittelschulen vorhanden ist tmd zwar in den Falkschen
AUg. Best, vom 15. Okt. 1872. Der Unterrichtsstoff ist genau spenali-
siert und auf die einzelnen Klassen verteilt. Die 6. und .6. Klasse singen
nach Ziffemoten, die vier obieren Klassen nach der eigentlichen Note
mit der C-dur-Tonart beginnend und zu G-, F-, D-, A-, B-« £s-dur und den
gebräuchlichsten Molltonarten weiter fortschreitend.
Außerdem beteiligten sich an der Diskussion die Herren Kemsies,
Rauh, Leuchter in wiederholten, kQneren Ausführungen.
Herr G u s i n d e dankt in seinem Schlußworte der Versammlung für die
freundliche Aufnahme seiner Bestrebungen und für die mannigfachen An-
regungen, die er aus der Diskussion gewcrnnjen habe. Er bemerkt Herrn
M a r b i t z gegenüber, dass eine für alle Schulen verbindliche ministerielle
Vorschrift zur Zeit jedenfalls nicht vorhanden sei. Er machte dabei besonders
aufmerksam darauf, daß er im Gegensatze zum Gebrauche der Ziffer bei
der Volks- und Mittelschule bereits vom 2. Schuljahre an das Singen nach
Noten fordere.
Schluß der Sitzung lO^o Uhr.
Berichte und Besprechun^nu
Paedologisch Jaarboek. Onder redactie van Prof. Dr.
M. C.Schuyten. Sde en 4de jaargang. 1902 — 1908. Stad
Antwerpen.
Das Jahrbuch ist, abgesehen von den zahlreichen ausfOfailidien Be-
sprechungen, die beinahe die Hälfte des Bandes ausmachen, h»t ansKUiess*
Hch ein Werk des Herausgebers. Es enthalt folgende Arbeiten von Dr.
M. C. Schuyten: 1. Sind die Schulkinder der gotgestellten Antwecper
Bürger muskelkräftiger als die der minder b^^erten BevdQcenmg?
Auf Grund zahlreicher Versuche, deren Ergebnisse in 87 Tabdlen
zusammengestellt sind, kommt der Verfasser zu dem Schlosse, daß im
allgemeinen die wohlhabenden Ehern nicht um vieles kräftigere Kinder haben
als die ärmeren.
2. Muskelkraftveränderungen und VerstandesentwicUang der Schul-
kinder.
In dieser Arbeit lässt der Verfasser nicht weniger als 88 Zahlen-
tafeln für sich sprechen. Das Ergebnis: Es ist kein Zweifd mSglidi:
Die geistig bestbegabten Kinder haben auch die gr&sste Muskelkraft nnd
umgekehrt.
3. Klassenhöhe und Alter der Schuljugend.
Aus dieser Untersuchung scheint zu folgen, dass die bcguierteren
Knaben in grosserer Zahl in der ihrem Alter ents|H«diendea Klaate ver-
bleiben als die ärmeren, während bei den Mädchen das mnfdediite der Fall ist
Bemhi€ und Bupreckuftgm.
101
4. Ein Versuch voD ständiger Kinderanaly&e.
Der Plan für diese Untersuchung war folgender t 1. Authroponictrie,
11. Psycho-Physiologie : Muskelkraft, Gleichgewicht der Bewegungen, Gefühl,
Gesiebt, Gehör» Geruch, Geschmack, Gedächtnis» Gedächtnis- uüd Ein*
bildungskrafc, Sprachvennögen, Reaktionszeit, Ergographie. IIL Besonder-
heiten und Charakter, IV. Ali gemeine Folgerungen,
5. Über Cedächtnisschwai>kungen bei Schulkindern, ^Vorläufige Mit-
tediing,)
Man findet in den Arbeiten d^r verschiedenen Gelehrten die Angabe,
dass das Gedächtnis der Schulkinder mannigfachen Schwankungen unter*
werfen ist. Gewöhnlich hat man das Studium des Gedächtnisses nur in
rweiter Linie betrieben; in der Absicht, die geistige Ermüdung zu messen.
Zwei Fragen wirft der Verfasser auf: 1. Besteht die Veränderlichkeit
des Gedächtnisses wirklich? 2, Welches sind ihre Ursachen?
Die erste Frage bt enischieden zu bejahen. Als Faktoren, welche
die Gedachtnisschwankungen hervorrufen, werden aufgeführt : 1. Ermüdung
infolge geistiger Arbeit, 2, Übung» 3. Rang des aufgenommenen Begriffs,
4. geistiger Entwicklungsgrad, 5. Geschlecht, 6. Jahresieit, 7. wirtschaftliche
Lage, 8. KÖrperbeschaffenheit
Ausserdem finden sich in dem Jahrbuch noch folgende Abhandlungen;
Dr. G, J, Schouter Untersuchung und Schulheleuchtung, und
Dr. J, G ü n I b u r g ! Über d. Zander und das Messen der Skoliose*
Der Verfasser fordert: L Es kann nicht genug Wert auf gute Hahung
der Kinder gelegt werden, um so mehr, als viele Skoliosen erblich sind*
S* Mehr als noch in der Schule ^muss zu Hause darauf gesehen werden,
dass die Kmder an ihrer Grösse entsprechenden Tischen sitzen können»
und dass die Beleuchtung stets eine genügende ist. 3. Da die heute noch
allgemein übliche Schönschrift, obwohl sie den Vorzug der Schnelligkeit
hat, der Gesundheit des Kindes tahl reiche Nachteile bietet, muß sie,
wenigstens in der Entwicklungszeit, durch die Steilschrift ersetzt werden.
4. Es soll ebenso viel mit d^r Linken wie mit der Rechten Hand geschrieben
und gearbeitet werden, 5, Endlich soll man alle Schulkinder zum mindesten
dreiina] im Jahre einer genauen ärztlichen Untersuchung untcrw^erfen.
J« H- Pestalozzis R ec h en m et hode. Historisch kritisch
dargestellt und auf Grund experimenteller Nach-
prüfung für die Unterrichtspraxis erneuert von Dr.
Hermann Walseroann. Hamburg 190 L
Von allen» die Gelegenheit hatten, sich aus eigener Anschauung ein
Uff eil über Pestalozzis Unterrichts weise zu bilden, auch von entschiedenen
Gegnern, wird anerkannt, dass die Leistungen der Schüler im Rechnen
besonders gute, weit über das sonst in jener Zeit eriielte Mass hervorragende
gewesen säid. Die Ursache dieses Erfolges ist offenbar in der eigenarügen
Methode lu suchen, deren sich Pestalozzi bediente. Es liegt daher der Ge*
danke nahe, dass die Vergessenheit, in, welche diese Methode geraten ist,
tinverdiciu isu Das historische Inieresse allein wäre genügender Anlass
102 Berichte und Beipreckungen,
gewesen, sie wieder ans Licht zu ziehen; der Verfasser hat aber auch dai
Verdienst, in Versuchen, die er an Schulkindern machte, die Pestakmisdie
Rechenmethode praktisch erprobt imd auf ihren psychologischen Gebalt
tmtersucht zu haben, imd es ist ihm gelungen, zu zeigen, dass sie in der
Tat auch heute noch in ihrem eigentlichen Kerne, wenn auch nicht %
ihrer ganzen Ausführung, durchaus lebensfähig ist und geeignet, nenet
Leben in den heutigen Rechenunterricht zu bringen.
Der erste Teil der vorliegenden Abhandlung gibt eine historische Dar-
stellung der Pestalozzischen Rechenmethode. Er zeigt, wie der grosse Pä-
dagoge zunächst seinen eigenen S^/^ jährigen Knaben in der hergebrachten
Weise unterrichtete, indem er ihn die ersten Zahlen auswendig lernen
Hess, wie er dabei zu dei* Erkenntnis kam, „was für ein Hindernis zur Kennt-
nis der Wahrheit das Wisseb von Worten ist, mit denen man nicht die
richtigen Begriffe von Sachen verknüpft," wiq er in der Armenanstalt anf
dem Neuhof, femer in Stanz und besonders in fiurgdorf weitere £^
fahrungen sammelte, bis er dann nach langem Suchen den Weg fand, der
ihm zu seinen Erfolgen verhalf.
Pestak>zzi ist nur vom Standpunkte des philosophischen IdealLnmss
zu verstehen. Er sieht ein; dass die Materie des Erkennens kein lobjekdr
Gegebenes, sondern ein vom Subjekt Erzeugtes sei, dass daher die An-
schauungwelt je nach dem Grade individueller Kraftentwicklung einen ganz
verschiedenen Vollkommenheitsgrad (Verwirrtheit, Bestinuntheit, Klarheit,
Deutlichkeit) aufweisen müsse. Es wird ihm klar, dass auch die verwickeltste
Axischauung aus einfachen Grundteilen bestehe; wena man sich über diese
klar geworden sei, so müsse auch das Verwickeltste einfach werden. Darum
unternimmt er zum ersten Male in; der Pädagogik den Versuch, die An-
schauimgsinhalte in ihre Elemente zu zerlegen. Diese bietet er dem kind-
lichen Geiste, damit er sich ihrer durch die Anschauung bemächtige, sie
zusammenlsetze imd sich so seine Erkentniswelt in lückenlosem Fortschritt
selbst aufbaue im Gegen:satz zu der bisherigen Unterrichtsweise» nach
der ein fertiges Ganzes in die Köpfe der Kinder hineinzubringen versucht
wurde. — Und Pestalozzi entdeckt danni die psychologische Wahriicit, dass
es „notwendig in den Eindrücken, die dem Kinde durch den Unterridrt
beigebracht werden müssen, eine Reihenfolge gibt, deren Anfang und
Fortschritt dem Anfange und Fortschritte der zu entwickelnden Kräfte des
Kindes genau Schrin halten soll'*. Die Ausforschtlng dieser ReiheafolgB
ist „der einfache und einzige Weg, jemals zu wahren, unserer Natur und
unseren Bedürfnissen entsprechenden Schul- und UnterrichtsbÜchem zu ge-
langen". Daher die konsequente Durchführung der Übung» reihen, die
einen so wesentlichen Bestandteil der Pestalozzischen Rechenmethode aus-
machen.
Diese beiden Punkte, das Zurückgehen auf die Anschauung und die
Reihenbildung sowie der lückenlose Fortschritt innerhalb der ReiBien machen
aber noch nicht das eigentliche Ceheimnisr der Methode aus; dais besteht
vielmehr in den Übungen mit d en Tabellen, die Pestaknzi eulwüifea
hat, um nicht nur eine Veranschaulichung der Zahlinhalte, srädera vor
j
ßirukte tmd Btspr^ckungen,
103
allftö Bingea cmcn sinnlichen Hintergrund für die Opfita-
t i o Re n mit den Zahlen zu schaffen. Dass er sich damit auf dem
rechten Wege befand^ beweisen seine Erfolge, und beweisen auch die Er-
l^ebnisse der Versuche des Verfassers. Wenn im Etiuelnen gewiss vieles
an der Ausgestaltung dieser Tabellen und der Anweisung, die Pestalozzi zu
ihrem Gebrauche gibt, zu bessern ist, der Gedanke, solche Kunstmittel im
tEchenunt errichte lu verwenden, bat sich durchaus als fruchtbar erwiesen»
Die Ausfiihrin^en über diesen Hauptpunkt nehmen daher in der vor-
genden Abhandlung den breitesten Raum eia
Dem Gebrauche der Tabellen muss aber eine wichtige Arbeit voraus-
gehen: Das erste 2iel des Rechenumerrichtes ist die Gewinnung des
Zahlbegriffes. Bei der Analyse der Anschauungsinhalte war Pesta-
lom zu seinen bekannten drei Gnmdt eilen gelangt : Zahl, Form und Sprache.
Die Zahl haftet also jedem Gegenstande, der Anschauung als wesentliches
Moment an. Aus der Anschauung muss man daher die ersten Zahl-
begriffe schöpfen* Als geeignetste Grundlage daru empfiehlt Pestalozzi be*
wegliche, gleiche und verschiedenartige Gegenstände, wie Erbsen, Siein-
chen, Höiicben u» dgl.
Hierzu bemerkt der Verfasser: ,,Für die Forderung beweglicher und
gleicher Gegenstände wird der Grund nicht ausdrücklich angegeben. Man
kann ihn indes aus dem Gedankengange Pestalozzis mit einiger Sicherheit
entnehmen. Erstlich tritt das Merkmal def Einheit an einer Anschauung
am deutlichsten hervor, wenn sich die Materie derselben als von allen
^anderen Anschauungsmaterie n abgetrennt darstellt, und dies wiederum
wird durch eine räumliche Verlegung der Anschauung sinaÜcb evident.
Aus Einheiten setzt sich aber jede Mehrheit zusammen. Mitbin ist auch
der Grad und die Leichtigkeit der Bewusstheit einer Mehrheit von der Er*
kenntnis des räumiichen Für«sich.seins der Einheiten abhängig. Gibt sich
hingegen die Anschauung als Teil einer Anschauungsmaterie zu erkennen,
so ist die Einheit derselben als sinnenfälliges Faktum noch nicht gegeben;
vielmehr muss ihr durch eine Funktion der Urteilskraft ein künstliches
Für-sich-sein erst verschafft werden. Dasselbe gilt von jeder Mehrheit, die
mit einem Anschautmgsganzen verbunden erscheint. Der' Proiess der Zahl-
Abstraktion ist namentlich auch in solchen Fällen möglich; nur repräsen-
tieren sie weder die einfachste noch die eindringlichste Weise sdnes Ver-
laufs. Man begreift hiernach, weshalb Pestalozzi in seiner letzten Aus*
wähl der für die Zahlabstraktion geeignetsten Gegenstände die an dem
Papier klebenden Bilder und Figuren unberücksichtigt la^st.
Zum andern erfordert jede Zusammenfassung von Einheiten zu einer
Mefarhek auch eine Zusammenfassung der mehrfach gegebenen Anschauungs
materie. Letztere kann aber nur dann ohne Rest erfolgen, wenn die An*
Schauungseinheiten sämtlich nur gleiche Bestandteile aufweisen. Etwaige
\ingleiche Merkmale müssten wieder durch eine Funktion der Uneilskraft
erst ausgeschieden werden. Der Proie^ der Zahlabstraktion würde da-
durch zwar nicht umnöglich gemacht; alteii^ er würde durch dre notwendige
Em^chiebnng einer Urteilsfunktion zweifellos erschwert. Hierin Ji?p der
104 Berichte und Besprechungen,
Grund, weshalb Körperteile von ungleicher Gestalt (Finger, Zehen), Blätter
>-on \uigleicher Grösse, Kugeln von ungleichei' Farbe und dergleichen eine
geeignete Grundlage für die erste Zahlabstraktionea nicht abgeben kdnoea
Im besonderen lernt man daraus verstehen, dass Pestalozzi aus der Grappe
der ausgewählten Gegenstände die früher benützten Buchstabauäfdcbai
ausscheidet; die Verschiedenheit der Schriftzüge und des lautgehahes lie»
sie für die Zusammenfassung der Anschauungseinheiten in hohem MasK
ungeeignet erscheinen.
Der Prozess der Aussonderung begrifflicher Zahlinhalte aus den As-
schauungsmaterien ist kein anderer wie der jeder andern Begriffsbikiimi^
Alles, was nicht den Inhalt des' Begriffs ausmacht, muss im BewusstMin
unterdrückt, dieser Inhalt selbst klar hervorgehoben und isoliert werden.
Solches ist aber nicht durch eine Anschauungsmaterie zu bewerkstelligen;
denn in dieser behaupten sich alle andern Momente mindestens mit der-
selben Klarheit wie das der Zahl Wird hingegen ein bestinimter 7th1inhth
an einer Vielheit gänzlich verschiedener Anschauungsmaterien bewusst, lo
hemmen sich die gegensätzlichen Momente derselben und nur das gleicbe
Moment der Zahl wird geklärt, ausgeschieden und zur Verknüpfung mit
einer Sprachform bereitgestellt**.
Das Zählen als Mittel zur Erlangung neuer Zahlenerkenntnisse yer-
wirft Pestalozzi durchaus: er fordert vielmehr, daß dem Kinde die Ein-
heiten einer Mehrheit immer gleichzeitig vor Augen gestellt werden, damit
es diese Mehrheit recht als Einheit aufzufassen imstande seL Erst nach-
dem so die Begriffe der Eins, der Zwei, der Drei mid so fort bis nr
Zehn gewonnen sind, darf das Zählen hinzukommen, um diese Erkenit-
nisae zu einer lückenlosen Reihe zu ordnen.
Hier setzt nun der Gebrauch der Aiwrhanungstabellen ein.
,.Von der Anschauung zum Begriff und zorfidc nir Anschauungr*
Nachdem aus der Naturanschauung die Begriffe abgengen sind, nuas
die Arbeit mit den Begriffen beginnen. Dafür ist wieder ein Afr
Schauungshintergrund nötig. Dieser muss aber roa gam anderer Be-
schaffenheit sein als die .\nschauungsinaterie. die zur Abttmhierang der
Zahlbegiiffe dienen soOte. Was don den zu voDzidienden Pmess m
wirksamsten unterstützte, grösste Fülle und Manmiigfaltigkcit der Kfaterie,
muss hier gerade vt^mtieden werden, da es sich daran handdt, die paydi-
scbe Tätigkeit auf da» Zahlmoment zu konzentrieren^ was ani besten ifk-
durch geschieht, dass dieses mög)ic4i8l vielseitige Verandenrngen erfibtt^
während alle übrigen Eigenheiten sich gleidi bleiben. Die gröMte Dfiif-
tiglR^ und FinfVrmigkeit der .-\nschamiagsniatcne bedeutet abo für dk
/ahlanschauung die gröbste Zweckmässigken. und diese Bedingiigen werden
in denkbar voUbmunenster Weise von den PrstalmulsrJim T^MDcn erfaDt
IVstaKo« selbst schreibt darüber: ..Die KuntoniUel bestriien in diti
.\nscKauungstabeOen der ZAhlenv^rhähnisse. Die eiste eodiilt eiae sehn-
favhe NebeiwiiunvWrttellun^ der ^rhnf^chen .\bmhncen der Zahl Zdm
tt :^TKhen. >^wi denen ie\ler ab eine Einhett aogeseben oad benutzt wird.
ßfHekii und Besprechungen*
105
Die zweite Anschauungstabclle cnchält in gleicher Ordnung unter und
D^böldaaader siehende Quadrate, dereo Flächeninhalt zehnfach ungleich
so abfeteUt ist, dass die Brechung der Einheiten in allen Abteilungen der
ZaU Zehn als bestimmte Flächenteile des Quadrats als Hälften, Drittel,
\^iend u. s. w. desselben dem Kinde anschaulich wird.
In der dritten Tabelle wird jede von den zehnfachen Abteilungen
<te^ Quadrats — das heisat jedes Halbcj jedes Drittel ii. s, w, wieder zehn-
f^oli abgeteilt."
Was zunächst die Einheitstabelle angeht, so ist wahrscheinlich, d^s
P«"Stabiii anfänglich im Sinne gehabt hatte, sie in Punlcten auszuführen,
»*^>ci wohi erst unter fremdem £influss dazu kam. Striche lu verwenden,
*-*ic ursprüngliche Gestalt dürfte indessen wieder hermstellen sein, da
^t^jclie wegen ihrer rechteckigen Form eine ungleich kompliziertere An-
*<^liauungsmaterie sind als kreisförmige „Punkte'*, und da sie sich ausser-
»«rn rwedcmä^sig nur in einer Reihe anordfien lassen. In der Tat hat
**ch bei den Experimenten des Verfassers herausgestellt, dass zweireihige
'^Unktgruppcn im Vergleich mit den einreihigen Strichgruppen die bei
^eitern günstigere Materie für die Zahlanschauung bilden. Wenn man diese
Verinderung annimmt, so lassen sich folgende wichtige grundlegende
«Merkenntnisse aus der Tabelle, wie aus einem offenen Buche, leich»^
uad Sicher ablesen;
Erstens : Die Zeriegung der Grundzahlen, z. B. 10 = 9 + 1, 8 + 2,
7+3, # + 4, 5 + 5. „Wie ein Blick auf die Zebnergnippen lehn* ergibt
jede Verlegung derselben Teile, die als solche die bekannten Inhalte der
Tabelle ausmachen. Das Nämliche gilt von der Zerlegung jeder andern
Gnmdzaht Die Übung bietet folglich dem Anschauungs vermögen die denk-
bar geringste Schwierigkeit^ und wiederum leuchtet die innere Wahrheit
der bezugtichen Erkenntnisse so klar hervor wie nur möglieh. Es steht
tu erwarten^ dass die Einbildungskraft und das Gedächtnis sich schnell
und dauernd der Funktion des Zerlegens bemächtigen und hei allem fol-
genden Addieren und Subtrahieren mit Verwandlung leicht und sicher voll-
ziehen werden-*'
Zweitens: Die Erweiterung und der systematische Aufbau der Zahlen >
reihe. j^Die Tabelle bietet hierfür' in der untersten Reihe die Anschauungs-
tnaterie bb 100. Die erste volle Zehnerg^ruppe kann als ..Zehner*', jeder
Teil der folgenden Gruppe als „Einer** aufgefasst, daran die Belehrung
ober den verschiedenen Stellenwert der Ziffern geschlossen und in rw'eck-
mäüngen Abschnitten bis 100 fortgefahren werden/'
Drittens; Die Ztisammenlegung und Trennung der Zehner und Einer,
Viertens; Die Addition und Subtraktion der Grundcahlen,
Fiänftens: Die Addirion und Subtraktion rweistelliger Zahlen.
Secbstens' Die Bildung der Multiplikationsreihen.
Siebentens: Die Bildung der Divisionsreihen.
Acbtens: Die Multiplikation mit Ergäniyngen.
Neuntens: Die Division mit Resten.
ZiehDtens : Zahlverhältntsse.
105 .BerichU und Besprechungen,
„Zusammenfassend lässt sich folgendes sa^^en: Die Zahlansduuung
ist zur Gewiontmg der grundlegenden! Zahlerkenntnisse unentbehrlich. Unter
der als zutreffend bewiesenen Voraussetzung, dass sie im strengen SinD^
noch über 40 hinaus möglich ist ■ und der wahrscheinlich zutreffaiden kßr
nähme, dass sie mit Hilfe der Succession und des Gedächtnisses anf die
ganze Zahlreihe bis 100 ausgedehnt werden kann, sind an einer zweckmässig
gestalteten Anschauungsmaterie sämtliche, die Zahlinhalte bis 100 betreC'
fenden Gesetzmässigkeiten sicher zu erkeimen- und diese Erkenntnisse duct^
umfassende Übungen zu befestigen und geläufig zu machen.*'
Die Bruchtabellen erschienen dem Verfasser in der vorliegendesi.
Form verschiedener Verbessenmgen bedürftig, insbesondere waren eine
leichtere und sichere Erkennbarkeit auf dem Wege des simultanen Am«-
schauens, eine Beschränkung auf eine möglichst geringe, dabei hinreicheod
mannigfaltige Zahl von Inhalten, eine genügende Grösse des Raumbildes der
einzelnen Inhalte, und endlich grössere Übersichtlichkeit des Gesantfira—
haltes zu erstreben. Der Verfasser nahm daher mehrere Änderungen vnr,
über die er ausführlich Rechenschaft ablegt, vor allem hob er die Be-
denken gegen den übergrossen Umfang der Pestaloczischen Übungen durcb
eine Reduktion der 200 Inhalte auf 92.
Die Reihe der Übungen mit dieser Tabelle ist folgende:
Erste übimg: Die Bestimmung der Teilung der Quadrate.
Zweite Übung : Die Bestimmung der Bruchteile ' im allgemeinen.
Dritte Übung: Die Bestinunung der Bruchteile eines Ganzen.
Vierte Übung: Die Addition und Subtraktion von Bmchteüen etxa-
lacher Teilunl^en.
Fünfte Übung: Die Multiplikation und Division von Bruchteilen eiSB>'
facher Teilungen.
Sechste Übung: Die Bestimmung der Bruchteile mehrfacher Teit'
ungen: i. B.: 1—|— 1 u. s. t ^^y» S^J» u. s. t
.,Für diese ÜbuRg> deren umfassende Erledigung dem Verfasser fü^
die ganze folgende Bruchrechnung von besonderer Wichtigkeit enchie<^
erwies sich die Gliederung der Teilungen als ein höchst förderliches Momeca^
Die Bestimmungen verliefen in der Tjtt nicht als Arbeit mit Zähler uza^
Nenner« Kindern als Anschauungsübungen im streqgisten Sinne des Worte* ■
Daraus resuhiene eine Leichtigkeit und Sicherheit der lUi«ritnmwng*ptfi^<M^mg,
welche auf alles so^nannte Gleichnamigmachen so wenig ohne Einfloß
bleiben konnte« wie auf sämtliche an Brüchen zu voHzieiienden Molti'
plikatk>n$- und Di\ iskmsübxmgen.**
Siebente Übung: Arithmetische Bruchvergleichu]^.
Diese Übung soU letgexu diss die Grosse cums Bradies mft der An-
«ahl der Bruchteile «u% mit der Te;Iung$iahl des Ganicn aboinunt und
unxgekehTt.
Achte Übui^jr: Die Additioa und Subtrakcmi v^isdaedener TeOnngen-
Neunte Übung; iK<ometri$che Bruch\^efgi««chung.
•Vhme i'buns*' r^ie MuUipUkaüs^n und Divisico der Brachteile xw«-
und n>ehitacber Teitutvpm
Sirii^kU und Bespf^ekungm^
Elfte Übung: Die MulttpUkation der Ganzen mit ßrucliteileii wid die
Division der Ganzen durch Bnichteile.
Zi§x>ifte Übung: Di^ Multiplikation der Bnichceile mit Bruchteilen und
dio Dt¥]sioQ der Bruchteile durch Bruchteile«
Durch einen halbjährigen Gebrauch der Pestalozzi sehen Bruchtabellen
ist der \erfasser hinsichtlich der Brauchbarkeit derselben 2u folgendem
Urteü gelangt: ,,Der wesentliche Inhalt der Bruchtabelknp nämlich das
yr^Tk Pestalozzi zur einheitliclien Bruchversinnlichung vorgeschlagene Qua^
«Iratf ist in der Tat für diesen Zweck eia höchst einfaches imd durchaus'
brauchbares HilfsmitteL Wegen der in ihm ausschliesslich enthaltenen
Linien ' und Flächenmaterie verdient es vor allen körperlichen Hilfsmitteln
dieser An unbedingt den Vorzug. Allerdings muss tier Gewinnung der
Bruchzahi erkennen isse an der Hand der quadratischen Versinnlich^
un^en die Abstraktion der Bnichzahl begriffe vorausgehen; jedoch bieten
Kuostmittel ün eigentiidien Sinne dafür überhaupt keine geeignete Gnmd-
^^^] %ielmehr muss das Begreifen hier^ wie überall, an Materien der
Katuf^ischauung vollzogen werden/'
Zum Schlüsse möge noch folgende Ansiassung des Verfassers über
das an seinen Schülern beobachtete Interesse Platz finden: „Die an tmd
für sieb völlig reiilose Materie irgendwie geteilter Quadrate wird den
SchüJem m hohem Grade interessant» sobald mit der Bestimmung derselben
*htrch Bruchzahl begriffe hegonnca wird, und das Interesse bleibt gespannt,
sö liQge Bruchzahlerkenntnisse aus ihr geschöpft und die angemessenen
l'bmjgcii verwandt werden. Die klaro 'Einsicht erweist sich hier, wie überall,
*^s die beste Nährmutter des Inteiiesses» das die blosse Arbeit mit Ziffern
^Ä^'h unverstandenen Regeln ertötet, wie jede Unfähigkeit gegenüber jed*
•^dem Vorwurf zur Betätigung. Indem Pestalozib elementare Bmchzahl-
^buiigca Verstand, Sinn und Urteil fortgesetzt in Anspruch nehmen und
"^i^ch klare Erkenntnis zum sichern Können führen, finden sie, ohne es
^ suchen, das lebhafte, nachhaltige, im Gefühl gehobener Kraft gipfehide
'^tifresae der lernenden Jugend."
''^^rtbold Otto» Tirocinium Cacsarianum, Leipzig,
Scheffer, 1900; 0,90 M,
Dai Büchlein wendet ein Verfahren, das Verfasser für die Lektüre
^^4s ttiid Horaz recht geschickt gehandhabt hat, zum ersten Male auf ein
Pt'Q^werk an, djas erste Buch des gallischen Kriegs, Das Ziel des Vcr-
**^«ers, dass dem lateinlesenden Schüler der Klassiker dasselbe iniellekiuelle
"**<1 ästhetische Vergnügen bereite wie dem Volksgenossen des Autors,
'^^ gewiss aufs innigste zu wünschen und alle Mittel dazu willkommeti.
'^^d »ö leisten die Einftihrutiger^ zu den Dichtem eben das, was im deur^
*^Hcii Unterricht die erläuternde Erzählung leistet^ die man der Lektüre
^^^ Gedichte vorausschickt. Niemand wird behaupten, dass dadurch der
E verkümmert werde; vielmehr kommt gerade das rein ästhetische
IC so schöner zur Geltung. Ganz anders beun ProsaschriftsteUcr,
108 Berichte und Besprechungen.
Wie schwer ist es doch schon im deutschen Unterrichte, die Sprache
als Kimstform dem Schüler nur in etwas zum Verständnis zu bringen.
Dass man dergleichen aber im zweiten Lateinjahre für einen Stoff wie
Cäsars Kriegsberichte erreichen könne, scheint mir auch mit dem vor-
liegenden Hilfsmittel ausgeschlossen. Wohl sind mit grossem Geschick,
manichmal auf Kosten des lateinischen Ausdrucks, sprachliche und sach-
liche Schwierigkeiten — meist auf dem Wege der Analyse — vorwegge-
nommen; aber einmal bleiben noch genug übrig; zweitens und vor allem steDt
sich der schwere Nachteil eiri, dass die Einleitung das Hauptinteresse auf
dieser Altersstufe, das rein sachliche, dem Schriftsteller selbst vorweg ent-
zogen hat, ohne für das ästhetisch-formale wesentliches geleistet zu haben.
£s ist somit kein hinreichende^ Ersatz gewährt für den grossen Zeitverlust,
den die Übersetzung, Wiederholung und Nachübersetzung jener Vorlektfire
verursacht, zumal auch nach des Verfassers Meinung ein gtiter Kommentv
durch sie nicht überflüssig wird.* Man kann ein Freund des „schmerzlosen**
Unterrichts sein, muß aber doch die Euthanasie des langweiligen auf alle
Fälle abwehren; es ist fraglich, ob ein durchschnittlich gebildeter Rdmer
noch in Cäsars Bücher gesehen hätte, wenn er vorher so eingehend von
deren Inhalt unterrichtet war. Insofern aber ist vielleicht der Grundge-
danke des Verfassers auch für die Prosalektüre fruchtbar zu machen, dass
man den Schüler auf der unteren und mittleren Stufe nicht in einen Schrift-
steller mit all seinen Schwierigkeiten hineinfwirft, sondern unten geschickter
Benutzung des Textes durch erleichternde, d. h. teils kürzende, teils er-
weiternde, paraphrasierende Bearbeitungen einführt. Hierzu kann des Ver-
fassers Arbeit in dankenswerter Weise anleiten.
V. Low ins ky.
J. Trüper. Die Anfänge der abnormen Erscheinungen
im kindlichen Seelenleben. Verlag von Oskar
B6nde in Altenburg 1902. (Vortrag, gehalten am
19. September 1901 in Elberfeld auf der 9. Kon-
itreiit der. Anstalten und Schulen für Schwach-
sinnige.)
Der Vortragende wünschte einen größeren Krefs von Pdnonen, die Ober
die Erziehung der Jugend mitzubestimmen haben, zum Studium der ab-
normen Erscheinungen der Kindesseele anzuregen. Schwachsinn ist gkich-
bedeutend mit Urteils- und Intelligenzschwäche. Diese kann in einem Mangri
an Erziehung oder Unterricht oder auch in äußerer sorialer Not begründet
Hegen, sie ist insofern nicht abnorm, kann jedoch krankhaft werden. Aach
unbegabte, geistig zurückgebliebene Kinder sind noch nicht ohne weiteres
abnorme Kinder. Andrerseits sind sehr oft hochbegabte und frflhreife Kinder
als psychopathisch zu bezeichnen. Und endlich kann bei Kindern wie bei Er-
wachsenen neben schweren psychischen Krankheitserscheimmgen ein
vortrefflicher sittlicher Charakter bestehen. Was sind demnach Schwacli-
Btrtchi^ utui Be$pftckungm ,
109
befalugte mit Ät^fallendeo abnormen Erscheinungen? Darüber läßt sich
der Vonragende kider nicht aus; «r meint, die aiif£aUenden Scbwachsitmigefi
«riccJini jeder. Und doch fuhrt er ein Beispiel an, daß ein geiäteskra&ker
KxLAbe bis rum 12. Jahre das Gynrnasiunt besuchte und kunc Zeit darauf von
ilim der Irrenanstalt überwiesen wurde.
Bei wemger aufCallenden Erscheinungen tsi der bedeuten dsle Psychiater
nticlit im Stande, Gesundheit und Krankheit scharf z\x unterscheideo. .,Wenii
liei emcm Kinde Erscheinungen auftreten, die sonst nicht vorhanden waren,
wenii CS nicht mehr lernen kann, wahrend es sonst gut lernte ^ wejm das
G^dichtllis nachläßt, die Schrift schlechter und unsicherer wjrd, wenn es
iK&scht| wo es früher nicht naschte, lügt, wo es früher die Wahrheit sagte,
wenn es in seinem Gefühbleben größere Reizbarkeit leigt, und wenn dann
t^MT allen Dingen auch noch körperliche BegleiterschelDimgen auftreten
oder vorausgehen — Blutarmut, Kopfweh^ Appetitlosigkeit, unruhiger Schlaf,
Aufschreien im Schlaf, träger StuhJ, choreatische und andere inkoordinierte
Bewegungen, Masturbationen u* s, w. — so habeti wir es auf alle Fälle
mit den Anfängen eines krankhaften Seeienzustandes £U tun/'
Die minden^erhgen Eigenschaften des Seeletüebens können nun ent^
wed.er im Laufe des Lebens erworben werden oder aber sie können
a^oh ererbt sein, tm letzten Falle treten sie nicht immer als direkte Be-
l^stMtig oder als eine totale Herabmmderung in Form einer geistigen und
wt auch körpertichen Verkruppelung, also als degenerative Minderwertigkeit,
^ Entartung auf, sondern sie sind oft nur als bloße Anlage vorbandea^
die erst iut Geltung kotnmtj wenn tn dem Ererbten noch Erworbenes' bin*
'^'^tL Erworben wird <iie seelische Minderwertigkeit durch Krankheiten
derlei Arty durch den Genuß von Giften, besonders des Alkohols, durch
•*>>sile Ühelstände und vor allen Dingen durch Übcrforderutigcn, der Nerven-
^^ Geisteskraft in den öffentlichen Schulen und in den FamiUen.
Am Scbiusse seiner Ausfuhrungen fordert der Vortragende auf, seinen
Uttsätzen zuzustimmen» die etwa folgendes besten: Es gibt abnorme Er^
scheimmgen und Zustände im kindlichen Seelenleben pathologischer Natur,
die in der Erziehung einer besondere]] Beachtung und in manchen Fällen auch
aner besonderen Behandlung unter nervenarztUchem Beirate bedürfen. Sie
Icöoaien auftreten als Schwächen wie als Regelwidrigkeiten der Stmies-
empfmdungen, der Denk Vorgänge, des Gefühlslebens, des Wollens und des
Handelns* Ernste Maß^aahmen zur Vermifnderung der ncrvenzerrütleaiien
Ursachen und zur Fürsorge für 4i^ mit psychopathischen Miaderwertigkeitefi
bebafteten Kinder und Jugendlichen sind sowohl ein Gebot christlicher
Nilchstenhebe als ein notwendiger Akt der Selbsterhaltung unseres Volkes,
Es ist darum dringend erwünscht, daB aUe, die über das Wohl, und Wehe
di£r späteren Jugend zu bestimmen haben, sich mehr als bisher demi Studium
der abnormen Kindesseele und ihrer vorbeugenden Fürsorge widmen.
Grünspan.
110 BerichU und Besprechtingeiu
Münch, Wilhelm, Professor der Päldagogik an der Uni-
versität Berlin, Geist des Lehramts. Eine Hode^
getik für Lehrer höherer Schulen. Berlin, 1903. Ver*
la.g Ton Georg Reimer. 9^, 550 S. Preis brosekiert
M. 10.—, gebunden M. 11.—
Das aus 16 Abschnitten, welche alle wichtigeren Gegenstände und
Fragen der Erziehung erörtern imd so eine treffliche lusammenhängrnde
Einführung in die Aufgaben des höheren Lehramts geben, bestehende Werk
wird bestimmt nicht nur allgemeinen Beifall im gesamtoi großen Lehrer-
publikum finden, sondern namentlich auch von Schulamts-Kandidaten vor
und während ihrer Vorbereitungszeit sehr fleißig benutzt werden, ja vielleicht
alle sonst üblichen Kompendien mit der Zeit verdrängen, also eine ähnliche
Stellung einnehmen, wie z. B. der sprichwörtlich gewordene Quaritsch bei
der Vorbereitung zum Referendariatsexamen oder der Schwochow bei der
Rektorprüfung. Während nämlich unsere gangbaren Hilfsbücher über die
Pädagogik an höheren Schulen meist nur schultechnische Fragen zu ihrem
Gegenstande haben, betrachtet Münch, der bereits in zahlreichen, sehr ge-
diegenen einzelnen Schriften seine in hervorragender praktischer imd wissen-
schaftlicher Tätigkeit gesammelten Lehrerfahrungen veröffentlicht hat, in
dem nunmehr vorliegenden Werk die gesamte Pädagogik von weiteren
psychologischen und höheren ethischen Gesichtspimkten aus, ohne übrigens
ein in sich abgeschlossenes pädagogisches System aufzustellen.
Das Buch handelt zunächst vom Charakter des Lehramts, dann weiter
vom Wesen, Charakter, Objekt, den Hauptwegen und Mitteln der Erziehung
im einzelnen, sowie ihrer inneren und äußeren Oxganisation, auch werden
Wesen, Einrichtung, Methode, Technik und Kunst des Unterrichts nebst
Hauptfragen des Fachunterrichts mit in den Bereich der Erörterungen
gezogen, sowie endlich erschöpfende Mitteilungen über das Verhältnis zwischen
Lehrern, Schülern und Kollegen un)tereinander, auch über den Verkehr
mit Ehern imd weiteren Kreisen gegeben.
Ref. wagt als Glanzpunkte der Arbeit vor allen die Abschnitte IV Vom
Objekt der Erziehung, S. 111— 154j( VI Die Mittel der Erziehung im emzelneq
und ihre Verteilung unter die Begriffe: Zucht, Pflege und Lehre,, S. 168—290,
VII Die innere Organisation dei; Erziehux\g, S. 221—261, und hierin die Dar
legungen über Büdung des Willens, Gefühls und Intellekts und IX Wesen des
Unterrichts, S. 318—341 — in diesem letzten Kapitel hauptsächlich die An-
gaben über die psychologischen, antropologischen imd kulturellen Grund*
lagen des Unterrichts — zu bezeichnoi. Sehr beachteniswert erscheinen außer
dem noch u. ä. Abschnitt XI Methode des Unterrichts, S. 364 — 385 und zwai
besonders die Beschreibung der Methode im Unterschied von Technik und
Kunst und Abschnitt XIII Zur Kunst des Unterrichts, vorzugsweise ink Zu«
Zusammenhang mit Technik und Methode.
Wollstein; Karl Löschhom.
B^rkhU ^nd Bespre^kungtn,
ni
rbe,
K.:
Experiment ell-psychojogische Unter.
^uchiäDgen über das Urtöit, Eine Elnleitniig in die
1.0g ik. Leipzig, W. Engel mann. 1901. 103 S. Mk. 2,50,
hx der vorliegenden Arbeit versucht M., den im^emcin schwierigen
Fto%>l€m«ii ^tr Psychologie des Uneils auf experimentellem Wege naher
IM Icommen. In eineir methodologischen Einleitung definien er, wie üblich,
die Urteile als BewuEieinsvorgänge, auf welche die Prädikate richtig
od^ii' falsch eine sinngemäße AnweiKlung finden, und leigt, daß alle Be-
^«iLl^tseinsvorgänge ohne Ausnahme zu Urteilen werden können. Im zweiten
Kmpitel wird der psychologische Tatbestand des Urteils experimentell unter-
üiol^t, um diejenigen inneren Erlebnisse ausfindig £U machen^ die £U einem
od^r mehreren Bewußtseins Vorgängen hmrukommcn müssen, wenn dieselben
dexi. Urteilscharakter aufweisen sollen. Die Experimente beistanden m der
Avrfgabet zwei Gewichte von verschiedener Schwieni der Reihe nach mit
derselben Hand gleich hoch lu heben und sodann das schwerere umzu*
keHxeq; oder einen Stimmgabelton nachzusingen oder -pfeifen; oder von
drei verschieden hellen, grauen Papieren das hellste einige Sekunden lang
m filieren und dergl. mehr. Die Versuche wurden nach verschiederw?n
Richtungen hin variiert, insofern Urteils- Vorstellungen, *Gebärden^ -Worte,
■Satie in den Bereich der Experimente gezogen werden. Die Aussagen
der Versuchspersonen wurden sorgfältig protokolliert und ergaben, daß
^ keinerlei psychologische Bedingungen des Urteils gibt. Die von den
cjniebiöi Versuchspersonen beobachteten Begleiterscheinungen der Urteils-
J^^'rgänge bezogen sich, soweit überhaupt vorhanden, auf mehr oder weniger
^'^levante und inkonstante Erlebnisse (Spannungscmpfindnngen, Saehvor-
^'cllungen, Wort Vorstellungen und Bewußtseinslagen verschiedenster Art),
die f^ den Urteilscharakter der gepriiften Bewußtseins Vorgänge nicht maß-
gebend waren. Im dritten Kapitel wird das Wesen des Urteils, da die
Psychologische Untersuchung ergebnislos verlaufen, logisch analysiert und
'Olgeiiiies Ergebnis verkündet: alle Erlebnisse können zu Urteilen werden^
Wenn sie nach Absicht des Erlebenden entweder direkt oder in ihren Bc-
ocitungen mit anderen Gegenständen übereinstimmen sollen. Es wird dabei
^^drücklich hervorgehoben, daß diese Erkenntnis aus einer experimen-
**lleti, oder auch nur aus einer psychologischen Umersticbung der Urteile
iberliAupt niemals abgeleitet werden kann. Das vierte Kapitel handelt von
aem Verstehen und Beuneilen der Urteile, Auch hier wird der Tatbestand
°^^cbt experimentell aufgenommen und nach den gleichen Richtungen
^^^ die Urteile selbst untersucht. Das Ergebnis ist wiederum völlig negativ :
™ Verstehen wahrgenommener oder gelesener Urteile beruht nicht auf
P*ycl3ologi sehen Tatsachen, welche mit dem Wahrnehmen und Lesen der
Urteile verbunden sind. Ebensowenig sind die wahrgenommenen oder
f^^^s^^ Urteile mit verschiedenen Erlebnissen verbunden, je nachdem
*Jr sie lu beurteilen fähig sind oder nicht, noch sind sie mit verschie-
"«^en Bewußtseinsvorgängen verknüpft, )e nachdem wir sie gegebenenfalls
^ richtig oder falsch bezeichnen würden. Vielmehr führt auch hier erst
öle logische Analyse zum Ziel : Da3 Verstehen der Urteile beruht auf
*"iein Wissen, Wir verstehen ein Urteil, wenn wir wissen, mit welchen
112 BericMe %md Btspreckungen,
Gegenständen es nach der Absicht des Erlebenlden direkt odi
Bedeutung übereinstimmt. Ebenso steht es mit dem Beurteilen
Im fünften, Schluß^ Kapitel, endlich wird auf die Bedeutung der \
Ergebnisse hingewiesen und beiläufig gezeigt, daß es eben(
psychologische Kriterien der Urteile solche der Begriffe gib
iangreiche experimentelle Untersuchung hierüber wird in Ausa
Es schdnt dem Referenten, als weqn der verdienstvol
hier eine gewaltige Arbeit mit allem Rüstzeug der modernen
l>ewaffnet u,ntemommen hätte, deren völlige Ergebnislosigkeit
zusehen gewesen wäre. Schon die einfachste Selbstbeobachtux^
Anstellung von Hunderten von Experimenten, daß psycho!
j^leiterscheinungen des Urteils, die für dieses charakteristisch
existieren. Dem Wesen eines Bewußtseinsvorganges psychologi
kommen, als es durch eigenes Erleben, durch Umschreibung mit V
Vergleich mit ähnlichen Bewußtseinsvorgängen und durch logischefi
und Definierung geschehen kann, ist eben prinxipiell unmöglich,
die Rotempfindimg oder den Schmexzvorgang in seinem eigentUd
logischen Wesen anders ergründen, als dturch unmittelbares
durch die angegebenen indirekten Hilfsmittel? Es kann dah
die Aufgabe der Psychologie sein, das Wesen des Urteils exp
ergründen. Die Psychologie des Urteils hat vielmehr zu unl
welchem Sinne und durch welche Faktoren unsere Urteile qu
«qualitativ beeinflußt werden, worauf die Überzeugungskraft imser
ruht und wodurch sie beeinflußt wird u. s. L Nach die^
hin ausgedehnt, könnten die Untersuchimgen des Verfassers s
^ehr Gewinn rechnen, als es bei der vorliegen4en Arbeit der f
Berlin. L. H
Mitteilungen.
Der Präsident der Clark University, Herr G. Stanley Hall, hat die An-
legung zu einer weiteren Vertiefung des Kinderstudiums gegeben, indem
er an die bekannteren Forscher auf diesem Gebiete nach allen Ländern fol-
Stades Sendschreiben gerichtet hat:
£s ist zehn Jahre her, daß das Werk der Kinderforschung in der
psych<^gischen Abteilung der Clark University zuerst in Angriff genommen
^"^^irde, worüber ein kurzer Bericht beigefügt ist. Der Einfluß dieser Arbeit
^ bisher so groß imd verspricht künftig sq viel mehr für Psychologie und
Pädagogik, daß wir nun Schritte zu unternehmen wünschen, um die auf
diesem Gebiete Tätigen zu einer gemeinsam vdrkenden Gesellschaft zu-
^*OMncnzuschlicßen, um neues Material zu sammeln und die Arbeit auf
*^cug wissenschaftliche Grundlage zu stellen. .,."..
Wollen Sie Ihrerseits sich bereit erklären, von den Fragebogen, die wir
Ihnen während der zwölf Monate bis Juni 1904 zusenden werden, vier bis
*echs auszusuchen, welche Ihnen am wichtigsten oder interessanteste^ er-
^^cinen, imd ims von so viel Schülern odei/ andern Personen wie möglich
^Uiwandfrcie Antworten zu besorgen?
Wenn ja, so sind wir unsererseits bereit, Sie nach unsem Kräften da-
^*irch zu unterstützen, daß wir Sie mit Abdrücken aller während des Jahres
^^chienenen Schriften über Kinderpsychologie udd auf Wiinsch mit Literatur-
*^gaben über besondere Fragen versehen.
Zur Erlangung zuverlässiger Ergebnisse halten wir es jetzt für not-
^endig, Schlüsse über viele Gegenstände auf ein vergleichendes» Studium
^^ Materials aus verschiedenen Ländern aufzubauen.
Wir glauben auch, daß, wenn ein solcher umfassender imd wi^en-
^^liaftlicher Zusagtmenschluß zu stände kömmt, er dazu beitragen Wird,
^^^ser j^beit um ihrer selbst willen vermehrtes Ansehen, imd den darauf
^^^^mndeten praktischen pädagogischen Maßnahmen größere Wirksamkeit
*^ Verschaffen.
Wenn Sie geneigt sind, sich an dem Unternehmen zu beteilig^, so
^Uen Sie sich gütigst an den Unterzeichneten mit weiteren Vorschlägen
^^ gegenseitige Fördenmg wenden.
G. Stanley Hall,
Clark University.
Worcester, Mass., April 1903.
Der beigefügte Bericht lautet:
t fir pidigogitdie Psychologie, Ptthologie nnd Hygiene. 8
114 Müuaungtn,
Kinderforschung in der Clark University«
Ein bevorstehender neuer Schritt.
Es ist nun fast neun Jahre her, daß der erste Fragebogen über
Kinderforschung an der Clark University gedruckt wurde. Jetzt sind
über hundert erschienen und über fünfzig Bücher und Aufsätze, ganz oder
teilweise, auf Beantwortungen dieser Fragebogen gegründet, sind veröffent-
licht worden. Nur sehr wenige Fragebogen sind gälnzlich fruchtlos ge-
blieben. Viele 4er besten Schriften, bedurften einer zweiten Folge von
Fragen und Tatsachen, eine ganae Anzahl bereits aufgeworfener Fragen sind
noch nicht durchgearbeitet, und eine Anzahl befindet sich noch in verschie-
denen Stadien der Vorbereitung. In Verbindung mit dem. neuen Heim der
psychologischen Abteilung sind zwei große Säle für diese Arbeit bereitge-
stellt worden. In dem einen werden Berechnungen gemacht, Tat-
sachen zusammengestellt und Literatur gesammelt; und für den andern
Saal ist eine besondere Bücherei über Kinderforschung, die folgei^en
Fragebogen imd Aufsätze als erster Anfang einbegriffen, und Spezial-
literatur über jede wichtige Frage begonnen worden.
Ein weiterer neuer Schritt wird im kommenden Sonmier unternommen
werden, wie in der folgenden Anjkündig^ng ausgeführt ist. „Dr. Hall wird einen
Kursus täglicher Konferenzen über Kinderforschung, ihre Methoden und
Ergebnisse bieten. Dies wird ein gänzlich n^euer Kursus über wahrschein-
lich etwa zwölf Fragen. Jedes Mitglied wird nüt Syllabi versehen werden
nnd soll eine bestimmte Arbeit liefern sowohl über bestehende Fragen als
auch über andere, jetzt in Untersuchung befindliche, un^ das Vernunftgemäße
dieser Arbeit, ihre Irrtümer und Mängel herauszubringen.*'
Nächstes Jahr wird in dem regelmäßigen Kursus diese Arbeit in
einer Reihe wöchentlicher Übungen das ganze Jahr hindurch ausgedehnt
werden. Dies wird sich auf fast vierzig der Hauptfragen erstrecken, und
dabei wird bescmders geachtet werden auf die Erörterung der Fehler-
quellen, der verschiedenen 'Methoden und ihrer Bewertung, tfnd der vielen
neuen in der Logik aufgetauchten Probleme.
Sorgsamer ausgearbeitete Bibliographien über besondere Fragen können
das Jahr über von Zeit zu Zeit veröffentlicht werden.
Infolge der Spendung von 1000 Dollar durch Herrn Arthur. S. £stm-
brook aus Boston und der Bewilligung von 2000 Dollar für diese Arbeit
von dem Cam^e-Institut ist es möglich geworden, einen zuverlässigen und
gut eingearbeiteten Assistenten anzustellen, dessen ganze Zeit der Auaar-
beitimg des Materials und der Unterstützung von Studenten gewidmet ist,
deren These oder sonstige Arbeit gerade in dieses Gebiet fällt.
Schließlich wird eine Methode des Zusanmienwirkens vereinbart
zwischen dem hiesigen Arbeitszweige an der Clark University und einer
AnzaM auserlesener Anstalten anderswo, deren Professoren und andere
Angehörige bereits großes Interesse oder besondere Fähigkeiten für diese
Arbeit gezeigt haben. Dies wird vermutlich Material der verlangten Art
in genügendem Maße liefern.
Die Kinderpsychologie hatte anfangs eine Zeit der Anzweiflung durch-
Miiifümngfn.
115
machen mlisseD, wie sie wenige neue wissdiscbaftliche Bewegungen, die
Entwicklungslehre ausgenommen, in neuerer Zeit aus^halten hatten. Zu-
dem hatte sie ein Heer von SchUchtenbummlem, die wenig Verständnis
foT ihre Bedeutung und keine Ahnung von der Strenge ihrer wissenschaftlichen
Methoden hatten* und welche viele Angriffspunkte boten. Als vor
etwa vier oder fünf Jahren die Kritiker am lautesten, und fehdelusiigsten
waren, hielten viele oberflächliche Beobachter die Bewegung für tot. Aber
sie hat sich «tetig von Bezirk m Bezirk ausgebreitet. In der Irrenkunde hat
sie uns die neuen Siudieti über dementia praecox gegeben, sie hat das
Gebiet der Kriminalität des Kindesalters fast neu geschaffen; eine neue
Methode, die wichtigsten Fragen der Philologie iu lösen, geiiefert; hat
cße Schulhygiene von Grund auf umgestaltet und fast neu gegründet; hat
Jugend, ein mich vor zehn Jahren seltsames Wort, lU einem der bedeut-
samsten und wichtigsten für Wissenschaft und Pädagogik gemacht; die
Grundlage einer neuen religiösen Psycbol<^e gegeben; und eine* neuef und
ctmfasseiidere Philosophie und Psychologie der Zukunft angebahnt, die
sich nicht auf dem partiellen Studium einer Unterabteilung des erwach-
senen Geistes, sondern auf breit er^ genetischer Grundlage aufbaut. Die
wenigen tüchtigen Professoren der Psychologie und Philosophie, welche
sich immer noch weigern, die Kinderpsychologie anzunehmen, wie Agassis
die Entwicklungslehre verwarf, werden derselben Art der Kritik, die diesen
traf, nicht entgehen.
Die Wichtigkeit der neuen Bewegung ist schwer zu überschätzen.
Sic hat eine neue, große Hoffnung in ein Gebiei gebracht, das zu verfaÜ«a
drohte entweder au bloßer Schönrednerei, oder zur Unfruchtbarkeit in
Theorieii über letzte Realität, oder in der Anhäuf uug experimenteller Tat-
sachen über Punkte, die nicht inamer mit Weitherzigkeit, Weisheit und
Scharfblick ausgewahh waren, Sie tut ein Werk an dem Schulkinde,
ahnüch dem, was die Reformation für das religiöse Leben des Erwach-
seoen war, und die Uneile über viele der wichtigsten Frageta der Methodik
und Materie für alle Stufen der Erziehung von der Geburt bis zur Uni-
versität werden mehr oder weniger endgültig sein und der Erziehung geben,
ihr so lange gefehlt hat ; eine wirklich wissenschaftliche Grundlage und
Hilfe, den Lehrern eine wahrhaft berufsmäßige Richtschnur xu bieten.
A. L i s t e d e r Fragebogen.
1, Anger, G. S. Hall, Oct., 1894.
2, DoUs, G. S, Hall, Nov , 1894.
,, (Supplementary Qucsdonnaire.) A. C Ellis, June, 18&6.
3, Crylng and laiighing, G. S. Hall, Dec, 1894,
4, Toys and playthings, G. S. Hall^ Dec, 1894.
3. Folk-lore among children, G. S. Hai!, Jan., 1895.
6, Early forms of vocal expression, G- S, Hallj, Jan., 1895*
7, The early sense of seif, G. S. Hall, Jan., 1895.
8, Fears in childhood and youth, G. S. Hall, Feh., 1895.
9* Some connnon traits and habits, G, S. Hall, Feb. 1895,
10. Some cwmmon auiomatisms, nerve slgns, etc., G. S; Hall, March, 1895.
416 MitUnhmgen.
11. Feeling for objects of inanimate nature, G. S. Hall, March, 1895.
.\% Feelings . for objects pf anixnate nature, G. S. Hall, April, 1895.
.13. Children's appetitesi and foods, G. S« Hall, April, 1895.
14. Affectioa and its opposite states in children, G. S. Hall, April, 181
15. Moral and religiousrexperiences, G. S. Hall, May, 1895.
,16.-Peculiar and exceptional children, G. S. Hall and £. W. -JBoliat]
Odt., 1896*
17. Moral defects and peryerskms, G. S. Hall and G. £. Dawson, Oct., :
:}&. The beg^innmgs of reading and writing, G. S, Hall and H. T. Ln]
Oct., 1896.
19. Thoughts and feelings about old age, disease and death^ G. S.
and C. A. Scott, Nov., 1895.
20. Moral education, G. S, Hall and N. P. Avery, Nov., 1895;
21. Studies of school reading matter, G. S. Hall and J. C. Shaw; Nov., \
22^ School stiatistics, G. S. Hall and X. R. CrOswell, Nov., 1895.
2Si. Early musical manifestations, G. S. Hall and Florence Marsh, ]
1896.
24. Fancy, imagi^ation, reverie, G, S. JHall atid £. H. Linidley, Dec, :
25. Tickling, fun, ^t, Jiumor, laughing, G. S. Hall and Arthur k
Feb., 1896.
26. Suggestion and Imitation, G. S. Hall and M. H. Small, Feb., 181
27. Religious experience, G. S. Hall and E. D. Starbuck, Feb., 1Ö96;
28. A study of the character of religious growth, IL. D, Starbuck.
29. kirtdergärten, G; S, Hall, Anna E. Bryan and Lucy Whecl
March, 1896.
30. Habdts,. instincts, etc., in animals, G. S. Hall and R. R. Gu
March, 1896.
31. Number and mathematics, G. S. Hall and D. E. Phillips, April, 1
32. The only child in a family, G. S. Hall and E. W. Bohannon; Ms
1896.
33. Degrees of certäinty and conviction in children, 'G. S. Hall
M. H. Small, Oct., 1896.
34. Sabbath and wörship in general, G. S. Hall and J. P. Hylan," <
1896.
35. Questions for the study of the essential features of public wor
J. P. Hylan.
36. Migrations, tramps, truancy, running away, etc., vs. love of b
G. S. Hall and L. W. Kline, Oct., 1896.
87. lAdolesoence and its phenomena in body and mind, G, S. Hfall
E. G. Lanraster, Nov„ 1896.
38. Examinations and recitations, G. ä. Hall and J. C. Shaw, >fov., 1
39. Stillness, solitude, restlessness^ G, S. Hall and H. S. Curtis, Nov. 1
40. The psychology of health and disease, G. S, Hall and H. H. Godc
Dec, 1896.
41. Spontaneously invented ^ys and amusements, G. S. Hall and T
Crosw^l, Dcc.^ 1896.
42, Hymns and saöred music, G.S. Hall änd' T. R. Pecde, Dcc] 1896.
i3. I*u2ilcs and thcir psycbology, G. S. Hall and Ei H. Lindley> Dcc,
18W. .
44r"rhe scriDon, G. S. Hall and A. R. Scott/ Jan., 1897.
^' Special trahs ad i^dices of Charactep, and as mediating likes and
dislikea, G. S. Hall and £. W. Bohannon, Jan., 1897.
46. Reveriö and allied phenomena, G. S. Hall and G. E. Partridge, April,
1897.
47. Xhc psychology of bealth and diseasc, G. S. Hall and H. H. Göd-
dard; May/ 1897. •
48. Immortaiity, G. S. Hall and J. R. Street, Sept,, 1897.
49. I^sychology of ownership vs. loss, G* S. Hall and L. W. Kline, Oct.,
1897.
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51. To mothers, F. W. Cokgxove, Dec, 1897. •
52. Humorous and cranky side in education, G. S. Hall and L. W. Kline,
Oct., 1897.
53* The psychblogy of slxxtliand writing,' G. S. Hall and J. O. Quantz,
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94. Reactions to light 2md darkness, G. S. Hall, Nov., 1902.
96. Children*s interest in flowers, Alice Thayer, Nov., 1902.
96. Reactions to light and darkness (2), G. S. Hall and Tbeodate L. SmitK. -^^^
Dec, 1902.
97. Superstition among children, S. W. Stockard, Dec, 1902.
98. Questionnaire on the soul, L. D. Amett, Jan., 1903.
99. Questionnaire on children*s prayers, S. F. Hayes, Jan.,. 190S.
100. Questions about food and appetite, Sanford Bell, Jan., 1903.
101. Questionnaire on relif^us experiences subsequent to converskm« £« -^t-*-
St. John, Jan., 1903.
102. Development of the sentiment of affection. Theodate L. Smith, Mar^^*^
1903. .
B. BQcher und Artikel, die ganz oder teilweiaa aia. ^
Grundlage der vorhergehenden Fragebogen ▼erdffes'' ^*
licht wurden (die Zahlen entsprechen denjenigen & ^^
vorangehenden Liste).
1. G. S. Hall. A study of anger. .\m. Jour. of Psy.. July, 1899, Vd. ♦-^^
pp. 516—591.
2. G. S. Hall and A. C. Ellis. A study of doUs. Ped.
196, Vol. 4, pp. 129175.
3. G. Sv Hall and Arthur Allin. The psychology of tickli^^'^'
laughing, and the comic. Aul Jour. of Psy., Oct., 1897, VoL 9» pp- 1"
See SuUy: Essay on laughter. N. Y., 1902; Psfdiölogy of
MiHsilmrtgf^ ,
119
C. R. iVe Cong, Im, de Psy., Pätu, 1901; Laiighter of savagigs,
im* Mo., Sept- 1901. Also H, M. Stanley ;, RemarkÄ on licklbg and
Uughing, Am, Jour. of Psy.^ VoL 9, p^ 235;, and G. V. N. Dearboro ;
The nature of the stnile and laugh, Science^ juae 1, 1900«
4. See Eucke.
S- J W. S l a u g h t e r. The moon in childhood and! folklore. Arn. Jour.
of Psy., Aprilt l902p Voh 13, pp. 394—418, See sapplemenlary notc
by Q. S. HaiL Also Miriam V. Levy: Hoiw ibe man got in tbe
moon. Ped. Sem., Vol, 3, p. 317,
<^. S. Hall and J, E. W. W a 1 M n, How\ chjldren and yofuth tWnlt
Eänd fecl about clquds. Pcd, Schl, Dec p 1900, vol 9, pp. 460 506.
H. X L u k e n s. Preliminary report oti tbe tearningj €f language. Pcd.
Sem*, June, 1890, Vol 3, pp, 4^4-400. See Frederick Tracy: Lan-
guage of Childhood, Am, Jour. of Psy.^ Vol, 6, p. 107; and Psycho-
Im^e^t in words. Ped. Sem,, Sept,, 1902; J, R., Street; A siudy in
lögy oi ChildJiood, Boston, 1893. Also Lillie A, Williams: Children's
language teaching, Ped. Sem., Vol 4. Refer t<i 3j
C S. Hall, Some aspects of the early sense of seif. Am. Jour,
of Psy„ April, 1808, Vol. 9, pp. 351-39&, See Amett's History of
concepts of the soul. Also H, M. Stanley : On the early sense of seif.
Sdencc, 1898, VoL 8, p. 22.
C S. Hall, A sthidy of fcars. Am, Jour, of Psy„ Jan., 1897. V^, 8,
pp, 147-249, See M, H, Stanley: Rational fear of l hon der and
tightning, Am, Jour. of Fsy,, Vol. 9, p: 418* Anna B. Stvitex: Feara
of childhood disoövered by a mother, Kgn. Mag., VoL 12, p, 82,
S* H, Rowe: Fear in the discipline of tbe child, Outlook^ Sept. t»
1898, VoL 60, p. 232. Colin A. Scott: Children's fears as material for
cxpression, ^ic.^ Trans, OL Soc, for Child Study, VoL p, 12^ T, S,
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P4y*, Medicine, Vol. l, p. 357* A* Einet; La peur cbei les enfants,
Lannde Psycho!., Vol. 2, p. 223.
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£, H. L i n d I e y and G. E, P a r t r i d g e. Some mental aucomatisms.
Pcd. Sem., July, 1897, VoL 5, pp. 41 SO, See G. E. Partridge: Reverie,
Pfd. Sem., VoL 6, p, 44ß.
-^l' C H. EUis, Feticbism in cbildren. Pcd, Sem,, Vol, 9, p, ^Ü&.
AJio G. 5* Hall: The love and ^tudy of nattire, Agriculture of
Mass., 1898, p. 134 See work on Moon^ Clouds, Watcr, Hcat,
Light ^id Barkness, ctc*
^^- See BcU,
^^ ^anford Bell, A preliminary study of the emotion of love between
tbe scxes. Am Jour. of Psy,, Vol, 13, p, 3Ä6, See Frank Drew,
Ped, Sem., VoL 2, p. 504 Also Miss. SmJth*s present work,
* Sf^ Leuba and Starbuck.
120 MUteüumgtm
%■
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Oct., 1896, Vgl 4, pp. 3-60. See his< Only chil4 in a family. Ped.
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17. G. £. Dawison. A study in youthful degeneracy. Ped. Sem., Dec,
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pedagogy of the blind. Ped. Sem., Vol. 9^ p. 127. G. E. Dawaon:
Psychic rudiments and morality. Am. Jour. of Psy., Jan., 1900, Vol. 11,
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19. C. A. Scott. Old age and death. Am. Jour. of Psy., June, 1896,^
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21. J. C. Shaw. A test of memory in' school children. Ped. S^m., VoL
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23. Frederic Burk: The evolution of music and the pedagogicai
application. Proc. California Teachers* Ass'n, 1898; and Study of
Idndergarten prdblems. San Francisco, 1899, p. 23. M. Meyer:
How a Tnusical education shoidd be acquired in the public schooL Ped.
Sem., Vol. 7, p. 124; and Contributionis to a psychologicäl theoiy
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from Yale Psy, Lab., VoL 1, pp. 80—87. Fahny B. Gates: Musical
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and papers on rhythm.
24. See;Partridge: Rcvcrie.
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26. M. H. S m a 1 1. The suggestibility of children. Ped. Sem., Dec, 1896,
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27 änd 28. E. D. Starbuck. A study of conversion.' Am. Jour. of Psy.,
Jan., 1898, Vol. 8, pp. 268—308; Some aspects of religious growth, Am.
Joür. of Psy., Oct., 1897, VoL 9, pp. 70— 124; Thee psychology of
religion, Charles Scribner*s Sons, N*. Y., 1899, pp. 423.
29. Frederick Eby. The reconstruction of the kmdergarten. Ped.
Sem., July, 1900, VoL 7, pp. 229—286. See G. S. Hall: Some defects
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31. D; E. Phillips. Genesis tili number forms. Am. Jour. of Pis'y., July,
1897, Vol. 8, pp. 606-627; Number and its application psychok>gically
considered, Ped. Sem., Oct.„ 1897, VoL 6, pp. 221-282; Some remark»
on number and its application, Ped. Sem., April, 1898, -VoL 6, pp.
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number. Ped. Sem., VoL 6, p. 426..
32. E. W. Bohannon. Thef only child in a fiamily. Ped. SeoL, April»
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\
Mmeäungen. 121
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36. L. W. Kl ine. The mig^atoxy impulse vs. love o£ home. Am. Jour.
of Psy., Oct., 1898, Vol. 10, pp. 266-279.; Tniancy,as related to the
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and religious trainxng of children, Princeton Rev., Vol. 10, p. 26 and
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faith eures. Am. Joür. of Psy., April, 1899, V61. 10, pp. 431-502. See
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Sem., Sept., 1899, VoL 6, pp. 314-371. See G. E. Johnson: Edu-
cätion by plays and games. Ped. Sem.« Vol. 3. p. 97.
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Sem., Dec, 1899, Vol^ 6, pp. 421-470.
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Oct.. 21, 1890, VoL 7, p. 107.
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VoL 6, pp. 169-187.
122 MiUtätmgm.
d6. A. W» Trettien. Creeping anud walkmg. Am. Jour. of Psy., Oct.,
1900, Vol. 12, pp. 1-67. See 80.
160. G. S. Hall and C. £« Browne. Chüdren's i4eas of fire, beat, £z-ost
and cold. Ped. Sem., VoL 10.
62. G. S. HalL The ideal school as based on child study. Pioc N.
E. A., X901, p. 476; Forum, VoL 38, p. 24; Paidotogist, VoL S, P
161. See P. W. Seajrch: An ideal. schooL P. AppUlon apd Co., ^'
Y., 1901.
63. F. E. P o 1 1 o n. Hydio-psychoses. Am. Jour. of Psy., Jan., 1899, VoL ^^'
pp. 110-227. ;
64. H. D. Sheldon. The institutional activitses of American childr^^*^
Am. Jour. of Psy., July, 1898, VoL 9, pp. 425-448.
67. See Caroline F. Burk: The coUecting instinct Ped. Sem., VoL ^
p. 179.
68. H. D. Sheldon. The history and pedßgogy of American
societies. D. Appleton and Co,, N. Y., 1901, pp. 366.
73. Norman Triplett. The psychology of oonjuring deceptioos,
Jour. of Psy., July, 1900, VoL 11, k>. 439^10, See 40 and 47.
75. G. S. Hall and Fj H. Saunders. Pity. Ami Jour. of Psy., Jt
1900, VoL 11, pp. 534-591. See Sutherhmd: The origin and groii
of the moral instinct. 2 vols. Loogmans^ Green and Co., LoiuUc^»^
1893. H. M. Stanley:, The psychology of pity. Science, 1900, Vd, 'M^ *
p. 487.
76 and 78. C. H. Sears. Studies in rhythih. Ped. Sein., March,, IW^X
Vol. 8, pp. 3-44; A contribution to the psychology of rhythm. Axx^-
Jour. of Psy., Jan., 1902, VoL 13, pp. 28-61. See T. L. Boltoi:^ •'
Rhythm. Am Jour. of Psy., VoL 6, p. 145.
79. J. C. Franc e. The gambling Impulse. Am Jour. of Psy., July, 1903^^
Vol. 13, pp. 364-407.
8a See 56.
83. Margaret K. Smith. Report on geography. Ped. Sem. VoL ^^
p. 385. • ^
84. Standards of efficiency in school and in Ufe. Ped. SeuL, Yol; lOl-
87. See Pollard.
88. A. R. T. Wylie. On the psychology and pedagogy of the blinde
Ped. Sem., June, 190% Vol. 9, pp. 127-160. See E. C: Sandfofd: Th<^
writings of Laura Bridgman. Overland, Mo., 1886-7. G.S. Hall:
Laura Bridgman^ Mind,' Vol.( 4, p. 149.
89. L i 1 1 i e A. W i 1 1 i a m s. Children*s interest in words. Ped. Sem.» Sept^
" 1902.
90. Katherine E. Dolbear. A few suggestions för the educatioQ o0^
women. Ped. Sem., VoL 8, p. 648.
94 and 96. G. S. Hall ^d Theodate L: Smith: Reactkms to lighc:^
and darkness. Am. Jour. of Psy., VoL 14.
M^ttgii^mgim*
123
^«isauischreiDeit.
Die „D i c s i « r w e g - S 1 1 i t y n g" lu Berlin tkat beschlossen, fol-
gende Freis^ufgabe lu steliea: ,,Kritiiclie Besprechung des
Gru ndlehrplansder Berliner Gern ei ndcschulevomjahre
19U 2/* Der 1. Preis beträgt 600, der zweite 300 M. Die Arbeiten sind
bii mm ersten Januar 1904 an den ScJiriftfuhrer der Stiftung; Rektor
S^Kgtinann, Berlin N.» Pflugstr. 12, einzusenden, dürfen 10 Druckbogen
rächt überschreiten und auch nicht den Namen des Verfassers tragen;
[cttterer ist in einem verschlossenen Briefumschläge, der mit demselben
Swttsprüche versehen ist wie die Arbeit, beizufügen. Die gekrönten Preis-
«iiriften bleiben Eigentum der Verfasser; jedoch wird der luerkannte
Preis erst nach der Veröffentlichung der Arbeit geKahlt, auch behalt sich
^ Kufmtorium das Recht vor, eine von ihm zu bestimmende Anzahl von
^emplaren zti einem Drittel des Ladenpreises ru erwerben. Im Interesse
<^ Prciartchter wird deutliche Schrift auf einseitig beschriebenem Papier
l«ford€n. Der Lehrplan ist im Buchhandel erschienen und u, a: durch
«ien \'erlag von F, Hirt für 0^40 M. 2U beliehen.
Glier ftclittlNycEenlscfa^fi UnUrrlctii a» 1iQlitr«ii Leiiniiiilaltiit*
Schon in den Lehrplänen von 188i wird die Kenntnis vom Bau
^ menschlichen Körpers für alle höheren Schulen gefordert* £s
wißt m den „Allgemeinen Bestimmungen, betreffend Änderungen in der
Abgrcmung der Lehrpensa infolge der LehrpJäne vom 3L März 1882*\ IIL
^Aturwissfcnschafihcher Unterricht, Bemerkungen zu 1 und 3, Nr. 4, S. 7:
p'^be^so gehört die Lehre vom Bau des menschlichen Körpers der obetsicn
^uft des Unterrichtes an. Es ist selbstverständlich, daß bei der Auswahl
^ für das jugen4liche Alter Geeigneten mit der größten Vorsicht tu ver-
lihren ist. Dabei wird sich passende Gelegenheit bieten, die Schüler auf
"^■J^itige Punkte der Gesundheitspflege aufmerksam lu machen/* Die Lehr
PEbc von 1801 schreiben Kennntnis des Baues des menschlichen Körpers und
•-'wtcr Weisungen über die Gesundheitspflege für die Ober-Tertia der Gym-
**i«n und die Unter-Sekunda der neunklassigen Realamtalten vor, was
'^ ersterem Falle so ausgedrückt ist: ,,Der Mensch und dessen Organe
ßcbit Unterweisungen über die Gesundheitspflege'*, im anderen: ,,Ana-
totnic und Physiologie des Menschen nebst Unterweisungen über die Ge-
tOQdheitspflege*'. Schon atis dem Wortlaut dieser Bestimmung, die genau
***«i&0 m die neuesten Lehrpläne vom Jahre 1901 übergegangen ist, ergibt
>tcli^ daß bei den Realanstaken an eine genauere Durchnahme der ana^
"*oi»cbeo und ph)'&iologischcn Grundlagen der Anthropologie gedacht ist
*[• beim Cymipsium, weil sonst nicht recht deutlich wird* warum man
^^( hn ajlen Arten neunklassiger Ansialten oder wenigstens beim Gyiti'
naiium und Realgymnasium die Lehre vom Bau und Organismus des
^*^öi*<:hlichen Körpers derselben Uoterrichfsstufe zugewiesen hat, zumal kein
Uhrgeg erstand bei jedem Schüler gleichmässigercs Interesse wegen seiner
^^i^s^imea Bedeutung finden wird und kann als gerade dieser. Dabei ist
I^
Mitieäung^.
i^ch besonders zu beachten, dass in den .^Meihodiscben Bemerkungen f3r
die Naturwisseniächaften" der jetzt gütigen Vorschiiftei^, S. 66 und 67
folgendes wörtlich steht r ,,4^ Der Unterricht in der Anthropologie am
Gymnasium wind im Verlaufe eines Vierteljahres erledigt werden können,
wenn er sich wesentlich auf die anatomische Seite beschränkt, das Physiolo-
gische aber dem physikaJisch-chemiscben Unterrichte überläßt. Zu dies
Behufe ist es crfordeTlich, in einer der Oberklassen (am xweckmäüigsti
in I) einen TcU der dem Physikunterricht zugewiesenen Stunden für ei:
physiologischen Kursus zu verwenden'* und 5 c), S. 67: »^Ferner empfiei
es sich, sowohl wichtige hygienische Gesichtspunkte, i. B. bei der Be-
sprechung von Wasser, Luft* Nahrungsmitteln, als auch die Beziehungen
zur Biologie in Betracht zu nehmen*'. Die erstgenannte Bestimmung be-
zieht sich nur auf Gyranasieiij die zweite ist allgemeiner Natur, Jedenfalls
erhellt schon hieraus, daß der an Gymnasien in Ober-Tenia zu erteilende
Unienicht in der Anthropologie ledtgtich propädeutischer Art sein und
den Menschen im Hinblick auf die in der vorhergehenden Klasse
gegebene Übersicht über das gesamte Tierreich hauptsächlich als voll-
endetstes Wesen der Schöpfung darstellen soll Es dürfte sich jedoch viel-
leicht wohl empfehlen, in den Ober-Tertien aller neun- und den zweiten Klassen
aller sechfistufigen Anstalten einen vorbereitenden hygienischen Kiirsus ab^
zuhalten und in den Ob er- Primen, bezw. natürlich in weniger genauer Dar-
bietung auch in den ersten Klassen der Schüler mit sechsjähriger Unter*
richtsdauer in einem phystologischen Kursus die Gesundheitslehre noch
einmal vertiefend zu behandeln.
Erwägt man nun, daß schon das preußische Ministerial^Heslmpt vi
7, Jamiar 1856 eine, wenn auch nur auf das allernotwendigste beschrinkie,
Beschreibung des menschlichen Leibes im naturwissenschaftlichen Unter-
richte verlangte und die angezogenen Bestimmungen der preußischen Lehr-
pläne von 1882* 1891 und 1901 die Gesundheitslehre fortgesetzt stärker
betonen, so steht fest, daß in der Wertschätzung der Hygiene entschieden
ein bedeutender Fortschritt im Laufe der Zeit bemerkbar ist. Dazu kommt die
erfreuliche Tatsache« daß dieselben Anschauungen nicht nur in allen anderen
dcnt»chen Bundesstaaten, selbst in den uns jnbezug auf das Unterrichts-
wes€fn früher liemlich fem stehenden Königreichen Bayern und Württem-
berg, sondern auch in allen Kulrurstaaten der ganzen Welt Platz ge>
griffen haben, ja von jeher nicht selten noch starker betont sind als
bei uns in Preußen. Man kann sogar kühn behaupten, daß die G
lehren der Schulhygiene schon gegen twci Jahrtausende alt sind. Wd*
Eingeweihte wüßte nichts daß schon lar Ztit des Nero der griechisc!
Ant Athenaeus aus Attalia in Cilicien, der Stifter der Schule der so;
nannten Pneumatiker, deren Anhänger die stoischen Begriff sh est immung
und Lehf«D anwandten, insbesondere auch von dem Gnmdsatf ausginget
daß Gesundheit und Krajikheii von etwas geistig Tätigem im Menschen
dem wv^üß^ abhängig seien, Vermeidung geistiger Überanstrengung,
Sorge für gute Luft, Reiiüichkeit, ßeleuchtut^ und hinreichenden Schlaf
gefordert hat und weiter unter Berücksichtigung üwi vertndenen Zeitver*
M
Miditilungm.
125
Utnisse Liitberj Camera rlu$, RadchtuSt Comenius, Bacon, Locke, Mon-
gnr, Rousseau, Basedow, Festatozti, v. Rochow, A. H, Franckcj Guts-
Ulis u, a> dringend dasselbe verlangteD, ja die* vier letztgenannten ihre
rsbctüglichen Gedatikcn auch mit Erfolg in Taten umsetzten, während
Zeit der Eruiedrigung Preußens und Deutschlands, sowie die ersten
tan/ig jähre nach den Befreiungskriegen für eine praktische Ausge-
iltuDg scbulhygientscher Maßnahmen natürlich nicht günstig wirken konnten.
iti sich für Athenaeus besonders interes&ien, sei darauf hingewiesen,
sich bedeutsame Bruchstücke von ihm In den Taxpixtü tnivapafai
Onbasios finden ^ einer medizinischen Encyklopädie und trefflichen Re-
atis den Schriften der gelehrten Ante in TO Büchern nach Pliot.
217, in 72 nach Suidas. Auch verdient C. G, Kühn, Off, med» graec.
f^r XLVIII hierüber nachgelesen zu werden. Lorinsers 1835 erschienene
nie Schrift ,j2uiti Schutze der Gesundheit in den Schulen", die zwar
9le!lenweise stark übertreibt und phant^tischer Utopien keineswegs ent-
behrt, gab den Schul aufs ichtsbehörden wenigstens die Anregung zu ein-
Äsenden Erhebungen und veranlaßte zahlreiche, sehr wichtige und noch
ttt durchaus beachtenswerte Verfügungen, unter denen wohl die Kabinetts-
vom 6, Juni 1842 als die hervorragendste aniusehen sein dürfte,
ihr wurde die Pflege der Leibesübungen als ein notwendiger Bestandteil
mäimlichen Errieiiung bezeichnet. Später wurden wissenscliaftliche Unter-
iChviTigen übe? die Verhütung ansteckender Krankheiten unter den Schul-
auchem, die zweckmä6igste Art der Lüftung, Reinigung und Heizung,
sogenannten Schulkrankhetten, wie kunsichtigkeit, Rückgratv^erkrüm-
J^gj Ner\-osität, Kopfweh, Ermüdung infolge Überanstrengung und andere
^it in Zusammenhang stehende Fragen angestellt. Es sei an dieser
Itne nur hingewiesen auf die erfolgreichen Bemühungen von Pappen-
fcini und Falk, die zuerst praktische schulhygienische Anregungen in mo-
et Art gaben« vom berühmten Breslau^r Augenarzt Cohn, der 3^867
A^mgen von 10 060 dortigen Schulkindern und vielen Studenten unter-
^h^^ dann in neuester Zeit von Baginsky, Wassetfuhr, Eulenburg. Kraepe-
^ Grießbach u. a. Auch sei hervorgehoben, daß in unseren Tag^ vieJ-
liie Zähne der Schuler und Soldaten« sowie von den Kreisärzten die
^ude und Umgebungen selbst der unbedeutendsten Landschulen in
itäispoli Zeil icher Beziehimg untersucht zi3 werden pflegen. Allgemein
m sujd fem er die 1888 gegründete Zeitschrift für Sehniges undheits*
P*^ it>n Kotelmann und Erismann, sowie die 1901 ins Leben gepjifene,.
Gneübach redigierte Vereinsschrift des Allgemeinen deutschen Vereins
Schulgesundheitspflege „Gesunde Jugend/' Sehr wichtig sind auch
Wilhelms IL Rede bei der Eröffnung der Schulkonferenz am 4.
er 1S90 i^nd sein Erlaß vom 26. November 1900; in ersterer wurde
tJnterweistxng der Lehrer in der Hygiene und die Einriebt img vxm
ffittlischen Kursen geforderti in Ictnerem auf die Forderungen der Hygiene
Aufstellung der Unierrichtiordnung Beiug genommen.
Keimer der einschlägigen Verhaltnisse wissen ferner, ciaß schon < um
Wjtic des fünfzehnten Jahrhunderts die Italiener Filelfo und Vegtus
126 MiMkmgen,
den Nachmittagsunterricht bekämpft haben, eine Maßregel, die in Preuße
erst Ende der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf Vem
lassung des Provinzial-Schulrats Dr. Klix zunächst am Kgl. Wilhelms^Gyn
nasium in Berlin versucht und dann allmählich auf alle höheren Schok
Berlins und anderer großer Städte übertragen wurde.
£s fragt sich mm heutzutage hauptsächlich, ob der schulhygienisd
Unterricht der höheren Lehrer, wie ilm der Kaiser und die Unterrichl
behörden mit Recht fordern, imstande sein wird, die Tätigkeit des Schi
arztes zu ersetzen. Wir glauben dies unbedingt bejahen zu können ui
sind der Ansicht, daß die Anstellung von Schulänten nur für mittle
utid besonders Volksschulen, namentlich in größeren Städten, unbedin
erforderlich sein dürfte. Denn das Schülermaterial der höheren Lehra
aUstalten entstammt fast ausschließlich solchen Familien, die die phy
sehen und psychischen Mängel ihrer Kinder meist allein oder wenigste
mit Hilfe der Lehrer erkennen, imd letztere sind die geeignetsten Leut
durch allerhand ihnen zu Gebote stehende prophylaktische Mittel Seht
krankheiten zu verhüten. Der Lehrer, insbesondere der hygienisch g
schulte, wird selbst im allgemeinsten Interesse stets für frische Li^
den Schulzimmem sorgen, immer Schulbänke mit angemessener Entfemui
für das Auge alAchaffen lassen imd auf gerade Körperhalttmg der Schul
während des Lesens und Schrdbens achten, um zunächst Kurzsichti
keit und Rückgratverkrümmungen, den gewöhnlichsten Krankheitsersdu
njongen, möglichst früh vorzubeugen; auch wird er beständig seine \
soxkiere Aufmerksamkeit einer zu erzielenden guten Beleuchtung der Bänl
und Schulzimmer zuwenden, schlecht oder zu klein gedruckte Bücher v<
der Benutzung im Unterricht fernhalten, die Schüler nicht unmäßig lan;
still sitzen lassen, um ihre Muskeltätigkeit nicht allzu sehr einzuschränk«
die Zeitdauer der häuslichen tmd selbst der geistigen Auffassungsarb«
in der Schule, sowie die der so angreifenden, wenn allzu ausgedehnte
Kräfteanspannimg beim Lesen imd Schreiben mit Weisheit bestinunen ui
stets das alte: Curandum est, ut sit mens sana in corpore sano beherzig«
So sollten denn auch die Leiter und Lehrer aller höheren Unterrichts!
stalten regelmäßig an schulhygienischen Vorlesungen und Übungen an d
Un&versitäten, sowie gesundheitlichen Unterweisungen in den pädagogisch
Seminiaren teiMehmen, und es ist mit großer Freude zu begrüßen, d
auf Veranlassung des preußischen Kultusministeriun^ im laufenden Winti
halbjahre 1902/3 zum ersten Male Vorträge über die wichtigsten Kapi
der Gesundheitslehre für die höheren Schulen Berlins von den herv<
ragendsten medizinischen Fachmännern gehalten werden.
Unbedingt muß man auch Grießbach beistimmen, der „Gesun
Tugend^', I S. 9 eine Reihe krankhafter Zustände, wie Blutumlauis- und ]
nährungsstörungen, allgemeine Ermüdung des Nervensystems u. ä., i
ein ungeeignetes Unterrichtsverfahren zurückführt. Die einzelnen Lehr
kollegien müssen sich über die Pensenverteilung derart einigen, daß !
mit der Leistm^sfähigkeit der Schüler vollkominen in Einklang steht u
vor allen Dingen das Gedächtnis nicht übermäßig bdastet wird. Da
JIßUtäumgim.
127
imBf w&mui schon oft und auch in unserer Zeitschrift wiederhoU hmge-
vitscQ iitf der Stundenplan eine reiche Ab Wechsel ting aufweisen, so daß die
imiofelldsten UnterrichtsstUDden in die Zeit von 7—9, beiw. im Winter
»^ i^lO fallen und, wo möglich, in die späteren eine Turnstunde mit
Bevegunfsspielen eingeschoben wird, auch auf keinen Fall gelitten w*erden,
M ^e Pausen selbst hei schJechtem Wetter nicht auf Vorbereitungen für
die liächste Stunde verwendet werden oder der Turnunterricht auf staubigen
SdndkdfeQ s^ttfindet. Daß die Schulkrankheiten weniger auf dem Ein-
fluß von schlechter Luft^ schlechter Beleuchtung und Reinigung^ sowie
ouogdhafter Bewegung, sondern mehr auf falscher Methodik der Unter-
I nchtenden beruhen} haben auch die s. Z. sehr eingehend geführten schul-
^ygiecischen Untersuchungen von Ajtel Hertel in Dänemark und A^cel
|Key m Schweden gezeigt, da sie ergeben haben, daß gerade m diesen
psÜDiietten Gegenden Hunopas die Zahl der kranken Schüler außer-
ofdenilich groß war. So hat denn auch H. Schiller recht, wenn er in
sehr beachtenswerten Buche über die Schularztfrage die treffliche
pygienische Fürsorge der Jesuiten besonders betont und hervorhebt^ daß
^tde sie ihre schulgesundheitlichen Maßregeln mit größter Folgerichtig*
durchgeführt haben, indem sie die tägliche Stundenzahl und die An-
rrgcn an die Arbeitskraft der Schüler durch verstandig ausgear*
**^iliCe Schulordnungen festsetzen, ihre Schulgebäude und Internate hygie^
^^^ vortrefflich ausstatteten und durch gute Verpflegung, regelmäßige
%«öcrgioge und lange Ferien für eine ordentliche körperliche Emwick-
'tiijg sorgten.
Vorziehende Bemerkungen machen durchaus nicht den Anspruch, eine
^-öiqag der Schujar^tfrage, die, nachdem sie auf der Naturforscherver-
^^mmliing lu Innsbruck im Jahre 1869 zum ersten Male gestreift war, auf
^cn ähnlichen Versammlungen tmd hygienischen Kongressen leider durcb-
^u« xn (Jen Vordergrund der Beratungen gerückt ist, endgültig gefunden
^ haben. Das eine aber dürfte aus obigen Erörterungen wohl hervorgehen,
*^ der Schularzt in der Volks- und mittleren Schule, soweit sie nur
^ eine höhere Volksschule, wie sie sich zahlreich im Königreich Sachsen
^i^dtt, betrachtet werden kann, unbedingt notwendig, in der höheren Schule
^Ecgen mehr oder weniger überflüssig ist, denn hier ist und soll nach
■^clitiger Auffassung der obersten preußischen Schulbebörde der hygienisch
S^bildete höhere Lehrer der nächste und beste Schularzt sein, zumal er
'^Siich und stündlich auf die seiner Obhut anvertrauten Schüler einwirken,
**>ni und muß.
WqII st ein,
LÖschhorn,
eatwlcktttuf der HUfsachutpail^goflk in Berlin.
In diesem Winter hielt Herr Stadt- und Kreisscbulinspektor D r^ v.
^ ' » y c k i drei Vorträge über die Entwicklung der Hilfsschul-
l^^dagogik in Berlin. Seine Einiehhemen behandelten das Kinder*-
^^tflriil« das den NebenklasseD zugewiesen wird» die Uitttrriclits«
128 Müteäungm.
uad Erziehungsmethode bei schwachsinnigen Kindern und. di
Organisation der geeignetstem Hilf sschttleinrichtttH)
Da durch diese Vorträge nicht nur der Entwicklungsgang der Hittssdiii
angelegenheit in Berlin, sondern auch manche neuere Bestrebung auf de
Gebiet der Schwachsinnigen-Erziehung gekennzeiclmet wurde, f(^ge eii
Zusammenstellung des gebotenen Materials, so weit es auch femerstehendi
Kreisen interessant sein dürfte.
1. Bisheriger Entwicklungsgang: Vor dem Jahre 18
erhielten die schwachsinnigen Kinder Berlins entweder in der Motefii
stalt zu Dalldorf oder durch Einzelunterricht oder durch den Völkssch
Unterricht ihre Bildung imd Erziehung. Da sich infolge dieser unzureidu
den Bildungsgelegenheiten für schwachsinnige Kinder viele dieser letztei
auf der Unterstufe der Volksschule ansammelten und dort als Hemm
für den Unterricht der Normalen empfunden wurden, beschloss die St»
sehe Schuldeputation, Nebenklassen für diese Kinder einzurichten, j
1. Oktober 1898 wurden 22 Nebenklassen, jede mit ca. 12 Schülern,
öffnet. Die Behörde hatte dabei die Absicht, die schwachsinnigen Kim
durch die Nebenklassen imterrichtsfähig zu machen und für den Hau
Unterricht vorzubereiten; den zurückbleibenden Kindern sollte durch' ^
Sonjderunt'erricht eine Bildung fürs Leben mitgegeben werden. Da jede
von allen in Nebenklassen behandelten Kindern nur ca. 8 bis 9 Ph»
zurückversetzt werden konnten, so sah man sich genötigt, für die 1
Ziehung der Nebenklassenschüler die zweitgenannte Absicht als Hauptmn
zu bezeichnen. Damit erkannte man aber die Selbständigkeit der \
Ziehung Schwachsinniger an. Infolgedessen biUigte die Behörde der Neb
klasse mehr Unterrichtsstunden zu, als ursprünglich (12) angenommen wu
ließ sie kleine Schulorganismen von 2—6 Klassen entstehen, ließ sie
Kinder einer Schule in Handfertigkeit unterrichten, schwerhörige Schwa
sinnige in einer besonderen Klasse belehren, gewährte sie einzelnen Lehrt
Reiseunterstütztmgen zum Besuch auswärtiger Hilfsschulen und erhöhte
endlich die Anzahl der Nebenklassen, so daß Berlin gegenwärtig 1020 Kind
(622 Kn. u. 498 M.) in 78 Nebenklassen Sonderunterricht zuteil werden lä
(Seit 1. April 1903 ca. 1300 Kinder in 90 Nebenklassen.)
2. Voraussichtliche Weiterentwickelung: Die bisher
Entwickelung des Hilfsschulwesens in Berlin zielt auf die Ehirichtt
von Hilfsschulen. Die gegenwärtig bestehenden Nebenklassen müsseü
unvollkommene Einrichtung angesehen werden, weim man als Ziel i
Schwachsinnigen-Er^iehung die Ausbildung der betreffenden Kinder tu tii
liehen Gliedern der Gesellschaft anerkennt. Nur eine Hilfsschule i
mehreren aufsteigenden Klassen kann den nach Art imd Alter verschied
artigen Kmdem die zulangende Bildung und Erziehimg geben; für Neb<
klassen, die oft in so viele Abteiltmgen zerfallen, a£s sie Kinder umfas»
ist es eine Unmöglichkeit. An einigen- Stellen sind insofern schon /
Sätze zu Hilfsschulen vcrtianden, als man mehrere Nebenklassen zQ ei»
Schulorganismus in einedi Schulgebäude vereinigt hat. Gegenwäctig :Stdi
nur noch 14 Nebenlüaäs^ isoliert. Unter den Bedenken, die man gog
MitUÜungm.
«in« Z«Qtralisienuig der Nebenklassen m Hilfsschulen geltend macht, hat
nur das der lUiimlrage für Berlin eine Bedeutung. Ein Hilfsschuigebäude
imL0te für mehrere Stadtteile aentral gelegen sein und müßte geeignete
Häuine bieten. Für eine %'ollkoaimen eingerichtete Hilfsschule sind auüer-
dem 211 fordern: Hof, Spiel halle, Turnhalle, Brausebad, Werkstart für
Hajidarbeit, Schulgarten, genügende Anschauungsmittel und eine reichhaltig
ausg:€stattete Lehrerbibliothek. — Beiijglich der innern Organisation
der Schwachsinnigen-Eniehung treten folgende Neuerungen gegenwärtig m
Kraft oder sehen ihrer Einführung entgegen : Bei der Auswahl der
sct"wachsmmgen Kinder aus der Masse der Volksschüler dient der Ber-
lin, er Personalbogen ab Unterlage. Derselbe bietet Raum für Fest-
stell ungen in der Volksschulklasse, für die Resultate der ärztlichen Unter-
sticHung, für fortlaufend zu vermerkende Beobachtungen während der Hüfs-
scliiilenichung, und iwar seitens des Lehrers und seitens des Arztes* und
encUich Raum für Notiien über die Weiterentwicklung des Kindes nach
der Schulieit. Bei der Überweisung der schwachsinnigen Kinder in die
Nel>eRklasse sind tätig: der Lehrer der Volksschulklasse, der Rektor der
Vollfsschule^ ein Ärat imd der Schulinspektor. Das Urteil des letzteren ist
mleut auschlaggeb end. Die Personalbogen verbleiben bei der Schule, um
eoftretendenfalls dem Gericht imd dem Militär als Ausweise übergeben
werden zu können. — Die Feststellungen in der Volksschulklasse sollen
Idinfüg auf dem Personalbogen eine Ergänzung erfahren^ insofern nämhch
a^^ch die Resultate der Beobachtung wahrend der ersten vier
'W'ochen des Hilfsscbulunterrichts mit verzeichnet werden
töUen; man hält eine Fixierung der positiven Kenntnisse im Lesen, Schreiben»
Eechnen und Memorieren für notwendig, Aufzeichnungen über den An*
^chaüungskieds una den Sprachreichtum der Kinder für wünschenswert. —
Wih^nd bbher der Überweisung eines Kindes in eine Nebenklasse ein
™ei jährig er Besuch der Volksschule vorausgegangen sein musste^ soll von
bP^ ab ein halbjähriger Besuch genügen, wenn dann bereits
W Feststellung des Schwachsinns möglich ist. — Der Lektionsplan
'Oll, einschliesslich der Spiel- imd Arbeitsstunden, ca. 24 Stunden um-
fassetL - Die schwerhörigenSchwachsinnigen und die Sprach-
^*biechl er werden in besonderen Klassen unterrichtet. Man beabsichtigt,
für diese KtiKler, entsprechend dem Grad ihres Leidens, Vorbereitungs*
•^ J Ässc n und Heilkursc einzurichten, — Für die nochntcbtunter-
^Uhtsfähigen Kinder, die meist der Hilfsschule von dem Eltcm-
^'^ direkt überbliesen werden, soll eine Vorbereitungsklasse
^^ eigentlichen Hilfssch ulklassen vorausgehen. Nach ^f^ jährigem oder
"^itrem Besuch dieser Klasse sind die betr. Kinder der Hilfsschule m-
führen, — Die Hilfsschule zerfällt in 3, bezw. 6 aufeinanderfolgende
Steifen, Für größere, körperlich entwickeltere Kinder ist später, wenn viel-
'*'<At auch in Deutschland die Schulpflicht der schwachsinnigen Kinder
^^ mm 16, Lebensjahre ausgedehnt worden ist oder wenn sich in einer
}^'kk\^ mehrere Kinder finden sollten, deren Eltern einen über das 14.
^tnsjahr ausgedehnten Schulbesuch wünschen, der Hilfsschule eine Klasse
gen, in der die Kinder, nach Geschlechtem getrennt, nur einige
^eitschf in IIb- fi&difogtsche Pi>'chologlep Fctiiologie und Hygiene. 9
130 MiUeäungm.
Stunden am Tage unterrichtet werden, damit sie sich während der
Zeit der Erlernung eines Berufes widmen können. — Die Sem<
berichte, die bisher in ungleichmäßiger Form und nach ven
scharf beleuchteten Gesichtspunkten abgefaßt wurden, sollen in
nach einem Formular aufgestellt werden. Am Schluß des Sem«
an die Behörde zu berichten: 1. über die Entwicklung jedes e
Kindes (1. Formular), 2. über den Bestand der Klasse, den Stun<
die behandelten Lehrstoffe, Ausflüge und Spaziergänge, methodi»
obachtungen. Anzufügen sind Anträge des Lehrers betr. die En
einzelner Kinder oder ihise Oberweisung in andere Anstalten. (2. Fo
— Für die Entwickltmg der schwachsinnigen Kinder im nachsch
tigen Alter ist eine entsprechende Fürsorge (Einrichtung von Fortl
schulen etc.) in Aussicht genommen. — Zu Lehrkräften an Hi]£
erachtet man solche Lehrer als besonders geeignet, die sich aus
Beruf der Schwachsinnigen-Erziehung widmen und die entsprechen
kenntnisse auf psychologischem und hygienischem Gebiete und a
des Handfertigkeitsunterrichts besitzen. *~ Die Hilfsschule muß eim
ständigen Leiter unterstellt werden. — Zur Förderung der Hi
Pädagogik ist ein Zusammenschluss aller beteiligten Pädagogen zu wi
3. Methodisches: Ziel des Unterrichts und der Ei
schwachsinniger Kinder ist die Erwerbsfähigkeit und die sittliche
keit; darum ist eine praktische Gestaltung des gesamten Unterric
wendig. Die bisher gebräuchlichen Memorierstoffe sind geringer
werten als die Stoffe des Anschauungsunterrichts, die das Kind 1
bar in die Praxis des Lebens einführen. Der Anschauungs-Unten
der wichtigste Gegenstand im Unterricht der Schwachsinnigen,
zu beleben und zu vervollständigen durch Spaziergänge, Spiele im
und im Zimmer, Handarbeit und sonstige praktische Übimgen. I
schauungs-Unterricht bildet im Unterricht der Schwachsinnigen e
sammenlassung der Realien und hat z. B. auch elementare Belel
über Rechtsgrundsätze zu bieten. Eine besondere Beachtung ist (
thode der Vorbereitungskurse zuzuwenden. Das Sonderziel diesei
ist, die Kinder zu einer größeren SelbstdiszipKnierung ihres Denki
Verhaltens zu erziehen, damit sie im Unterricht der Hilfsschule die
xa fordernde Selbstzucht üben können. — Der Hilfsschule fehlt heu
ein nach praktischen Gesichtspunkten bearbeitetes Lesebuch.
4. Beachtenswerte Untersuchungsresultate:
Grundlage für eine zusammenfassende Darstellung des Wesens vom S
sinn bilden die Einzelbeobachtimgen jedes Lehrers, die darum von
ordentlichem Wert sind und deren geordnete Darstellung und V<
Hebung zu wünschen ist.
II. Zur Charakteristik des Schwachsinns würden Feststellung
den Anschauungskreis \md den Sprachreichtum der Kinder von Be
sein. Der methodische Weg zu diesen Fixierungen wäre noch festzn
III. Die medizinischen Untersuchungen haben die körperliche !
Mit^üungm-.
131
und die schwer« erbliche Belastung: emes hohen Prostentsatsres der
icliwacligiiiiiigeii Kinder erwiesen.
IV. Die Untersuchungen über das Milieu haben in denj meisten Fallen
lui Feüstelluii^ einer andauernden wirtschaftlichen Schwäche des elter-
lichen Hausstandes gefühlt* A, F.
Im AnschluB an obige Ausführungen ging uns folgender Aufruf zu, den
' der Beachtung der Leser besonders empfehlen :
Ew. Hochwohlgeboren
wir unSf beifolgenden Aufruf tat Begründung eines
^ftiehung^- und Fürsorge. Vereins für geistig lurück*
gebliebene (schwachsinnige) Kinder
der ganx ergebenen Bitte tn überreichen, genehmigen zu wollen^ daß
^^ ätsch Ihren Namen unter den Aufruf setzen.
Da uns bereits die unten verzeichneten Persönlichkeiten ihre Namens-
ßMcnchrift gütigst zur Verfügung gestellt haben, so hoffen wir, daß auch
Sie dieses gemeinnützige Werk unterstützen werden, und bitten daher, uns
kldiiidgtichst Ihre geneigte Zustimmung zu erklären.
fn größter Hochachtung ganz ergebenst
Dr. Fischer» Stadt^ und Kreisschul Inspektor, Arno Fuchs, Lehrer.
Gaedingr Stadt* und Kreisschulinspektor*
)t. von Giiyeki, Stadt- ymA Kreisschul mspektor. Henstorf, Rektor.
Franz Pagel^ Fortbildungsschul -Dirigent Schwermer, Lehrer.
Stubbe, Stadt* und Kreisschulinspektor,
hroti, Landgerichtsrat. Dr. A. Baginsky, Direkt, d. Kaiser u. Kaiserin
ch*Kiader- Krankenhauses, Professor an der Universität. Dr, K. Beer-
prakt, Arzt. Alfred Boehm. v. Borries, Polbeipräsident von Bertin.
dl, Geh, Oberregierungsrat und Vortrag. Rat im Kultusministerium.
Fiber, GeneraJsuperimendent und Probst von Berlin. Feder, Pastor,
tedrich, Superintendent. Dr, Freund, Geh. Oberrcgicrungsrat und vertrag.
tm Minist erium d. Iimem, v. Gersdorf f, Pastor, Professor Dr. Gersten^
g» Stadtschutrat. Dr. Ginsberg. Professor Dn Glatiel, Stadtverordneter.
Gönel, prakt. Arzt. Haase, Stadt- und Kreisschtilinspektor. Professor
A Hartmann, Sanitälsrac. Dr Hausen, Stadt- und Kreisschulinspektor.
Peter Jessen^ Direktor der Bibliothek des KÖnigl Kunstgewerbemuseums.
Johannsen, Lehrerin. Professor Dr. F. Jolly^ Geh. Medizinalrat. Frau
crbiiTgermeister Kirschner. Knobtauch, Direktor des Böhmischen Brau-
ftttsts. Professor Dr, v. Liszt, Geh. Regierungsrat. Dr, Lorenz^ Stadt ^
^d Kreisschulinspektor, Lucanus, Viiepräsident des Königtichcn Provin-
"ul'StiuiyeQil^^'jmus j^y Bertin. Frau v. Manius. Dr. E. Mendel^ Pro-
'ttiOf an der Universität. Mietz, Lehrer Professor Dr, Moeti, Geh. Me-
^imm, Direkt, d. städt. Irrenanstalt Heoberge. Rudolf Mosse, Vcr-
^libuchhäfidler und Rittergutsbesitzer. Neuber^ Prälat» FürstbiscbÖfl. De^
Probst bei St. Hedwig. Dr. Nawratzki, prakt. Artt an der Irren-
Idbtcri'AnsiaU in Dalldorf. Siegfried Ochs, Professor, Direktor des
iilhannon. Chors. Bcrthold Otto» Schriftsteller. Katharine Otto, Lehrerin,
9*
132 MüUüungen,
Pape, Lehrer. Dr. Friedrich Paulsen, ordentl. Professor an der Univenkit
Piper, Erziehimgsinspektor an der Idiotenanstalt in Dalldorf. Fxi Ramni'
lack, Lehrerin. Dr. Reicke, Bürgermeister von Berlin. l>r. Sander, GeL
Medizinalrat, Dir. d. städt. Irren- u. Idioten-Anstalt in Dalldorf. Sdbei|^
Stadtrat. Stier, Stadt- lind Kreisschulinspektor, KönigL Schnliat. Dr.
Strecker, prakt. Arzt und Schularzt. Professor Voigt, ProvinzialsdialiiL
Professor Dr. Waetzoldt, Geh. Oberregierungsrat und Vortrag. Rat im
Kultusministerium. Frau Staatsminister Elise Gräfin v. Posadowsky-Welmcr,
Exzellenz. F. Wende, Leiter der IL kaufm. Fortbildungsschule zu Berlin.
Wefing, Bildhauer. Otto Wenzel, Direktor der Berufsgenossenschaft der
ehem. Industrie. Dr. Wulf, Stadt- und Kreisschulinspektor. Dr. Zwidi;
Stadt- und Kreisschulinspektor, Kgl. Schulrat, Mitglied d. Reichstages.
Aufruf.
Für jeden Menschenfreund besteht darüber kein Zweifel, daß di&
sozial-wirtschaftlichen Umwälzungen der Neuzeit nachteilige Einflüsse anf
die Jugenderziehung ausgeübt haben. Manches alleinstehende oder übel-
beratene Menschenkind erliegt den neuen, ungünstigen Entwickelungs- nd
Existenzbedingungen und geht für Zeit und Ewigkeit verk^-en.
Diese Tatsache berührt jeden Menschenfreund aufs tiefste, besonder
wenn er der Kinder gedenkt, die von der Natur mit einem schwaches
Geiste ausgerüstet sind. Nicht begabt mit körperlicher Kraft und Ge>
waqdtheit, schneller und richtiger Überlegung, nicht selten behaftet taH
einer krankhaften Anlage, oft nicht ausgebUdet in den allereinfachstfi
und allemotwendigsten Kenntnissen und Fertigkeiten, hervorgegangen a»
oftmals sehr kümmerlichen Verhältnissen, und doch mitten hineingeitdll
in den Kampf des Daseins, müssen viele dieser geistig Minderwertigen be*
sonders nach der Schulentlassung, von der unerbittlichen Härte des G»
Schicks erfaßt und aufgerieben, ein Spielball der Verf ührungei^
ein Opfer der Not, derAusbeutung und der Laster wcvdeo,
müssen sie, getrieben von den Verhältnissen, durch Verbrechen gegei
Leben und Eigentum, Meineide, Auflehnung gegen die
staatlichen Sicherheitsorgane, gegen die militärische
Disziplin in Konflikt geraten mit' den Strafgesetzen und endet
im Arbeitshaus, Gefängnis oder Zuchtbaus, müssen ne lo-
mit eine Gefahr werden für das Wohl des Einzelnen und der Gesamtheit
oder eine Last für die Armenpflege in Gemeinde und Staat.
Die bürgerliche Gesellschaft ist durch gewisse Zeichen der Zeit, durch
den Verlauf mehrerer Gerichtsverhandlungen aus den letzten Jahren, durch
die medizinische Wissenschaft und endlich durch die Pädagogik mit alleffl
Nachdruck auf die Notwendigkeit einer Sondererziehung der geistig zurüd*
gebliebenen Kinder hingewiesen worden. Die Behörden unserer Reiche*
hauptstadt und der meisten größeren Städte Deutschlands haben diese
Notwendigkeit erkannt und lassen die geistig zurückgebliebenen Kinder
in Nebenklassen oder Hilfsschulen besonders unterrichten und erziehen.
Die Erfolge, die bei einer entsprechenden Behandlung der Schwachsinoigea
bis heute erzielt wurden, haben die Überzeugung befestigt, daß eine g^
MiOeäungen, 133
te und allseitige Erziehung an diesen Kindern Wunder wirken, sie
eligiös-sittlichem Gemüt, intellektueller Bildung und technischer Fertig-
n den Grenzen ihrer Beanlagung ausrüsten, sie fest machen gegen die
afe der späteren Entwickelung und also heranbilden kann zu brauch-
I, z. T. sogar zu selbständigen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft
die Pädagogik ist auch zu der Überzeugung gekommen, daß sie
lie Hälfte der zu leistenden Arbeit vollführen kann, daß sie zur Völl-
ig ihres Werkes der tätigen Mithilfe edler Menschenfreunde aller
le und Berufe bedarf.
Darum mfen die Unterzeichneten alle diejenigen, welche ein Herz
i für die geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Jugend tmd mit-
en wollen an einer gesunden Weiterentwickelung unserer Volkszustände,
lem Zusammenschluß auf!
Durch gemeinsame Arbeit wollen wir in dem neu zu begründenden
ziehungs- und Fürsorgeverein für geistig zurück-
gebliebene (schwachsinnige) Kinder
'heit schaffen auf theoretischem Gebiete, und zwar
das Wesen der geistig Zurückgebliebenen, die beste Unterrichts-
Erziehungsmethode und die geeignetste Organisation der Er-
lg. Aber wir wollen uns auch praktisch betätigen, direkt und sofort
Rpirtschaftlichen Elend, der körperlichen, geistigen und sittlichen Not
Kinder steuern, imd zwar durch die Einrichtung von Pfleg*
iftenund fachmännischen Beiräten. Den Schwachsinnigen
:6nftig nicht nur eine verständnisvolle, gediegene Schulerziehung zu
erden, sie sollen auch, je nach Bedürfnis, bezügl. ihrer körperlichen,
l^en, sittlichen und wirtschaftlichen Lage, bei der Wahl des Berufes,
geeignetsten Lehrherren und Dienstherrschaften, bei gerichtlichen An-
i und bei der militärischen Ausmusterung treu beraten tmd in Sttmden
iot, der Anfechtung tmd Atifregung, in der Zeit der gefährlichsten
le ihrer Entwicklung überwacht und geführt werden.
VlTer eine rührige Hand besitzt oder ein Scherflein übrig hat, der
Be sich den Unterzeichneten an, melde sich als Pfleger, fach-
pischer Beirat oder als Arbeitgeber oder erwerbe durch
ag eines jährlichen oder einmaligen Beitrages die Mi t-
dschaft des Vereins.
Ifitbürgerl Menschenfreunde! Erbarmet Euch auch
er Armen!
^
Bibliotheca pädo-psychologica
von
Leo Hirschlaff.
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a. Allgemeines.
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Sdiriftleitiing: F. Kemtict, Berlin NW., Panlstr.33iiiid L. HirtchUff, niilliiir.f JUwiiHr i
^O##MOO99OM0#OMO969#(MO9O9^09O#####i '
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AJlrin «tht, »♦ttii s Ainthei CT i;. K A S f » L D I N»Ltii. i
Jahrgang.
W03
HeHJ.
Zeitschrift
lOr
Fädagoaiscl)e P$yci)olofije!
Patboloak UDd Hygiene.
Ferdinancf Kemsies qtkJ Leo Hinichlaff«
^==r Inhalt von Heft 3,
V' Ml cmr^mnriEt, Zur Vü^laciendtfri Psycbfilogie tier
A jc1i£, BcolüdiltiJiceii dt ^^vidiiinni^ai Kindern.
^. ifCcutsiei itpd 4. Clttn«p&ctr Ober Rci^ketiltiLmilii'r-
iltiisfii9l»eri<!iti&
Birlitt — Er/ithangv n Fi^ rannte- Vemn L K^^tig /uiikk^hikbetit: i'^liKicii^
fFiiuife) Kinder xu Betlin.
B«rlellt» iifiil &«ft|tf«cliiitiK«ti*
Hne> Mag«0(^ — K* Stid;f* Meäiincii Kelter. K. HsiuJu«.
Aäolf Hpimc. - Robert Sddd,
Zur Entsteh Ufi£ der Spraciie iftul Hqgria^Ü Jutig des Ktaücs
BERLIN S.W.
Hrrntaan Watthcr, VcrUgsUuclihandtiing
JlbrUai crffcktloM 6 IltfU i i ti biifviK
Prm: I. a \l J,iUr|^cij{ 4 Mk. 0 TR. )lJ)jrfiaii|£ ir ff. > ML id.-
'^ 190:
Hygiama
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hJerdüidl nkhl ÄlIrmiliL"' AMf-jfrt}^" S.'ft-^i'Sf'l'irf rniÄv.
iJch MTit einet kcillr v«i* |.if' li.i;klt-
DHJj^krtl: Um £ejiuii4ieit i>
wJKbsendeJuj^CTict ini Fj:i:[KiJtlirli für Sefiiilklitilrr wft^n:
Q^hjilln nn tlkfi i' S'Aliritolitjr« die für dlt tn\witkUm' ■
krÄftlgefi Kürficfs tv» iJ
Jittig^e MidcHert, BlelehvHcIttlg« mtul Bkttnrfnie bfs;liirfrn
^Nygtajna"
StuiSlcreiide imuI geistig «Mige^li^figt ArlvHttndc Tindrn <n
du IticM ¥«rUjiHUdtei Niltimificl» v
Kfirtc sdijiell iu crsctrtTJ und neitt i
Prei» d»r % Büchse ; 5W) Qr. }nh. Mk 2,4ö, tirr »/, HVivSkw Mk. hfiCTi
Vorrfttig tri vlcrn inelftni Apoiheldvn iiitd Drofi^rleit, aoim 4lnkt dmrtl
Dr. Theinhardt's Nährmittel -Gesellschaft
Cann statt a. Neckar.
Nervöse, zurückgebliebene,
anormale Kinder,
Knaben und Mädchen, ifinden
angemessene Pension,
Erziehung und Unterricht
bei
Dr. Kemsies
Berlin N. W., P. ■ ^^
Schöneberg bei Berlin
HauptstrMte Nr. 106.
Zeitschrift
für
Fädaaofilscbe f $ycl)ologie,
Patl)oloaie und l^yglene.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlatf.
Jahrgang V. Berlin^ Aug:ust 1903. Heft 3*
Zur veritlelchenden Psychologie der
Sprachstörungen«
Vortrag; gehaSten in der Psychologischen Oesell Schaft zu Berlin
am 16. 7- 1903.
Von Hermann Out7.mann.
Meine Damen und Herren 1 Das neugeborene Kind begrüßt
^it Schreien die Welt, und dieser erste Schrei, so freudig er
^''^ den Eltern willkommen gehei&en wird^ hat an sich
US besonderes Melodisches. Er ist krähend, kreischend,
^t»gerissen, und wer sollte ihm von vornherein ansebenj daß
cüe Grundlage für die spätere Entwicklung einer so kompli-
;cn Fähigkeit wie die der Sprache abgibt. Der Schrei des
^^ndes ist seine erste Lautäußerung. Ganz allmählich zeigt
*'^li aber auch in dem Schreien eine Abstufung, es zeigt sich,
"^ß das Kind bei verschiedenen Gelegenheiten versdiieden
s^Hreit, und eine erfahrene Mutter oder Wärterin weiß recht
'Ohl, was das Kind mit seinen verschiedenartigen Schreien
"^•^-.-11 will. Wenn die Periode der Unlustgefühle, die bei
^ ■ > ugling die ersten drei Monate fast vollständig beherrscht^
^^^i^ijber ist, so fangt er an mit den Beinen zu strampeln und
^' ein, mit den Händen zu fassen und an den Bewegungen
' .-. Muskelapparates Vergnügen zu finden. Zu diesen Be*
^^gtingen gehören auch die des Sprechapparates und der Säug-
***^ unterhält sich daher auch mit der Produktion eigenartig
gelallter Laute wie ,,papapa", ,^bababa*', ,,mamäma*\ „nanana**
^ Ä, m. Diese erste Lautproduktion des SäugUngs ist nichts
weiter als eine Lustäußer ung^ er findet Vergnügen an seiner
lelUdurifl tär r*^EOIi«>i« Psychologie, Pathologie and Hygietie 1
162
Hefmann GuUmmtn.
Umgebung und reagiert durch die gelallten selbständigen La.m
Produktionen auf diese Empfindung* Das Mutter herz bat v^-c
jeher den ersten gelallten Lauten des Kindes besondere !]^^e^
deutung beigemessen, und so kommt es, daß infolge des U wm
Standes, daß die ersten Laute fast stets Lippen- und vord^Te
Zungenlaute sind, fast in allen Sprachen der Welt die Wörter
„Vater** und ,,Mutter": Papa^ Baba, Mamaj nana oder so äliiJi-
lich lauten, Sie finden „Papa" und „Mama^' bei den Balcsi.lri
in Zentralbrasilien, Sie finden es bei den Buschmännern ^lx^d
Hottentotten. Manchmal sind die Vater- imd Muttemamen aüci
einsilbig, manchmal finden Änderungen statt dadurch, daß \r^r-
schiedene Vokale die verschiedenen Geschlechter andeuten* so
im Mandschurischen; ama und ämä. Manchmal heißt auch der
Papa — Mama und die Mama — Papa usw. usw,
Das Lallen des Säuglings können wir als die erste Vor-
stufe der Sprache bezeichnen. Später kann man bald beo*)-
achten, wie der kleine lallende Mensch Freude und Vergnüg" ^ii
an seinen eigenen Lautproduktionen empfindet, er kreiscrlit
manchmal vor Vergnügen auf ; Sie sehen also, daß seine eigen^^^
Lautproduktionen positive Gefühlstöne, Lustgefühle in ihm ^^'
wecken.
Bei der Weiterentwicklung der Sinne horcht das Ki'^^
nun auf seine Umgebung, d. h* es hört aufmerksam^ es t>^*
obachtet seine Umgebung, d. h,, es sieht sie aufmerksam aJ^'
mit der besseren Ausbildung der Sinne, mit ihrer besser ^^
Verwertung erwacht dann sehr bald ein starker, kräftiger Tri^ "^
der der Nachahmung : das Kind will das, was es hört, auch na*^ ^'
ahmen. Natürlich wird es auch hier die Laute am frühest^^
nachahmen, die am leichtesten zu bilden sind, und so entwick^*
sich allmählich das Nachsprechen des Kindes.
Die eigentlich innere Seite der Sprache, das Verstand^^^^
für das Gesprochene, ist bei dem Kinde weit früher entwicl^^^^|J
als selbst das Nachsprechen, denn ein achtmonatliches Ki*^
— wer selbst Kinder beobachtet hat, wird das besiätig^^**
können — versteht schon vieles und reagiert durch Anderu*^^
der Blickrichttmg oft sehr deutlich auf die vorgesprocher^^^
Worte. Allmählich aber wird auch das Nachsprechen bess^*
und aus der Nachahmungsperiode entwickelt sich nun die letx^*
Periode, die mr Vollendung führt, das spontane Sprechel* *
die Sprache wird zum Gedankenausdruck des Kindes.
^r T^r^idchenäen Fsyckohgie der Spr^ckstSrung^r$.
163
Ich habe Ihnen die Entwicklung der Sprache des Kindes
kufi vorgeführt, weil man so am besten sehen kann, wie sich
eigentlich psychisch die Sprache aufbaut. Wir haben zunächst
dis Entwicklung des sensorischen Zentrums der Sprache d. h.
desjenigen Zentrums, in dem die Wortklänge abgelagert sind,
so daß sie immer wieder erkannt werden können. Das Kind
versteht, wie schon gesagt, bereits frühe eine ganze Anzahl
von Worten; man weiß ja, daß kleine Kinder manchmal bis
lum meiten Jahre noch nicht selbständig sprechen, aber eine
beträchtliche Menge von Wonbegriffen von ihnen aufge-
speichert werden und sie diese an den Wortfclängen wieder
erkennen. Ich wünschte wohl, daß einmal ein tüchtiger psy-
chologischer Arbeiter sich daran machte, ein Lexikon von den-
jenigen Worten aufzunehmen, die ein Kind versteht, ehe es
selbständig spricht. Das wäre viel wertvoller und wichtiger
als die schon öfters verfaßten Lexika von den Wörtern, die
das Kind zu einer gewissen Zeit, z* B, Ende des zweiten Jahres,
spontan spricht und selbständig anwendet.
Mit dem Wort klänge verknüpfen sicH natürlich die Teil-
^''Erstellungen der verschiedenen Begriffe, also optische,
^l^üstische, taktile, olfaktorische, gustatorische, barästhetische,
^nnästhetische etc* etc. Teilvorstellungen«
Nehmen wir als Beispiel den Begriff „Glocke", Dieser
^t vielleicht für ein Kind noch nichts weiter als die akustische
J^ilvorsiellung, weil das Kind erst den Glockenklang gehört
J^ Hermann GuUfrumn.
hat. Es sieht dann eine Glocke und hat nun die optische V
Stellung. Es faßt die Glocke an und hat die taktile und thei
ästhetische, wenn es die Glocke hebt, auch die barästhetisc
Vorstellung. Vielleicht bildet sich auch die Geschmacksv
Stellung durch Berühren der Glocke mit der Zunge.
So entwickelt sich der Begriff nicht auf einmal, sond<
allmählich und wird durch die Erfahrung immer genauer c
geengt. Mit den Teilvorstellungen des Begriffes ist der W<
klang alsbald mehr oder weniger stark verbimden.
Das ist die erste große Assoziation, die sprachlich
bildet wurde, es sind diejenigen Bahnen, die am stärksten
uns allen ausgebildet sind. Wenn wir ein Wort hören,
das wir einen bekannten Begriff besitzen, so wird imwei^
lieh auch der Begriff erweckt, wenn wir überhaupt die A
merksamkeit auf den Wortklang richten. —
Das Kind spricht nun allmählich nach, d. h. es bildet <
motorisches Zentrum bei sich aus, es fängt an, seine Spra
Werkzeuge nach dem sprachlichen Vorbilde zu üben,
plappert zunächst vielleicht sinnlos das Vorgesprochene na
hat also noch keine Verknüpfung mit den Teilvorstellung
der Begriffe. Es lernt aber allmählich durch Vergleichen i
den Klangvorstellungen, die es gewonnen hat, die Worte rieh
sprechen und verknüpft nun auch diese motorischen Spra
Vorstellungen mit denTeilvorstellungen der Begriffe. So bildet s
der gesamte Kreislauf der Sprache aus. Wenn das Kind anfäi
selbständig zw sprechen, so kann man manchmal im Zweifel s<
ob das motorische Zentrum von den Teilvorstellungen der \
griffe aus direkt, oder ob es indirekt über die Klangvorstellunj
erregt wird. Vieles spricht für das letztere. Die Bahnen ni
lieh, die von den Teilvorstellungen der Begriffe zu dem hk
rischen Sprachzentrum gedacht werden können, sind an s
außerordentlich schwach und locker. Wenn wir auf der Stn
ein Pferd sehen, also in uns die Vorstellung „Pferd" err
wird, so brauchen wir durchaus nicht gleichzeitig an den W«
klang oder an die Wortbewegung „Pferd** zu denken, es geni
daß wir das Pferd sehen. Spricht aber jemand von ein
Pferde zu mir, so wird durch die Wortklangvorstellung ai
notgedrungen der Wortbegriff erregt, ich stelle mir dann,
wie ich das Wort „Pferd** höre, auch ein Pferd mehr oc
weniger deutlich vor.
Zur vtr^iaichenä^i I^ychah^ d^r Sßra£ks0rHng'^n.
165
Es sei nun ferne von mir, etwa mit diesen Zentra, die ich
Ihnen hier hingemalt habe, bestimmte Stellen der Hirnrinde
darstellen zu wollen» ich will mich auf die Lokalisation an dieser
Stelle nicht einlassen. Es ist aber gut, wenn man ein der-
artiges Schema festhält, weil man so bequemer alle die mannig-
faltigen Störungen der Sprache überblicken kann,
k Wenn wir nun noch einmal auf das sensorische Sprach*
'lentrum zurückgehen, so besteht es ja natürlich im wesentlichen
aus den Kiangvorstellungen der Worte, aber nicht allein aus
ihnen, denn das Kind achtet immer und unter allen Umständen
lüf den zu ihm sprechenden Mund ; es nimmt also auch optische
Vorstellungen der gesprochenen Laute in sich auf, und daß
wir alle diese optischen Vorstellungen in uns aufgenommen
haben, das sehen wir manchmal in überraschender Weise, ohne
daß wir uns dieser Dinge bis dahin bewußt w^aren. Wir sehen
ei daran, daß wir einen Menschen viel besser verstehen, wenn
wihn ansehen, wir sehen, daß, wenn wir im Theater sitzen und
einen Schauspieler nicht verstehen können, wir fast unmittel-
bar das Verständnis hervorrufen, wenn wir das Opernglas auf
den Mund des Darstellenden richten* Es ist gleichsam eine
latente Ablesefähigkeit, wir erkennen an dem uns durch das
^Opernglas genäherten Munde die Lautbewegungen und über^
etzen sie in die Lautklänge,
Wir müssen also eigentlich das Perzeptionszentrum der
Sprache teilen und rwei Zentra daraus machen und zwar ein Klang-
atnim — wir wollen es A nennen und ein Sehzentrum, wir
ollen es O nennen, zu dem zwei Bahnen führen, eine durch
Gehörnerven, den acusticus und eine durch den Sehnerven,
fl^fl opticus. Es sind aber auch dies noch nicht alle peripher-
impressiven Bahnen, wir haben noch eine Bahn, die sehr wichtig
^* vielleicht die wichtigste von allen. Sie liegt nämlich in
frselben Bahn, die peripber-expressiv vom motorischen Zen-
_J^um zu den Sprechw^rkzeugen führt, nur muß sie als peripher-
%€ss!ve Bahn rückläufig gedacht werden. Wir drücken das
der Figur durch einen zentralw^ärts zeigenden Pfeil aus.
^^^M ich spreche, so brauche ich nicht zu hören und zu sehen
^s ich spreche — letzteres könnte man jederzeit im Spiegel —
doch weiß ich, daß ich spreche und was ich spreche,
pfethcn Sie für sich selbst ganz unhörbar das Wort „Baum**
^^s, so fühlen Sie, wie sich zunächst die Lippen aufeinander-
1^ Herfnann Gutzmann.
setzen, wie Sie den Mund in die verschiedenen Vokalsu
des a und u bringen und wie die Luft beim m durch d
fließt. Offenbar sind es die Berührungsgefühle und <
schiedenartigen Lage- und Bewegungsvorstellungen
tikulationswerkzeuge, die Ihnen Kunde davon gaben,
eigentlich mit Ihren Sprachwerkzeugen anfingen. Wir
also notgedrungen eine peripher-impressive Bahn, die
Sprachwerkzeugen ausgeht, annehmen, die uns darüber
was wir eigentlich in jedem Augenblick mit Zunge,
Gaumen, Kehlkopf etc. etc. tun. Ich behaupte, daß die
die allerwichtigste deswegen ist, weil sie eigentlich d
troUeur unseres Sprechens ist.
Man kann inuner lesen, daß das Gehör der Koi
der Sprache ist. Freilich, das Gehör bringt uns Ku
das, was wir gesprochen haben, mit der Sprache unse
menschen übereinstinunt. Aber es ist durchaus nicht d
troUeur, denn seine Kontrolle käme ja immer zu spät, sie
ja erst dann, wenn man gesprochen hat, nicht im S]
Im Sprechen selbst haben wir zum Kontrolleur der Bt
nur die vorherbezeichneten verschiedenen Arten des
sie sind imsere intensivste und direkteste Sprachvori
Eine vollständige Empfindungslähmung der Sprachw<
würde eine schwere Sprachstörung hervorrufen.
Nun gehen mit den akustischen, motorischen und o
Eindrücken der Sprache natürlich auch Gefühlstöne
und so \vie das Kind sich freute über die lallenden Lau
die es hervorbrachte, so hat auch der ausgebildete erw
Sprecher gewisse Gefühlstöne, die sich mit seinen aku:
optischen und taktilen Sprachvorstellungen verknüpfe
Beim Kinde handelt es sich besonders in der ers
der Sprachenentwicklung um vorwiegend s i n n 1 i c h e G e
die teils treibend, teils hemmend wirken. Diese sinnlichen
wirken, wenn auch nicht so deutlich, auch bei der Spn
erwachsenen Menschen. Dazu treten aber in viel st
Maße die intellektuellen Gefühle: ästhetische,
und sittliche Gefühle. So wird bei dem ausgebildeten S
der begleitende Gefühlston von verschiedenen Umstäi
hängig sein, deren einige ich Ihnen hier nur kurz anfüh
Schon der allgemeine körperliche und seelische
wirkt außerordentlich merkbar auf die Sprachprc
Zur V€rgMch€nätn P^ch&iag^ dir Spfaeksiorungen.
167
N
^
^
weniger merkbar auf die Perzeption ein. Der Inhalt des Ge*
sprochenen hat naturgemäß die allergrößte Einwirkung auf den
Gefühlston, Weniger deutlich erscheint von vornherein der
Einfluß der Form des Gesprochenen. Wer aber selbst einmal
vor einer Versammlung frei gesprochen hat, und sei es nur bei
Gelegenheit eines Toastes gewesen, wird wissen, wie sehr der
Cefühlston von der Leichtigkeit, mit der man gerade seinen Ge-
danken wort liehe Form zu geben vermag, abhängig ist, wie
der erhöhte^ positive Gefühlston dann seinerseits befreiend^
tieibend und bahnend wirkt, wie der herabgesetzte, negative
Cefühlston bei schlechter, wenig befriedigender Formfindung
seinerseits hemmt und das VVeitersprechen erschwert. Jeder
von Ihnen wird diesen Kampf, dieses Wogen der Gefühle kennen
gelernt haben, wenn er einmal gezwungen war, Ausführungen
in einer fremden Sprache zu machen, die ihm nicht ganz ge-
läufig war. Wie froh war er, wenn er seinen Gedanken im
fremden Idiom solche Form zu geben vermochte, daß der Aus-
länder ihn ohne Mühe verstand, %vic fühlte er die Hemmungen
bei der Wortempfindung schwer, kam es ihm doch vor, als ob
eine Last ihm vom Herzen fiele, wenn er den gesuchten Aus-
druck endlich hatte! Ganz besonders empfindet man dies im
fremden Lande, wie man andrerseits nach genügander Aus-
bildung in der fremden Sprache geradezu schwelgt und jede
Gelegenheit sucht, seine Kenntnisse an den Mann zu bringen.
Auch die LTmgebung hat wesentlichen Einfluß auf unseren
Gefühlston beim Sprechen, der lebhaft schwankt, je nachdem
uns unsere Umgebung angenehm oder unsympathisch ist* Das
ist selbst bei dem Zwiegespräch der Fall. Der Stimmklang,
die Schnelligkeit oder Langsamkeit des Antwortenden, die
Fornij in der uns Antwort ^erteilt wird, und vieles andere gibt
d^r Perzeption einen mehr oder weniger starken positiven oder
negativen Gefühlston mit. Wer ruhig und wohlklingend, gut
*ccentuiert und deutlich spricht, dem hören wir gern zu, der
beeinflußt auch unsere Antwort in gleichem Sinne ; der blasierte^
^selnde, undeutlich und abgerissen parlierende Schwätzer
stitnint unseren Gefühlston so stark herab, daß wir uns unter
l^'^ständen nicht einmal zu einer Antwort aufraffen können*
*^^^z absehen will ich hier von peinlichen Situationen u. a. m.
Wenn nun alles dies schon bei dem Normalsprechenden
^ Wesentlich einwirkt, so werden die Verhältnisse noch viel
]58 Hermann GuUmann,
komplizierter bei Sprachstörungen. Daß die negativen Gefüh
töne hier überwiegen, erscheint von vornherein klar, und dcx
gibt es auch hier Ausnahmen, wie wir alsbald sehen werde*
Wenn Sie wieder auf das Schema blicken, so erscheint di
Einteilimg bei Sprachstörungen in peripher-impressive, zentral
imd peripher-expressive als die natürlichste. Wir wollen nu-
einige aus jeder dieser drei Gruppen von Sprachst^
rungen nicht nur in bezug auf die Störungen ihrer Bah
nen und Zentra, sondern auch bezüglich der bei ihnei
auftretenden Gefühlstöne uns etwas näher ansehen. Vo:
vornherein muß ich dabei auch gleich bemerken, daß eine auc
nur annähernde Vollständigkeit in einem Vortrage nicht ei
reicht werden kann. Es kann sich heute also nur darum handeb
Ihnen einen Überblick über die Mannigfaltigkeit und Vielseitij
keit dieser Erscheinungen zu geben.
Beginnen wir zunächst mit den peripher-impressive
Sprachstörungen, so ist die bekannteste derselben di
Taubstummheit. Sie entsteht, wenn entweder von Gebu:
an Taubheit vorhanden ist oder im Kindesalter, im viertel
fünften Jahre, manchmal noch später, Taubheit eintra
Es kann sogar noch Taubstummheit entstehen, wenn di
Taubheit vor der Pubertätsentwicklung, also vor dem 14. Jahn
sich einstellt. Nun, der Taubstunmie würde ja, wenn wir uu
ein Bild seiner Sprachstörung hier nach unserem Sehern
machen wollen, die akustische Bahn und damit notwendige:
weise die akustischen Teilvorstellungen entbehren. Er kan
aber eine große Reihe von anderen Teilvorstellungen aufbauei
die die Begriffe mit Ausnahme der akustischen Teilvorste
lungen sehr wohl bilden lassen.
Die Erziehung des Taubstummen ist bekannt : er lernt m
den beiden peripher-impressiven Bahnen, die ihm noch übri
sind, der optischen und der taktilen, seine Sprache entwickeh
so daß er imstande ist, wenn er die Taubstummenanstalt durcl
gemacht hat, so viel zu sprechen und so viel vom Munde de
Sprechenden abzulesen, daß er sich im Leben verständige
kann, daß er also als praktisch brauchbarer Mensch in da
Leben hinausgeht.
Bei dem kleinen Kinde und auch bei dem in der Schul
befindlichen Taubstummen zeigen sich nun sehr wenige Sti
rungen in bezug auf die Psyche. Das Kind empfindet noc
Zur vergleichenden Psychologie der Sprachstörungen. 169
nicht viel von seinem Mangel. Gleichwohl merkt man, mit
welcher Freude ein taubstummes Kind das erste Wort spricht,
wenn es gelernt hat, was dieses Wort bedeuten kann, denn bis
es dahin konmit, macht es ja eine Menge von rein mechanischen
Artikulationsübimgen. Nehmen wir an, es handle sich um das
Wort „Baiun". Das Kind hat die Vokale a und u sowie ihre
Verbindung zu „au", das b und das m artikulieren gelernt, es
fühlt die Explosion bei b, sah, daß die Lippen dabei geschlossen
und geöffnet werden, fühlte daß die Nasenwand beim m er-
zitterte, sah und fühlte die Bewegungen der Artikulation und
des Stinunorgans bei a und u. Nun kann es die Verbindung
„Baum" nicht nur sprechen, sondern auch vom Munde des
Lehrers „ablesen". Es fehlt also nur noch die Verknüpfung
des mechanischen Sprechvorganges mit dem Begriff „Baum".
Diesen Begriff hat es aber schon, die Verknüpfung wird mittelst
eines Bildes oder eines wirklichen Baumes hergestellt. Der
Lehrer zeigt auf den Baum und spricht „Baum". Das Kind
»igt ebenfalls und wiederholt das Wort. Dann leuchten seine
Augen und das Kind freut sich seiner Erkenntnis. Es freut
sich, wenn es zimi erstenmal „Papa" und „Mama" sagen und
^ar mit Verständnis sagen kann. Es zeigen sich da recht
starke positive Gefühle und die Freude teilt sich ja auch den
Angehörigen des Kindes mit.
Anders verhält es sich mit einem erwachsenen Taub-
stummen, Er merkt doch die unangenehme Lage, in die ihn
sein Übel bringt. Aber das ist nicht bei allen der Fall, ja es
gibt sogar Taubstumme, die sich für bevorzugte Menschen
Wten und die von der Überzeugung durchdrungen sind, daß
^, was sie leisten, mehr ist, als was andere leisten. Sie
l^ben ein gewisses Selbstbewußtsein, das sich darauf gründet,
^ sie, obwohl mit weniger Sinnen ausgerüstet, zu den gleichen
Leistungen befähigt sind, wie die Vollsinnigen. Der Ausfall
^er akustischen Bahn ist aber für den gesellschaftlichen Ver-
kehr ein großer Mangel und der Taubstumme hat deswegen
einen gewissen horror davor, sich den anderen Menschen anzu-
schließen. Er ist nüt Vorliebe mit Taubstummen zusammen, höchst
sehen heiratet er eine Hörende, meist eine Taubstumme. Daß
^urch die Nachkommenschaft nicht bevorzugt wird, ist ja
klar. Andererseits ist der von früh auf Taubstumme bei
^eitern nicht so schlimm daran, als der Ertaubte und Schwer-
t
170 Hermann Gutzmann.
hörige, dessen Leiden erst nach voller Entwicklung der Spra
später entstand, denn dieser kennt den Wert des Gehörs, \
weiß genau zu schätzen, was er verloren hat.
Die zentralen Sprachstörungen, von denen ich:
einige, die wichtigsten und häufigsten, hier besprechen möcl
sind zum Teil ebenfalls auf direkte schwere Zerstörungen der
treffenden Bahnen und Zentra zurückzuführen. Manchmal
das aber auch nicht der Fall. Eine Sprachstörung, die auf
ordentlich verbreitet ist und die man überall hören kann,
in den Schulen außerordentliche Störungen bei Entwicklimg \
Unterricht der Kinder macht, das Stottern, zeigt zunäc
keine Zerstörung irgend einer besonderen Bahn, es sind i
Bahnen vorhanden. Auch die Verknüpfungen zwischen sei
rischem Zentnmi und den Teilvorstellungen einerseits, zwisc]
diesen und dem motorischen Zentrum andrerseits sind ^
banden. * Nur gelingt es ihm nicht, von dem motoriscl
Zentnmi aus die Bewegungen der Sprachwerkzeuge so
zu koordinieren, daß die Sprachwerkzeuge richtig ineinam
greifend funktionieren. Es scheint so, als ob die zu einer koo
nierten, gut abgestuften Bewegung nötige normale Hemmu
die stets vorhanden sein muß, ihm fehlt. Man kann oft höi
daß der Stotterer unter gewissen Umständen ganz fließ<
spreche und nur zu gewissen Zeiten stottere, z.B. wenn er in \
legenheit gebracht wird oder wenn es sich imi eine bestimi
Sache handeln, die ihm peinlich ist. Es ist aber ein Irrtum
glauben, daß der Stotterer in den anfallsfreien Zeiten wirk]
richtig spricht. Das tut er nie. Ich selbst habe sehr zahlrei
Stotterer nicht bloß gesehen, sondern behandelt und monateh
in meiner Gesellschaft gehabt, weit über 3000, und kenne sie a
in allen Einzelheiten recht genau. Ich habe nie einen Stotte
gesehen, der dann, wenn er glaubte, fließend zu Sprech
wirklich fließend sprach und wirklich gar keine fehlerhaf
Bewegungen machte. Man muß nur genau untersuch
Nimmt man die graphischen feineren Untersuchungsmetho<
zu Hilfe, so findet man auch bei scheinbar fließendem Sprecl
falsche Bewegungen, sie sind nur nicht so auffallend, wie b«
wirklichen Anstoßen. Ich identifiziere demnach Stottern ni
mit Anstoßen. Es kann jemand stottern, ohne anzustoßen,
habe eine ganze Anzahl Stotterer behandelt, die niemals
gestoßen haben, wenigstens nicht in meiner Gegenwart.
Zur vergUuhemiim Psyck&hgi^ der Sprachstärungvn,
171
sagten, sie fühlten einen eigenartigen Zwang der Sprache» es
ginge nicht so frei, wie sie eigentlich wünschten. Ich bemerke
dabei^ daB das meist Erwachsene waren, die nur durch große
Willensanstrengung es dahin gebracht hatten, die stärksten
Anstöße zu unterdrücken.
Das Stottern ist ein proteusartiges ÜbeL Ich kenne nicht
Ewei ganz gleichartige Stotterer, ja es kommt vor, daß
mehrere Geschwister stottern, daß es einer vom andern gelernt und
doch jeder seine Eigentümlichkeiten hat. Immerhin kann
man die Gesamtmasse der Stotterer nach gewissen Gesichts-
punkten gruppieren, eine Gruppierung, die für die psycholo-
gische Beurteilung der einzelnen Fälle sehr wichtig ist. Erstens
gibt es eine Gruppe von unaufmerksamen Stotterern ; die finden
Sie besonders bei den stotternden Schulkindern, Diese Kinder
fernen, wenn sie die Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Vor-
gänge richten, leicht richtig sprechen. Das ist das Gros der
Stotteren Sehr interessant sind solche Stotterer, wenn sie in
die Sprechstunde kommen. Der Knabe, der bis dahin zu
^inea Ehern mit der größten Schwierigkeit gesprochen,
d^r in der Unterhahung mit seinem eigenen Vater angestoßen
^tie, spricht, weil er sich zusammennimmt und weil er eine
g^^wissc Energie anwendet, da er dem Arzt gegenübergestellt
wird, vor dem er meist auch etwas Angst hat, mit großer Auf-
merksamkeit imd — stottert zum größten Erstaunen der An-
gehörigen, die ihn begleiten, nicht. Hier handelt es sich nicht
^tH'a um Suggestion u. dgL Derartige Stotterer stottern auch
^*cht, wenn man sie das eben noch stotternd Gesprochene
Wiederholen läßt. Das sind diejenigen Stotterer, bei denen die
*^^nimreisenden Routiniers und Charlatane ihre Scheinerfolge
^i*2ielen, Erfolge, die natürlich nicht von Dauer sind, da zur
Behandlung eine intensive Beeinflussung der gesamten Energie
des Patienten gehört* Das läßt sich nicht in ein paar Wochen
^reichen^ und das Übel ist nach kurzem Scheinerfolge bald
<^er da.
Die zweite Gruppe sind diejenigen, die ich spastische
•^^otterer nenne^ bei denen die Spasmen so heftig sind, daß
S^rade die geringste Aufmerksamkeit auf den sprachlichen Vor-
^^ng das Stottern her\'orbringt und manchmal ganz ungeheuer-
*^^h verstärkt. Das sind diejenigen Stotterer, die, wenn sie
^ ihre Sprache denken^ nicht von der Stelle kommen. Wenn
w
172 Hermann GuUmann.
sie nicht daran denken, der Willensreiz wegfällt, dann tritt
oft eine Erleichterung und relativ gutes Sprechen ein.
Die dritte Gruppe der Stotterer wird durch diejenigeni
repräsentiert, bei denen im Laufe der Zeit psychische Neben-
störungen eintreten, hervorgegangen aus dem Gefühl der
Minderwertigkeit den normalen Sprechern gegenüber. Das Be-
wußtsein, nicht alles sagen zu können, was man will, infolge-
dessen die Angst vor dem Sprechen, die Verlegenheit, alles
dieses sind sekundäre Erscheinungen. Sie können sehr stark
vorhanden sein, können aber auch vollständig fehlen. Bei
Kindern fehlen sie meistens; ein Kind von vier, fünf Jahren,
wird höchst selten diese psychischen Nebenerscheinungen^
aufweisen. Erst in der Schule ist die Gelegenheit zur Ent-
stehung derselben gegeben, das Kind wird seinen normal-
sprechenden Mitschülern gegenüber exponiert und fühlt dann
seinen Sprechmangel, besonders wenn noch Necken und
Nachspotten der Kameraden dazu kommt. Dann sind die nega-
tiven Gefühle e'ben überwiegend und es ist augenscheinlich,
daß dies seinerseits wiederum auf die Sprache hemmend ein-
wirkt. Es ist wie in einem circulus vitiosus.
Die psychischen Neben Vorgänge können aber auch voll-
ständig fehlen, ja sogar bei erwachsenen Stotterern. Ich habe
eine ganze Anzahl Erwachsener kennen gelernt, die gar nicht
wußten, was Verlegenheit, Angst vor dem Sprechen bedeutet.
So hatte ich einen guten Freund, einen jüngeren, vor kurzem
gestorbenen Dichter, der den meisten von Ihnen dem Namen
nach bekannt gewesen ist. Er war bei mir in Behandlung, die
ihm bei seiner Gleichgültigkeit dem Übel gegenüber nichts
nützte, nach vier Wochen mußte ich sie aufgeben. Er war
aber durch sein Sprachübel durchaus nicht etwa bedrückt, hatte
keine Angst vor dem Sprechen; im Gegenteil. Ich habe nie
gesehen, daß er in einer Gesellschaft gewesen wäre, wo er
nicht das erste Wort geführt und die Unterhaltung an sich
gerissen hätte. Ja, seine Kühnheit und Gleichgültigkeit gegen
das Übel ging so weit, daß er einmal einen öffentlichen Vortrag
gehalten hat, in dem die Zuhörer unendliche Qualen aus-
standen. Er selbst fühlte durchaus keine GSne; dabei war er
ein Mann, der sehr genau über seine Empfindungen Auskunft
geben konnte.
Zur v^rj^leich^HiUn J^cA&iog^t^ der Sprachsti^rung^n.
173
Ein Gymnasial-Oberlehrer, der in meine Behandlung kam,
stotterte furchtbar. Er war in meiner Klinik, dort führte er
das Tischgespräch imd riß die Unterhaltung sofort an sich,
dabei stotterte er so, daß er bei den gewaltsamen Konsonanten-
Explosionen sogar Speichel verspritzte und ich ihm das Sprechen
^imächst untersagen mußte. Dies war ihm aber alles gleich-
ffükig. Er war nur 14 Tage in meiner Klinik; gleich zu Beginn
niußte ich ihm ein Zeugnis ausstellen, daß er in meiner Be-
handlung sei. Als er daraufliin seine definitive Anstellung be-
kommen hatte, erklärte er, daß er nur zum Zweck jenes für
seine definitive Anstellung notwendigen Zeugnisses zu mir ge-
ionimen sei. Jetzt habe er erreicht, was er wollte. Sein Sprech-
übel sei ihm gleichgültig, ihn geniere es nicht, und er ziehe vor,
seinen Urlaub in den Alpen 2U verbringen* — Sie sehen also,
wie verschiedenartig die Erscheinungen bei den Stotterern sind,
Nun zu einer anderen Sprachstörung, der Hörstumm-
heit. Ich erinnere Sie daran, daß das sprechenlernende Kind zu«
nächst nicht spontan spricht, sondern daß sich erst eine gewisse
2eit lang die erregenden Reize im Klangzentrum aufstapeln, bis
s<^hließhch gleichsam der Druck vom Perzeptionszentriim aus
so stark wird, daß das Kind anfängt, zunächst nachzusprechen
*^d dann spontan zu sprechen. Bis zu dieser Zeit ist das Kind
^^Urnrn, es perzipiert nur, was in der Umgebung gesprochen
^i^d. Es* kann nun sehr wohl vorkommen, daß das Kind bei
^^incn Nachsprechversuchen Malheur hat. Es findet beim Ver-
ßJ^ichen mit dem Ohre, daß sein eigenes Sprachprodukt nicht
^ Idingt, wie das, was die Umgebung vorsprach, und das
^'^Ict auf manche Kinder deprimierend, so daß sie manchmal
^^t^atelang stimim bleiben. In allen diesen Fällen ist es gut,
^^^ Kind ruhig sich selbst zu überlassen, es fängt von selbst
*'^'^cier zu sprechen an. Es kann aber auch sehr wohl sein, daß
^^ stark eintretenden Unlustgefühle eine so starke Hemmung
^^^hen, daß die weitere Entwicklung der Sprache zunächst
^^^^lit mehr vor sich geht, und nun bleibt das Kind zunächst
^''^^^nm: es ist hörstumm.
Andrerseits kann es vorkommen, daß es auf die sprech-
^^^^genden Reize nicht stark genug reagiert, daß es selbst eine
"^*^ Faulheit zeigt. Es versteht schon lange alles und erst
E^-Hi allmälilich bequemt es sich endlich, nun auch nachzu-
•^^^^^-ntn, was sich ihm darbietet, und spontan ein Wort hervor
174 Hermann GuUmann,
zubringen. Die Kinder zeigen demnach keine rechte Lust an
der Sprachbewegung. Es ist sehr interessant, daß diese Lust
an der Sprachbewegung bei den verschiedenen Geschlechtem
verschieden ist. Das weibliche Geschlecht zeigt eine weit
größere Neigung dazu und hat viel mehr Freude am Sprechen.
Die Frau ist uns hierin bei weitem überlegen, ihre sprachliche
Geschicklichkeit ist auch in gewissen somatischen Geschlechts-
unterschieden begründet: Daß die Zungenmuskulatur des
Weibes nicht bloß relativ sondern auch absolut die des Mannes
übertrifft, ist offenbar eine Folge der Übung. Das kleine Kind
zeigt schon das Gleiche. Knaben sind sprachlich viel häufiger
gehemmt als Mädchen. Die Unlust ist also sehr häufig eine
Ursache dieser Hemmung, tmd umgekehrt entsteht die Unlust
wieder dadurch, daß das Kind nicht richtig nachsprechen kann
und dies schwer empfindet.
Eine sehr schwer einschneidende Störung ist die moto-
rische Aphasie, wenn durch irgend eine organische Störung
im Gehirn das motorische Sprachzentrum ausfällt. Es ist klar,
daß ein solcher Patient alles versteht, aber nichts nachsiprechen,
noch auch spontan sprechen kann. Die Übungen nun, die man
anstellt, um andere Teile im Gehirn als Ersatz heranzuziehen,
sind in vieler Beziehung psychologisch interessant. Es zeigt
sich nämlich sehr oft, daß der Betreffende schließlich noch
einige Worte übrig hat, daß er beispielsweise ganz gut auto-
matisch Worte anwendet, wie z. B. für die Bejahimg Ja und
für die Verneinung Nein. Ja und Nein sind aber keine gewöhn-
lichen Worte, da sie keinem speziellen Begriffe entsprechen,
sondern sie sind eine automatische Verknüpfung mit Affir-
mation resp. Negation. Das sieht man am besten in diesen
pathologischen Zuständen. Ich habe einen Aphasiker behandelt,
der Ja und Nein richtig anwandte, der aber nicht imstande
war, „Ja** nachzusprechen; das Wörtchen fiel also automatisch
richtig heraus: er wollte bejahen und sagte „Ja", wollte ver-
neinen und sagte „Nein**, war aber nicht imstande, die Artiku-
lation dieser Wort chen willkürlich nachzuahmen. Ebenso bleiben
auch andere automatische Sprachbewegungen häufig vorhanden.
So wird ja leider das Beten unseren Kindern von Jugend auf
mechanisch beigebracht, sie lernen beten, ohne den eigentlichen
Sinn und Gedanken aller Worte logisch zu erfassen. Das Beten
wird zur automatischen Tätigkeit ganz besonders bei Leuten, die
Zur v^rgimck^ftden F$vcköl&^ tUr Sptaekiidntnf^wi.
175
es ^ur Lebensgewohnheit machen, bei Betschwestem oder Berufs*
beierinnen. Dieses rein mechanische Beten kann auch bei
totaler Aphasie bestehen bleiben. So hat ein Assistent von mir
einen Fall veröffentHcht, der sich auf eine alte 73 jährige Dame
mit absoluter motorischer Aphasie bezog. Gab man ihr einen
Rosenkran2, so betete sie Vaterunser und Ave Maria fließend,
aber sie war nicht imstande „Vater** willkürlich nachzusprechen*
Femer ist bekannt, daß das Fluchen sich eigentlich genau ebenso
amomatjsch vollzieht und bei motorischen Aphasien oft noch
gut vorhanden ist. Sagt man „Himmelkreuzschockschwerenot",
so denkt man weder an den Himmel, noch an das Kreuz usw.,
^sondern man macht eine automatische Sprachbewegung.
^m Sie sehen also: automatisch können die Sprechbewe*
■jungen bei motorischer Aphasie vorhanden sein, es fehlen nur
^äie willkürHchen Artikulationen. Von sonstigen psychologisch
interessanten Phänomenen bei motorischer Aphasie will ich
nur eins erwähnen. Wenn man einem Aphasiker, der lange
Zeit, jahrelang, nicht sprechen konnte, durch viele Mühe und
^Arbeit wieder beigebracht hat, ein Wort nachzusprechen, z. B.
^päs Wort j, Stuhl", so ist er damit noch nicht imstandej spontan
^^.iStuhr' zu sprechen. Da zeigt sich denn eben, daß die Bahnen,
die von den Teil Vorstellungen zu diesem neu gebildeten moto-
J^jschen Zentrum führen, doch sehr schwach sind. Dagegen
^nacht er den Klang richtig nach und verknüpft mit dem
Klange auch richtig den Begriff ,,Stuhr'. Daher ist man ge-
^^*^gen, nachdem man das Wort ,jStuhr* mit ihm geübt hat,
a^h noch das Bild, den Begriff „Stuhl** mit der neuen Wort-
b^wegungsvorstellung zu verknüpfen. Das geschieht am besten
^t beim Taubstummen durch Anschauungsbilder. Ich klebe
kleine bildliche Darstellungen in ein Vokabelheft und schreibe
^ zugehörige Wort daneben. Nun muß er Schrift und Bild
^sammenhalten und so wie man Vokabeln lernt, die Ver-
feüpfung des Begriffes mit der neugelernten Wortbewegung
«ioüben.
Die Gefühlstöne sind natürlich rein negativ^ besonders
*CQn der eingetretene Intelligenzdefekt nicht groß ist, empfindet
^ Kranke seine Lage äußerst peinlich, da er fortwährend
ach Worten sucht, sie aber nicht aussprechen kann. Jeder
retfuch mißglückt imd der Kranke verzweifelt schließlich. Es
>äre für ihn aber doch einlach, z. B. „Brot" anzudeuten^ in-
176 Hermann Gutzmann.
dem er die Eßbewegung oder das Brotschneiden mit der Ge-
bärde wiedergibt. Er ist zu ungeduldig, zu eilig, sein Leidens-
zustand veranlaßt ihn zu Bewegungen, die keiner versteht.
Würde ihm zunächst eine natürliche Gebärdensprache für alle
praktischen Bedürfnisse des täglichen Lebens beigebracht, sc
wäre schon viel gewonnen, und die gemütliche Depression würd<
von selbst wesentlich geringer.
Viel schwerer ist die Depression noch bei der senso
rischen Aphasie. Der Kranke, dem das Klangzentrum de:
Sprache fehlt, hört noch ganz gut, er hört z. B. noch Musik
aber er versteht nicht mehr, was gesprochen wird. Die Wort
klänge finden kein Echo bei ihm, sie sind ihm wie das Lau.
gewirr einer ganz fremden Sprache, er ist wort taub. Dies
Patienten sind natürlich viel schwerer dran, weil sie sets glaube^
aus Dingen, die andere sprechen, etwas herauszuhören, w-i
gar nicht gesagt wurde.
Bei bestehenden Resten des Worthörvermögens zeigt si^
häufig eine psychologisch recht interessante Erscheinung. P^
Vorsprechen werden sinnähnliche Worte geantwortet, die Aj-
Begriff zwar nicht ganz geben, aber ihm verwandt sind, t
antwortet der Patient auf das vorgesprochiene Wort „Licht" n
„Lampe**, auf „Tinte** mit „Feder** u. a. m. Oppenheim und W^
phal haben bereits darüber Beobachtungen angestellt, ich hsi.
bei den wenigen sensorischen Aphasikem, die ich behandelt
das Gleiche gefunden. Auch das therapeutische Verfahren bei se
sorisch Aphasischen ist psychologisch interessant. Es bleil
zum Verständnis des Gesprochenen ein Weg übrig, das ist dt
optische. Wenn der Patient diesen bewußt benutzen lernt, daa
ist ihm geholfen. Dieser neue Perzeptionsweg kann ihm durcj
das „Ablesen vom Munde** beigebracht werden und nun ist e
höchst interessant, daß auf diese Weise auch die Reste des
eventuell noch vorhandenen Hörweges weit mehr ausgenutzt
werden. Hatte der sensorisch Aphasische das Ablesen von
Munde einige Zeit geübt, und sprach ich nun zu dem Patientei
so, daß er zwar meinen Mund sah, aber meine Worte nich
hörte, dann ging das Ablesen der Länge der Übung ent
sprechend mehr oder weniger schwerfällig. Ließ ich ihn dam
sich umdrehen und sprach laut, so war die Störung ebenso
stark wie vor Beginn der Behandlung. Er hörte oder appei
zipierte wenig oder nichts. Ließ ich ihn nun sich umdrehen un<
Sur Tergiifthin^n Ps^ohgie der SprachsiSrungwit.
m
sah die Wortbewegungen und hörte die Wortklänge gleich-
£itig, dann ging es mit dem Antworten resp. Nachsprechen
anz glatt. Daraus folgt, daß die bewußte Einübung der opti-
:hen Bahn die Reste der akustischen PerEeptionsbahn resp,
des Ferzeptionszentrums weit stärker zum Anklingen brachte,
als die alleinige Benutmng des akustischen Weges vermochte*
andrerseits unterstützten die Reste des akustischen Weges die
>tjsch€ Wortperzeption ganz ungemein. Es handelte sich also
bei der Anwendung beider Bahnen nicht um eine einfache
Addiiion der Sinneseindrücke, sondern mehr um eine Multi-
plikation.
Der sensorische Aphasiker ist, wie ich schon vorher sagte^
N^'f hst deprimiert, er ist geradezu mißtrauisch gegen seine Um*
geijung. Er hat schwer unter seinem Übel zu leiden und man
kann sich nicht wundern, wenn er infolgedessen ein schwer
reizbarer Mensch ist, mit dem schlecht ist, Kirschen zu essen^
*sonders bei den ersten Ühungs versuchen. Das erschwert
^e Behandlung manchmal in höchst unangenehmer Weise.
Verlassen wir nun die zentralen und werfen noch einen
Ischen Blick auf die peripher -expressiven Sprachstö*
pUBgen, so sind bei diesen physische Störungen nicht häufig
^nzutTeffen. Sie glauben gar nicht, wie gleichgültig es manch
pnem Patienten ist, ob er durch die Nase spricht, ob er lispelt
i^r mit der Zunge anstößt. Es gibt viele Menschen, denen
^s durchaus nichts ausmacht, ja viele, die es gar nicht einmal
Jerken. daß sie einen Sprachfehler haben. So habe ich eine
-■*iiie in meiner Sprechstunde gehabt, die mir ihr kleines Mad-
^^^n brachte, das mit einem sehr schweren Aussprachefehler
-^haftet war. Es sprach das S seitwärts aus. Am Schluß
\^^ Untersuchung sagte die Mutter: ,Jch weisch gar nicht,
^*i wem dasch Kind esch hat!" Sie selbst hatte denselben
[^hler wie ihr Töchterchen, ja noch stärker, es wäre aber
tlich nicht klug gewesen^ ihr das von vornherein zu sagen.
Aber auch peripher expressive Sprachstörungen haben psy-
*>schc Nebenerscheinungen, Gaumenspalten haben raanch-
Ü sehr sichtbare psychische Störungen und eine tiefe De*
J'^^ssion zur Folge, Ich selbst habe leider den Fall erlebt,
^ß ein mit Gaumenspalte J^ehafieter Patient sich wegen seines
»ebrechens im Tiergarten erschoß* Am nächsten Tage stand
Lokalanzeiger, daß er leider lange Zeit vergeblich in meiner
7<ifithrift für pädifio^scli(^ P»ychoIogic, Pathologie und Hy^tcüi. -
^mm
178 Hermann Guitmann.
Behandlung gewesen wäre. Als ich genauer nachforschte,
stellte sich heraus, daß er einem Mädchen einen Liebesantrag
gemacht hatte und dieses ihn seiner Sprache wegen ausgelacht
hatte. —
Ich habe Juristen in meiner Behandlung gehabt, jung^
Referendare, die vorher nie eine Ahnung davon hatten, daß
sie lispelten. Als sie nun bei Gericht das Protokoll verlesen
mußten, und zum deutlichen Sprechen aufgefordert wurden,
kam ihnen plötzlich ihre sprachliche Minderwertigkeit zum ^Be-
wußtsein und sie kamen in tiefer Depression zu mir.
Sie sehen daraus, daß physische Depressionen nicht all ein
mit dem Stottern verknüpft sind, sie können auch bei jedem
anderen Sprachfehler vorhanden sein. Ein weiteres Beispiel:
Vor einigen Jahren kam ein Kommandeur in höchster A.uf-
regung zu mir und erzählte, daß er am Tage vorher seine
siebzehnjährige Tochter auf den großen Garnisonball geführt
hätte. Sämtliche Offiziere hätten sie zum Tanz aufgefordert;
sowie sie aber den Mund aufgetan, seien sie unwillkürlich
zurückgeprallt und sein Kind habe schließlich den Ball weinend
verlassen. Es war ein bildhübsches Mädchen, wenn sie aber
zu sprechen begann, stutzte man wohl oder übel, da sie das
S In einer höchst unangenehmen Weise aus dem rechten Mund-
winkel zischte. Die Depression war groß, verschwand aber
mit dem leicht zu beseitigenden Übel. Vor Jahren habe ich
einen ähnlichen Fall mit dem verstorbenen S. Guttmann be-
obachtet. Der siebenjährige Junge lispelte durch die Nase,
war ein Kind reicher Eltern, so daß er zu Haus unterrichtet
wurde und wenig mit anderen Knaben zusammenkam. Eines
Tages war er auf einem Kinderball. Die Kinder hatten seinen
Fehler bemerkt, böse Buben ahmten ihm nach, er kam weinend
nach Hause, verweigerte Nahrungsauf snahme und blieb meh-
rere Tage stumm. (Aphrasia voluntaria.) Die Übungen, <hc
wir vornahmen, beseitigten nach 14 Tagen das nasale Lispeln
und die psychische Depression.
Psychische Depressionen sind demnach, wie Sie sehen,
bei allen Sprachstörungen vorhanden, auch bei scheinbar sehr
einfachen. Heilt man aber die Störungen, so verschwinden
die Depressionen wie der Schnee an der Sonne, sie sind des-
halb als einfache Folgeerscheinungen anzusehen.
3eobachtungen an schwachsinnigen Kindern.
Vortrag, gehalten im „Verein für Kinderpsychologie" zu Berlin
am 26. Juni 1903.
Von
Arno Fuchs.
I.
M. D. u. H.I Wenn Sie untersuchen wollen, welche Ur-
sachen zu einer Sonderbehandlung der Schwachsinnigen (oder
Schwachbegabten) in der Volksschule geführt haben, so werden
Sie feststellen können, daß es zuletzt die pädagogische Volks-
schulpraxis war, die es ablehnte, die schwachsinnigen Kinder
länger im Verbände der durchschnittlich normal beanlagten
Volksschüler zu behalten. Entmutigt durch die ständigen Miß-
erfolge, die sich bei der Belehrung und Erziehung dieser Kinder
innerhalb der großen Schulklassen immer wieder zeigten, gab
es die Volksschulerziehung auf, schwachsinnige Kinder ent-
sprechend ausbilden zu wollen. Der Umstand aber, daß die
Schwachsinnigen ein Hemmnis für die Erreichtmg eines Klas-
^mieles werden konnten, veranlaßte die Volksschulpädagogik,
die Absonderung zu fordern.
Damit sind jedoch nur die äußeren Ursachen für die Ein-
richtung von Hilfsschulen gegeben. Die tieferliegenden Ur-
*^en sind in dem Aufschwung der deutschen Psychologie
^ suchen, den dieselbe in den letzten Jahrzehnten erlebt hat
^d der auch der Volkssdiulpädagogik in hohem Maße zu-
gute gekommen ist. Durch die Fortschritte der V^issen-
^<4aften, die Verbreittuig der Herbartschen Psychologie in
^ 60/70 er Jahren, durch das sich auf allen Wissensgebieten
^^^Dierkbar machende Streben nach der Feststellung exakter
*orschungsresultate, femer durch eine Reihe sozialpsycholo-
2»
180 ^^"^ Fuchs.
gischer Ursachen sah sich die Volksschulpädagogik zur indi
dualisierenden Belehrung und Erziehung geradezu gedrän
Trotz der in einer Volkssohulklasse damit verbunden
Schwierigkeit suchte man auch hier der individuellen Eig<
art auf die Spur zu kommen und ihr gerecht zu werden. I
dem Überschauen der in den letzten Jahrzehnten erschienen
pädagogisch-psychologischen Literatur ist dieser Fortschritt i
dem Gebiete der Volksschulpädagogik deutlich zu erkenne
Die Bewegung wird Jahrzehnte vorher angekündigt durch <
Pioniere Sigismund und Tiedemann, die von ihrer Z
nicht hinreichend verstanden werden und einer Rettung \
dem Vergessen durch eine späte Ausgrabung bedürfen.
Fluß gebracht wird die Bewegung durch die Herbartsc
Schule, die auf den (gebieten der Psychologie, der Methoc
und Zucht eine außerordentliche Fruchtbarkeit entwicki
Dörpfeld rüttelt mit seinem „didaktischen Materialismi
an dem impsychologischen Verfahren in der Volksschule i:
verbreitet psychologisches Verständnis durch seine Schi
„Denken und Gedächtnis**. Hartmann unteminmit zu F
Stellungen über den Gedankenkreis der Kinder eine Analy
derselben; Lange geht den einzelnen Schritten des Apper2
tionsvorganges nach ; P r e y e r sucht Interesse und Verstand
für die Entwicklimg der Seelenfähigkeiten bei Kindern bis
die Familien zu tragen. Und während nun die z. T. ältei
psychologischen Schriften eines Volkmann, Drobis(
Nahlowsky u. a. allgemeinere Beachtung finden, erwec
das Aufblühen der physiologischen Psychologie (
lebhafteste Teilnahme auch in Lehrerkreisen. Die individus
sierende Pädagogik sucht aber nicht nur die rein psycholo
sehen Probleme zu lösen, sondern auch die erzieherisch(
die der Regierung und Zucht. Dadurch wird sie zum Studii
der Kinderfehler geführt und trifft in diesem Punkte auf c
verwandte Streben der Psychiatrie, den psychischen Eig
tümlichkeiten anormaler und kranker Kinder heilend entgeg
zutreten. Und während nun Männer wie Strümpell, Uf(
Trüper, Spitzner etc. auf einen Ausbau der „pädago
sehen Pathologie** hinarbeiten, auf psychiatrischer Seite Koc
Scholz imd Ziehen die Bearbeitung des Grenzgebie
zwischen Pädagogik und Medizin in Angriff nehmen und ei
lieh zahlreiche Fragen der Schulhygiene Ärzte und Pädago{
Beobachtungen an schwachsinnigen Kindern. |31
zur Untersuchung der physiologischen Schäden und Mängel
an Schulkindern veranlassen, müssen sich Pädagogik und Me-
dizin zu dem Wunsche einigen, diejenigen Kinder, die durch
die bisherige Schulbehandlimg nicht die geeignete Förderung,
Pflege und Erziehung erhalten können, einer geeigneten Son-
derbehandlung überwiesen zu sehen.
Viele große und mittlere Städte Deutschlands kamen
diesem Wunsche im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte nach.
Es wurden Hilfsklassen, Nebenklassen oder Hilfsschulen ein-
gerichtet. Das Kindermaterial nannte man schwachsinnig,
schwachbegabt, schwachbefähigt oder geistig gechwächt, je
nachdem man bestrebt war, der richtigen Bezeichnung zur
Anerkennung zu verhelfen oder auf die Eltern der Kinder
wohlwollend Rücksicht zu nehmen. In Berlin sind seit 1898
Nebenklassen für schwachsinnige Kinder eingerichtet worden.
Jede Klasse zählt ca. 12 — 15 Schüler. Gegenwärtig werden in
ca. 90 Klassen ca. 1300 schwachsinnige Kinder unterrichtet.
Die einzelnen Nebenklassen sind nach Art der einklassigen
Volksschulen organisiert. An einigen Schulen sind mehrere
Nebenklassen zu einem Organismus mit aufsteigenden Ab-
teilungen vereinigt.
M. D. u. H. Sie haben gesehen, daß es im Grunde die psy-
chologische Beobachtung, das Versenken in dieEigen-
^ des einzelnen Kindes gewesen ist, denen das schwachsinnige
Kind heute seine Sonderbehandlung verdankt. Daraus ist leicht
^ folgern, daß die Hilfsschulpädagogik nur dann auf ihrem
Gebiete bedeutende Erfolge erreichen wird, wenn sie diese
psychologische Beobachtung und Vertiefung zum Prinzip ihrer
Arbeit macht, daß aber alle ihre Forderungen, die sie ohne
psychologische Begründung stellen wird, in der Luft hängen
^d niemanden überzeugen werden.
Über Erziehung und Unterricht schwachsinniger Kinder
*st in den letzten Jahren eine große Anzahl von Arbeiten
^röffentlicht worden. Die Mehrzahl der Schriften beschäftigt
^ch mit der praktischen Seite des Hilfsschulwesens, da
"füglich der praktischen Organisation in den meisten Orten
^^ so gut wie alles zu fordern war. Daher haben viele dieser
^bciten nur augenblicklichen, höchstens später einmal biblio-
P^phischen Wert.
l
182 -^fw<> Fuchs,
Theoretische Arbeiten sind spärlicher erschienen ; sie setzen
sich die psychologische Vertiefung in das Wesen der Idioten,
Schwachsinnigen und Imbezillen (Sollier, Ufer, Möller, Wresch-
ner, Heller u. a.) zum Ziel, gehen aber zumeist von Ärzten 3.^s
und berücksichtigen jugendliche und erwachsene Schwach-
sinnige und Idioten zugleich. Über die psychische Entwick-
lung der Schwachsinnigen, die in Hilfsschuleinrich-
tungen behandelt werden, ist noch auffällig wenig 'ver-
öffentlicht worden.*) In pädagogischen Zeitschriften liegen ^virohl
einige Individualitätenbilder vergraben, dagegen bringen <lie
ersten Schriften der Hilfsschulliteratur über die wichtig" ^^^
Frage der Hilfsschulerziehung, die pädagogisch-psychologis<:::he
Beobachtung, außer den landläufigen allgemein pädagogiscl^en
Betrachtungen so gut wie nichts.
IL
Wenn ich nun heute einiges über „Beobachtungen ^
schwachsinnigen Kindern" Ihnen vorzutragen die Ehre h^-^»
so will ich, da das Gebiet der Hilfsschulpädagogik in diesem
Vereine zum erstenmale zur Sprache kommt, nicht da.:*^*^
einsetzen, Beobachtungen über alle möglichen Eigenheiten ^3er
Schwachsinnigen oder den nach Methode imd Resultat v-oU-
kommenen Abschluß einer Einzelfrage zu bieten, sondern ^^
will es als meine Aufgabe betrachten, Sie für das neue Get>^^^
zu interessieren, und das glaube ich am besten tun zu köni»^"'
indem ich Ihnen praktische Beispiele aus meiner pädagogisch-
psychologischen Beobachtung vorführe, die ein Merkmal ^^
Schwachsinns charakterisieren.
Zunächst möchte ich den Damen und Herren, die v^i^'*
leicht der Meinung sind, daß von Beobachtungen an Idioten
oder Blödsinnigen gesprochen werden soll, den Irrtum duf^
die Feststellung der erreichbaren Unterrichtsziele in einer Hü'^
schule nehmen. Die den Hilfsschuleinrichtungen zugehörig'^'^
schwachsinnigen Kinder erlangen im Durchschnitt die Fähigk^^^^
einfache Lesestücke in deutscher und lateinischer Druckschrift
mit einigem Verständnis lesen, sich über kleine Gedankengang^
*) Vergl. meine Schrift: Schwachsinnige Kinder, ihre sittliche und* ^
tellektuelle Rettung. Gütersloh 1899. Sie enthält den Versuch, auf Gn«^^
ausführlicher Analysen schwachsinniger Kindesnaturen das Wesen des Schwm^'
Sinns zu fixieren.
hiungett üH wtkwaCksiHm'g^n Kindern.
183
mündlich und m bescheidenem Umfange und einfacher Form
aiach schriftlich frei ausdrücken, einen einfachen Brief auf-
setzen, sich in ihrer unmittelbaren Umgebung allein zurecht-
finden und einfache abstrakte Rechenoperationen in allen
Sp^ezies im Zahlraum von i^ioo vollziehen zu können. Es ist
^130 möglich, diesen Kindern eine gewisse Selbständigkeit an-
ZT.ieTKiehen, so daß man die Hoffnung hegen kann, die Mehr-
msLhl durch entsprechende Behandlung xur selbständigen Mit*
a^rbeit an den sozial wirtschafthchen Aufgaben der Gesellschaft
einmal gerettet zu sehen.
in allen Schriften über das Hilfsschuhvesen werden Sie
cla.s Bestreben der Autoren beobachten, charakteristische
Ärl erkmale des Schwachsinns festzustellen. Der
Grund hierfür liegt darin^ daß die Auswahl der Schwachsinnigen
^us der Mitte der Normalen nicht imn^er leicht ist, namentlich
Aw-enn sie früher erfolgen soll, als nach einem 2 jähr. Besuch der
Volksschule. Um das Erkennen des Schwachsinns zu ermög-
1^ einen oder zu erleichtern^ hat man die Sprache, den Willen,
die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis mit mehr oder weniger
Glück und Geschick zum Hauptcharakteristikum erheben
Wollen. Nach memer Meinung scheiden Wille und Sprache
aus dieser Konkurrenz ohne weiteres aus; dagegen gewirmen
außer den genannten Merkmalen auch der Konkretismus im
t>enken, der Rythmus im Denken^ die Dispositionsschwankun-
|W, die Sensibilität und die logische Denkfähigkeit an cha-
^^eristischer Bedeutung. Erst wenn eine Bearbeitung aller
dieser Eigentümlichkeiten vorliegt, wird es sich zeigen, ob eine
einfache oder eine komplizierte psychologische Erscheinung
^1* Hauptcharakteristikum angesprochen werden kann.
Wenn Sie das Verhalten und Gebahren eines schwachsiimi
t^ Alenschen beobachten, so wissen Sie, daß der Volksmund
^ür eine bestimmte Bezeichnung hat; er nennt es ,,dumm/*
^^äs bezeichnet das einfach denkende Volk mit diesem Aus-
druck? Es spricht den Gegensatz in seiner Wahrnehmung aus,
^ es feststellt bei der Beobachtung des Denkens und Tuns
formaler und schwachsnmiger Menschen. Bei einem normalen
Measchen beobachtet es in der Regel richtige Wert*
Hhützung, richtige Überlegung, richtige Schluß-
folgtrungen von einer Ursache auf die entsprechende Wirkung
und UTngekehrt, also die Wirksamkeit eines gewissen logischen
184 Arno Fuchs.
Denkens. Mit dem Prädikat ^,dumm** spricht das einfache VoL^Blk
dem schwachsinnigen Menschen die Fähigkeit der richtige
Wertschätzung der Dinge und Zustände und der richtige
Assoziation, also die Fähigkeit des logischen Denken — ms
mehr oder weniger ab.
Wie das einfach denkende Volk den schwachsinnigeren
und normalen Erwachsenen beurteilt, so schätzt es auch di
schwachsinnigen und normalen Kinder ein. Der Gegensatz, de
es wahrnimmt, wird bestimmt durch das Tun und Denken de
schwachsinnigen Kindes selbst, durch den Umstand, daß ähc: _in-
liehe Verkehrtheiten an gleichaltrigen normalen Kindern nic^CT it
mehr beobachtet werden, also das Verhalten zum Alter in W-^^^'i-
derspruch steht, und daß endlich nahezu alle Handlungen d» — ies
schwachsinnigen Kindes den Charakterzug des beschränktesten
Denkvermögens an sich tragen.
Wollen Sie mm das logische Denken der in nachfolgende an
Beispielen geschilderten schwachsinnigen Kinder beobachti^ en
imd sich gleichzeitig das Denken und Tun gleichaltriger nc:^«)r-
maler Kinder als Gegensatz vor Augen halten.
1. Nach Schluß des Unterrichts gehen die Kinder mein«^er
Klasse auf den Flur, um ihre Überkleider anzuziehen. t~ ^^
größeres, sehr imgeschicktes Mädchen kann sich nicht alle^^"i
bedienen. Als ich nun einem 1 1 jähr. Knaben sage, ob er sein^^^
Mitschülerin nicht behilflich sein wolle (von selbst sah er die^==se
Notwendigkeit nie ein), läßt er seine eigenen Überkleid^^^»
die er in der Hand hält, an den Erdboden fallen und komi ^^
mit umständlichem Aufwand an Kraft und übermäßigem Eif "^^
dem Wunsche nach.
2. In der Turnhalle regte derselbe Knabe unter sein^^^^
Kameraden ein Versteckspiel an. Er zählte oberfläcZ ^"'
lieh und ungenau ab und blieb mit dem zum Aufsuchen ve^^^"
urteilenden Schlußwort des Abzählverses bei einem Knabe^^^
haften, der ihm im Augenblick in den Sinn oder in den Wur -^,
kam. Nun rannte er, und mit ihm die übrige Gesellschaft, ^ *^
großer Schnelligkeit und unter zwecklosem, lautem Rufen ds- — **"
von und „versteckte** sich hinter — einer Kletterstange ^^'
3. Merkt derselbe Knabe, daß ihm andere Kinder im Wissc^^^
oder Können überlegen sind, und wird ihm gesagt, er könnr"^^^
etwas nicht, so beruhigt er sich mit dem Trost : Das kann mer' ^
Vater auch!
Beobachtungen an scftwacksinmgen Kindern. 185
4, Will sich die 12 jähr. N. die Winterüberkleider anziehen,
so nimmt sie alles: Hut, Mantel, Handschuhe und Boa, vom
Kleiderhaken mit der rechten Hand, in der linken hält sie die
Mappe. Darauf läßt sie alles an den Erdboden fallen und hebt
nun ein Stück nach dem anderen auf, um es anzuziehen, nicht
selten zuerst die dicken Handschuhe, die dann beim Anziehen
des Mantels wieder ausgezogen werden müssen. (Unverändert
in diesem Verhalten bis zum 15. Lebensjahre.)
5. Ein II jähr. Knabe brachte mir einst einen Blumen-
strauß mit. Er zog die völlig zerdrückten Reste eines ehemals
schönen Sträußchens aus — seiner Hosentasche.
6. Unter der Überschrift „Was der liebe Gott den Weisen
gesagt hat" erzählt der erstgenannte 11 jähr. Knabe: „Der liebe
Gott sprach zu den Weisen im Traume: Mache dich auf und
fliehe mit Maria imd dem Kinde nach Ägypten.** Er selbst
hatte an der Unvereinbarkeit dieser Teile verschiedener Ge-
schichten nichts auszusetzen.
7. Bei der Erzählung vom Wolf und den sieben Geißlein
^ar demselben 1 1 jähr. Knaben das besondere Wohlgefallen
^^ Drastischen vom Gesicht abzulesen, bei der Wiedergabe
^uch sagen zu können: „Die Mutter sprach: Liebe Kinder 1
^*^cht die Tür nicht auf, sonst kommt der Wolf; der frißt
^^ch auf mit Haut und Haarl** Leider verpaßte er beim Er-
*^en die drastische Pointe, spannte jedoch immer noch dar-
^^, sie auszusprechen. Und so gab er den ganzen Abschnitt
^^^ innerem Behagen wieder und schloß mit triumphierender
r^^^e: „Die Kinder sagten: Wir werden schon artig sein,
^oe Mutter. Da meckerte die alte Geiß noch einmal und
ß^g in den Wald — mit Haut und Haar.**
8. Auf die Frage: Was wird bei dem Hausbau zuerst ge-
"^^t? antwortete ein laVsJähr Mädchen: das Dach, ein
^^jähr. Mädchen: der Schornstein.
9. Ein 1 1 jähr. Knabe erzählt aus der Robinsongeschichte
^^gendes: „Nun fuhr das Schiff ab. Robinson sah gar nichts
^^hr. Zuletzt sah er nur noch den Laden (seines Vaters) und
*^ Hausecke.**
10. Ein 1 1 jähr. Knabe war nicht imstande, einen Analogie-
^^iiß ohne direkte Anschauung zu vollziehen. Durch die
^schauimg war die Reihe: „am Arm ist die Hand, an der
^^d sind die Finger** festgestellt worden. Soweit es sich
186 ^^^o Fuchs.
ermöglichen ließ, sollte gleichfalls die Reihe „am Bein ist d^r
Fuß, am Fuß sind die Zehen" zur Klarheit gebracht werde:Än.
Der Knabe erklärte dagegen : „am Bein ist der Schuh." Nacr li
längerer Besprechung fand er sich zu dem Zugeständnisse \> ^-
reit: „am Bein ist der Strumpf."
11. Nach längeren Auseinandersetzungen beantwortete ein.
12 jähr. Knabe die Frage: Warum heißt die PferdebatÄXi
Pferdebahn und nicht Eselsbahn oder Elefantenbahn?
dahin: weil sie auf Schienen läuft.
12. Ein 15 jähr. Knabe wird .angezeigt, einen Apfelr^st
seinem Mitschüler F. an den Kopf geworfen zu haben. Lcrli
frage den Knaben : Was habe ich erst gestern wieder verbot&xx ?
Antwort : Wir sollen nicht werfen. Frage : Warum hast du denn
doch geworfen? Antwort: Der P. ist ja nicht weggegang^r^;
er hat sich ja vorgestellt. — Er hatte, wie sich aus der Unter-
suchung ergab, einen dritten Knaben treffen wollen; im letzten
Augenblicke hatte sich P. jedoch vorgestellt und war getroffen
worden. Es bedurfte einer längeren Auseinandersetzung, ehe ^r
zu der Erkenntnis gebracht wurde, daß nicht das Treffe xi,
sondern das Werfen das zu Verurteilende und ihn S ^^
lastende war.
13. Ein 13 jähr. Knabe schlägt mit der Faust nach eine:^^
Mädchen und hätte es sicher ins Gesicht getroffen, wäre ^^
nicht zurückgezuckt. Als ich nun empört frage, wie er da^^^
komme, so rücksichtslos nach der Frieda zu schlagen, sagt ^^
ruhig: ich habe sie ja nicht getroffen.
14. An Stelle eines schulgerechten Handfertigkeitsunte- ^'
richts lasse ich von meinen Schülern zu Hause Gegenstände^
die im Unterrichte besprochen worden sind, im kleinen a^^'
fertigen. Einst sollten die Kinder, nach dem Beispiele RobiÄ^
sons, ein kleines Floß zimmern. Ein Knabe bringt kein Flc^-^
mit zur Schule und sagt, sein Vater habe gezankt, daß er ^^
viele Nägel verbrauche, und der Bruder habe sein Holz vC^
Feuer geworfen. Da ruft ein 13 jähr. Schüler vergnügt: „Mei^
Vater ist tot; ich kann so viele Nägel verbrauchen, als ich will *"
15. Ein 12 jähr. Mädchen soll einen Tadel über Faulh^i^
von dem Vater unterschreiben lassen. Sie erklärt: Vater w^^
nicht da; Mutter hat unterschrieben.
Frage : Vater ist den ganzen Nachmittag fort gewesen?
Beabachiungen an schwachsinnigen Kindern. 187
A^ntwort: Früh war er da, und abends ist er zum Nacht-
dienst gegangen.
F rage: Am Nachmittag war er also da?
Antwort: Nein, er war beim Portier und hat ein bißchen
geschlafen.
Frage: Den ganzen Nachmittag?
.Antwort: Nein, dann hat er meine Schuhe gemacht.
Frage: Also Vater war doch da in eurer Stube?
A n twor t: Ja, aber die alten hat er gemacht; dann ist er zum
Nachtdienst gegangen.
F r age: Also Vater hätte doch unterschreiben können, er war
doch da; du hast ihm nur das Heft nicht gezeigt.
Antwort: Nein, ich traute mir nicht I
i6. Die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern ist bis
2U Josephs Verkauf sachlich zur Klarheit gebracht, insonderheit
das Verhalten der Brüder durch den Vertragston und durch
scharfe Zeichnimg der einzelnen kleinen Nebenzüge deutlich
herausgearbeitet und der Unterricht auf den sittlichen Inhalt
8©i"ichtet worden. Auf die ethische Konzentrationsfrage: Wer
S^fällt euch in der Geschichte, und wer nicht? — antwortet
dasselbe 12 jähr. Mädchen: „mir gefallen die Brüder nicht, —
'^^il sie den schönen Rock zerrissen haben."
17. Etwas Ähnliches ereignete sich auch bei der Beurtei-
lung des „verlorenen Sohnes.** Es kam mir darauf an, dem
^^rlorenen Sohn ein Lob der Kinder zuzuwenden, weil er zu
sich selber sagt : „ich bin ein schlechter Mensch gewesen etc.** ;
^ch hatte den sittlichen Inhalt des betr. kleinen Abschnittes
deutlich herausgehoben, so daß die Richtung des Unterrichts
ÄUf dieses Willensverhältnis ausschließlich abzielte. Als Ant-
wort auf die Konzentrationsfrage erhielt idh von einem 13 jähr.
Mädchen das Urteil: „Mir gefällt der Sohn gar nicht, weil er
^ic Schweine hüten mußte.**.
18. Bei Behandlung der Geschichte „Joseph wird von seinen
ßriidem verkauft** war nach plastischer Herausarbeitung der
Willensverhältnisse und besonders auch der Trauer des Vaters
^Je Konzentrationsfrage, den Jakob betreffend, gestellt worden.
^Di 12 jähr. Mädchen antwortete: „Mir gefällt der Jakob nicht,
^U er den Joseph am liebsten hatte I** Diese Antwort, die den
Vater verurteilte, weil ihm Joseph sogar im Tode noch das liebste
Kind war, war nur scheinbar geistreich; denn die Frage:
188 '^''»"^ Fuchs.
Woran siehst du denn, daß Jakob den Joseph am hebsten hattes
erhielt als Antwort : Er hatte ihm doch einen bunten Rock g«
schenkt.
19. Zur Freude seiner Mitschüler zündete der iiVtjäh
Ew. Schi, vor dem Unterrichtsanfang in der Schulklasse Streid
hölzer an. Die Kameraden freuten sich über die Illuminatia
und zeigten ihn zum Dank dafür an. Vor meinem Eintritt 5
die Klasse hatte der Bursche schon mit allen möglichen Mitte'
den Rauch beseitigen wollen, „damit Herr Lehrer ja nicta
merke.** Auch hatte er seinen Streichhölzern, die er noch ta
sich trug, die Köpfe abgebrochen und stellte mm auf meli
erste Frage seine Streichholzschachtel mit den Hölzern z
Verfügung, erklärend, er könne es ja gar nicht gewesen s^:
denn seine Hölzer hätten ja keine Köpfe. Diese Köpfe ab
lagen unter seiner Bank. —
Das äußere Verhalten der schwachsinnigen Kinci<
das Mißverhältnis zwischen körperlichem Kraftaufwand \u
beabsichtigtem Effekt, die durch starke Gefühlstöne od
mechanisches Wortgedächtnis gestörte logische Diszip
nierung der Gedanken, der Mangel an logischer Ass
ziation und endlich das eigenartige Aufeinanderwirken d<
logischen und sittlichen Kausalität, alle diese Vorgänge, d
in den voranstehenden typischen Beispielen eine Veranscha^'
lichung finden, sind in gleichem Grade und gleicher Häufij
keit bei 11 — 15 jähr. Normalen nicht zu beobachten; sie ve
raten den „Schwachsinn**, d. h. das schwache Sinnen, Denken
Überlegen. Für jedes einzelne Kind ließe sich die Zahl d^
exakten Beweise eines Mangels im logischen Denken auße
ordentlich vermehren, besonders die Beweise für den Mangf
an logischer Assoziation, und zwar durch BerücksichtiguT
der mathematischen und rein abstrakten Denkoperatione?
Die letzten Beispiele (Nr. 18 und 19), die zwar nur ein*
Rückschluß, aber eine bezeichnende Schlußfolgerung g
statten, daß sich nämlich die logische Kausalität als :
schwach zur Unterstützung der sittlichen erweist (vergl. au^
die Beispiele 12 — 17), legen dar, daß dies Verhältnis der loj
sehen zur sittlichen Kausalität das gleiche bleibt auch t
den raffinierten Schwachsinnigen, die sich in ihrem Chara
ter dem von S ollier geschilderten Imbezillen typus nahes
Diese vollziehen oftmals anscheinend geistreiche Gedankenas^
Beobttchtungen an schwachsmnigen Kindern. |39
sia^tionen und bringen sie z. T. in Bonmots zum Ausdruck. Bei
kritischer Untersuchung der fadenscheinigen Logik ergibt sich
jedoch, daß nicht logische Überlegimg, sondern nur zufällig
glückliche Assoziation zugrunde liegt. Selbstredend tritt der
Mangel an logischer Denkkraft bei den verschiedenen Kindern
in verschieden starkem Grade auf; er verstärkt sich bei allen
in Zeiten ungünstiger Disposition, wobei oft die Gedankenreihen
disziplinlos durcheinandergeworfen werden.
Wenn man die einzelnen Beispiele betrachtet, so könnte
man zu der Meinung kommen, daß sich Ähnliches auch im
Leben der normalen Kinder ereigne, daß folglich den Bei-
spielen nicht Beweiskraft für die Tatsächlichkeit des Schwach-
sinns innewohne und sie selbst ein Charakteristikum zu kenn-
zeidhnen nicht geeignet seien. Dem gegenüber ist folgendes
zu beachten:
Auch normale Kinder begehen logische Verkehrtheiten.
Erfolgen dieselben jedoch in dem genannten Alter von
n — 15 Jahren imd in ähnlicher Art, wie sie in den Beispielen
geschildert wird, so ist die Ursache dieser Inkorrektheiten
nicht Mangel an logischer Denkkraft, sondern Unaufmerksam-
keit oder Unüberlegtheit. Beweis dafür ist, daß das normale
Kind dem Geschehen der offen zu Tage liegenden logischen
Inkorrektheit (in der Regel) eine Selbstkorrektur folgen läßt,
während sich das schwachsinnige Kind (in der Regel) mit
seinem Tun auch später einverstanden erklärt oder die richtige
logische Rückzugslinie, die auf eine Selbstverurteilung abzielt,
nicht findet.
Bei jedem schwachsinnigen Kinde bildet das Täppische,
Linkische, Unlogische im Wesen für die ganze Lebenszeit und
nach allen Richtungen des Denkens und Tuns in stärkerem
^€r geringerem Grade die Regel.
Jedes schwachsinnige Kind ist in der logischen Bewertung
^r zweckmäßigen Richtung seines WoUens und der zweck-
nüßigen Mittel zur Durchführung desselben gegen gleich-
altrige Normale auffällig weit zurückgeblieben und bleibt auf-
ßttig weit zurück.
Aus eigner Energie erwirbt das schwachsinnige Kind nur
^^«nig logische Gewöhnung; die selbsterworbene beschränkt
*di auf egoistische und äußerliche Beziehungen zur Mitwelt.
190 Arno Fuchs,
Ein psychologisch begründetes Erziehimgsverfahren ver-
mag durch entsprechende Belehrung und andauernde, gute
Gewöhnung, deren wichtigstes Mittel in einer anschaulichen,
praktischen Witzigung des Kindes (Empfindenlassen der Folgen
ein'^ logisch verkehrten Tuns) besteht, den Mangel an logi-
scher Denkkraft in etwas, aber nie völlig auszugleichen. —
Zum Schluß möchte ich Ihre Aufmerksamkeit noch auf
einige Fälle lenken, die einen Ausfall oder eine eigentümliche
Verändenmg, bezw. akute Schwächimg der logischen Kausa-
lität erkennen lassen. Außer den sämtlichen geschilderten Ab-
weichungen im logischen Denken und Verhalten sind bei
diesen Fällen noch besondere Eigentümlichkeiten zu beobach-
ten, die nicht allgemein bei allen Schwachsinnigen nachzu-
weisen sind, sondern den betr. Kindern persönlich anhaften.
Diese Abweichungen sind für mich, je nach Art und Stärke-
grad, Beweise für augenblickliche oder dauernde geistige Ge-
störtheit oder vorübergehende psychische Regelwidrigkeiten
gewesen.
20. Die 9 jähr. L. singt und schreit während des Unter-
richts ohne erkennbaren Grund plötzlich laut auf. — Eine
Zeitlang kam sie mir jeden Morgen entgegen mit der stereo-
typen Redensart: „Herr Lehrer, idh habe ein Heft." -^
Minutenlang spricht sie vor sich hin: Herr Lehrer! He^
Lehrer! — ohne etwas zu wollen. — Sie erzählt: „Maria iißd
Joseph gingen in den Stall und — lauerten auf den Bären." "
Als ihr ein Kind bei dem Ankleiden behilflich sein will, ruft
sie: „Laß mich, ich kann's allein! Wir geh'n doch nicht t^
Leichenhalle?** — Während des Unterrichts ruft sie plötzlich-
„Guten Tag, junge Frau, wie geht's?** — Ein andermal: „E^^
Skandal! Ein Skandal!** — stets ohne Ursache und obD^
Zweck. — Sie fragt mich, ob sie mit Legehölzchen spiel^^
dürfe. Aus gutem Grunde wird die Bitte abgeschlagen. D^
ruft sie: „Herr Lehrer! der Wilhelm hat Kopfschmerzen-
Es wird festgestellt, daß dies nicht der Fall ist. Auf <i^J
Frage, wanun sie es gesagt habe, erfolgt die Antwort: „W'^*
ich nicht mit den Hölzchen rechnen darf.** Dann fügt si<
hinzu: „es wird bald vorübergehen.** — Ein Mitschüler dc^
L. sieht ein Bild und sagt: „Das ist Bismarck." Die Echola-hJ
bewirkt bei L. denselben Ruf. Gefragt, wer Bismardc ^^
sagt sie : „Onkel Boas ist Bismarck.** Die Frage wird wied^
Beobachtungen an schwachsinnigen Kindern, IQl
iolt, und sie gibt darauf zur Antwort : „Kaiser Augustus" ; und
lach einiger Zeit setzt sie lächelnd im sächsischen Dialekt
linzu : „Der zweete I** — Für L. gibt es nichts Vergangenes und
licfats Zukünftiges ; ihr fehlt jedes Orientierungsvermögen. Sie
>ekennt sich dazu, alles getan und alles unterlassen zu haben;
de bestreitet alles, was ihr schuld gegeben wird, und würde bei
\ndrohung einer Strafe jede Schuld auf sich nehmen. — Sie
ieklamiert ein Gedicht; ein Anklang führt sie in eine fremde
Strophe, die von femliegenden Dingen handelt; L. spricht ohne
Selbstkorrektur die fremde Strophe zu Ende. — Wenn Sie ihr
Abschriftheft durchblättern, können Sie neben der beachtens-
«^erten Fertigkeit im Abschreiben von der deutschen und lateini-
schen Druckschrift die Eigentümlichkeit beobachten, daß L. oft,
l>evor das erste Wort oder die erste Zeile zu Ende geschrieben
ist, abspringt, ein neues Wort oder eine andere Reihe zu
abreiben beginnt, daß sie niemals einen Fehler zu verbessern
sucht. Vom Inhalt des Abgeschriebenen hat L. kein Bewußt-
sein. — Das Zeichenheft enthält außer einer Reihe von An-
leitungsversuohen nichts, als sinnlose Kritzeleien oder zweck-
lose Anhäufimgen von Vierecken, die alles und jedes bedeuten
*>Dd nicht bedeuten sollen, je nachdem man die Frage stellt.
Diesem Kinde mangelt die logische Kausalität, es ist darum
^dit verantwortlich zu machen für sein Tun. Jetzt ist es
^3 Jahre alt; trotz einer guten Erziehimg im Elternhause ist
sein Zustand nahezu unverändert. Das Kind kann nicht er-
logen, nur gewöhnt (dressiert) werden. Es ist geistesgestört.
21. Wenn Sie die Blätter aus den Schönschreibheften des
J'r. P. imd des W. R. betrachten, so wollen Sie folgendes vor-
W beachten : Jedes schwachsinnige Kind weiß, daß das Schön-
schreibheft ein Reinheft ist, in dem der Lehrer während der
Unterrichtsstunde mehrere Verbesserungen anbringt; es weiß
^, daß seine Arbeit vom Lehrer genau kontrolliert wird. —
Diese beiden Kinder haben nun sehr oft, und zwar nicht nur
^ Schönschreibunterricht, die Eigentümlichkeit offenbart, in
^ gefertigte Arbeit hineinzumalen, zu kritzeln oder zu schrei-
^, die Schrift plötzlich zu verändern, ein Komma bis über
^ halbe Heft zu ziehen, die Buchstaben plötzlich ungeheuer
S^oß, dann wieder verschwindend klein zu schreiben (Fr. P.),
Greine Arbeit immer wieder frisch anzufangen, ähnliche Buch-
^ben und Wörter halb fertig zu schreiben und schließlich sich
t
192 ^^^^ Fuchs.
gleichbleibende Schriftformen die Seite herunter zu wied
holen (Tic). Die Arbeiten auf den vorliegenden Blättern si
von beiden Kindern gefertigt, nachdem die geschilderte Eig
tümlichkeit sehr oft gerügt, den Kindern mit Strafe gedn
und ihnen die Strafe auch wirklich zuteil geworden ist. I
Kinder sind sich während ihres Tuns, das in unbewacht
Augenblicken in Gegenwart des Lehrers geschieht, nicht k
über das Warum und über die Folgen.
Diese beiden Fälle liegen im Gegensatze zu dem erst
nannten bedeutend günstiger, insofern es sich hier nur
ein akut gestörtes logisches Denken handelt. Es erscheint a
nach den bisherigen Erfahrungen fraglich, ob sich di
Dämmerzustände des Bewußtseins durch die Erziehung werc
beseitigen lassen.
22. Schwieriger liegt der Fall Fr. K., den ich Ihnen
letzt vorführen möchte. Sie sehen das Zeichenheft des Fr.
vor sich. Der 1 1 jähr. Knabe zeichnet einen Eisenbahnzi
einen elektrischen Straßenbahnwagen verkehrt, Tiere vertik
Sie sehen femer auf einem später ausgefüllten Blatte, wie i
den Knaben zum richtigen Zeichnen veranlaßt habe, und 1
obachten auf den nächsten Blättern die Rückkehr des Kinc
zu seiner Eigentümlichkeit. Es zeichnet jetzt eine Lokomotr
einen Omnibus und Tiere vertikal, eine Kirdie verkehrt.
Das Kind erkennt die gezeichneten Dinge richtig und hat
der Erledigung seiner Aufgabe auch längere Zeit dana
nichts auszusetzen. D^e einfachsten logischen Schlußfolger
gen, die selbst jüngere Kinder beim Anblick der Bilder <
Fr. K. gezogen haben, setzen bei diesem Knaben aus. (I
Untersuchung und Beobachtung dieses Falles ist noch ni<
abgeschlossen.)
M. D. u. H.l Mit der Schilderung dieser besondei
Eigentümlichkeiten im logischen Denken einzelner schwa
sinniger Kinder habe ich das Ende meiner Darlegungen
reicht. Es sollte mich freuen, wenn es meinen mehr belletri
sehen Ausführungen gelungen sein sollte, Ihre Aufmerksamk
auf das neue und interessante Gebiet der Beobachtung u
Behandlung schwachsinniger Kinder gelenkt zu haben.
über Rechenkünstler.
Von F. Kemsies nnd A. Grünspan.
Die Leistungen sogenannter Rechenkünstler beruhen in der
Regel auf einem außerordentlichen Zahlengedächtnis, das als
angeboren bezeichnet werden muß und schon in der Jugend
den ersten Anlaß zu einer besonderen Liebhaberei für Zahlen
wid Zahlenoperationen gibt. Diese bewirkt nun wieder eine
einseitig gesteigerte Entwickelung der Gedächtnisf xmktionen, die
die Norm beträchtlich überschreiten und in Verbindung mit
omemotechnischen Hilfsnuttehi das Zustandekommen der er-
staunlichen Produktionen ermöglichen. Wir imterscheiden nach
der Art des Gedächtnisses auditive und visuelle Typen, wobei
die Kapazität unberücksichtigt bleibt, und die sensorische Grund-
lage des Gedächtnisses außer Beziehung zu den logischen
Operationen gedacht ist. Da die meisten Rechenkünstler sich
JQehr mechanisch mit elementaren Operationen, wie Multi-
plizieren, Dividieren, Win-zelziehen abgeben, und überdies die
Resultate einer größeren Zahl von Aufgaben stets präsent
kabcn, auch niu" innerhalb gewisser Grenzen arbeiten, so wäre
es folgerichtig, ihre Leistungen als solche des Gedächtnisses)
anzusehen imd jenen Unterschied als grundlegend zu be-
^R^chten, z. B. bei Inaudi und Diamandi. Einen Gegensatz
^ Bmen bilden diejenigen Rechner, bei denen die logischen
^tudctionen in den Vordergrund treten und die Gedächtnis^
'^nteionen sich nur anpassen. Sie sind die eigentlichen Vir-
^^*08cn auf rechnerischem Gebiet, sie gehen ihre eigenen Wege
■ ^ können schöpferisch wirken. Als Vertreter dieses Typus
betrachten wir Ferrol, über den wir hier zum ersten Male
'^tttuüch Bericht erstatten. Über Inaudi und Diamandi findet
PqpcholoilCf PKttiologie mid Hygiene. 3
194
F, Kemsies und A. Grünspan.
man genaue Angaben bei A. Binet, Psychologie des grands
calculateurs et joueurs d'^chec. (Paris 1894.)
Inaudi^) behält 18 Zahlenstellen, welche ihm einmal vor-
gesprochen "werden ; werden sie ihm aufgeschrieben dargeboten,
so liest er sie mit deutlicher Bewegung der Artikulations-
organe leise einmal durch und prägt sie ein, ohne ein mnemo-
technisches System anzuwenden. Er faßt dabei inrntier drei auf
einander folgende Stellen zusammen und merkt die französi-
schen Laute. Er arbeitet also mit Gehörsbildem.
Diamandi^) dagegen läßt sich die Zahlen lieber auf-
schreiben als vorsprechen und sieht sie in Gestalt imd Farbe
vor sich, wie sie auf der Tafel niedergeschrieben sind. Er ver-
mag zehn- bis zwölfstellige Zahlen sich fast augenblicklich ein-
zuprägen, allerdings niemals rein visuell, denn er murmelt dazu
immer leise. Quantitativ bleibt er hinter I n a u d i zuröck.
Inaudi besitzt auch ein gutes visuelles Gedächtnis, das
aber beim Rechnen nicht in Erscheinimg tritt. Gibt man ihm
drei Reihen von Konsonanten ä 4 in ein karriertcs Netz eifr
getragen und läßt sie einzeln der Reihe nadh mit Beachtimg
eines bestimmten Tempos anschauen^ indem man ihm das
Leisemitsprechen tmtersagt, so merkt er die Buchstaben ab
Gesiditsbilder tmd wiederholt von den 12 Konsonanten 7 ri*
tig und vermag auch ihre Stellung im Netz anzugeben. Er
überragt dabei andere Versuchspersonen von akademischer
Bildung. Im übrigen hat er für viele Dinge gar kein Gedächtnis,
weil sie sein Interesse nicht erregen.
Tafel I.
J. Uest
Tor:
q
c :
j
s
: k i
g
d
t
P
m
h
J. behSlt:
1 1
q i £
r" ■
c
j
8 : k
•
II
Ferrol, der von Kemsies nach demselben Versod*'
verfahren, das er schon bei Inaudi angewendet hatte, tai^^'
n Vcrgl. diese Zeitschrift 190K Seite 171 ft, ferner P. J, MSbiifl^ 1^^
die AnlJi^t^ tur Mathematik. Leipsif 1900
»^ Vergt, diese Zeitschrift 190£ Seite 489 fll
Ober Rechenkünstler. 195
sucht wurde, gibt nach einmaligem Vorsprechen von 12 Zahlen-
stellen, ähnlicfh wie Diamandi 9 — 12 richtig wieder. In
diesen Leii^tungen F e r r o 1 s und D i a m a n d i s liegt noch nichts
besonderes; denn mehrere Studenten der Mathematik und
Philologie, die zum Vergleich herangezogen waren, erreichten
wiederholt dieselben Resultate. F e r r o 1 und Diamandi unter-
scheiden sich aber, wie die meisten der bekannt gewordenen
Rechenkünstler, von I n a u d i darin, daß ihnen die akustischen
Bilder leicht entschwinden, und die entsprechenden graphi-
schen Zeichen in der eigenen Handschrift erinnert werden.
Er beschreibt diese Substitution der Gedächtnisbilder folgender-
maßen : Während ich die Gehörsbilder aufnehme, und ich mich
in einem Zustande maximaler Konzentration befinde, wobei ich
die Hand mechanisch seitlich an die Stirn lege, als wenn ich
genauer auf einen Gegenstand blic^ken wollte, ziehen die Zahlen
in der genaimten Reihenfolge in meinem Gesichtsfelde vorüber.
Wurden Ferrol Ziffern in das karrierte Netz geschrieben vor-
gelegt, 90 erinnerte er sich wie vorhin 9 — 12 Ziffembilder.
Wurden sie ihm in einer fortlaufenden Reihe gezeigt, wobei
JÄdi der 4. und 8. Ziffer ein Komma gestellt wurde, so „ge-
^^^annen sie für ihn Leben und machten einen angenehmen
Eindruck" und wurden sämtlich richtig reproduziert. Auch
^ses zeichnet Ferrol aus, daß die Gesichtsbilder der Zahlen
'fir ihn ästhetische Größen sind, daß sie ihm, zu rechnerischen
Gruppen vereinigt, den Eindruck von Blumenarrangements
^chen, und daß sich Farbenempfindungen mit ihnen asso-
^ren; z. B. sieht er, wenn er sich in den Anblick der Zahl
Wieft, die i sichwarz in weißem Felde, die 6 in gelbem Felde,
fe 7 im roten, die 8 im violetten. Die Farbe der Schrift ver-
^g er bei den letzten 3 Ziffern nicht genau anzugeben ; jeden-
falls erscheinen sie ihm nicht in der Farbe des Feldes. Ferner
*^t er beim Merken die Zahlen gewöhnlich zu zweien zu-
s^nimen. Die Assoziation zwischen den Zahlen und Zahlen-
P^en ist nicht immer sehr fest. Daher kommt es auch, daß
^ beim Reproduzieren der Zahlen in der 3x4 Anordnung des
s Netzes oft paarweise umstellt. Beim Merken von Buchstaben
^h den vorigen Versuchsanordnungen zeigt er ein analoges
"erhalten xmd erzielt dieselben Resultate. Ihm steht dabei das
Netz mit den einzelnen Fächern vor Augen, und die Buch-
^ben werden nach Gestalt und Größe erinnert. Er scheint
3»
106
F, Kemsies und A. Grünspan,
also darin Inatidi überlegen zu sein. Was die Quantität
mnemotecHnisch zu merkender Zahlen angeht^ so ver-
mocHte Ferrol bis 700 Ziffern in aufgegebener Anordnung
zu reproduzieren, imd er sagt von sich, daß damit noch nicht
die Grenze seines Könnens erreicht sei ; für ihn gebe es theore-
tiscK keine Grenze. Habe er mit Hilfe seines Systems ein
bestimmtes Zahlenquantum erlernt, so könne er ein zweites
immittelbar darauf in Angriff nehmen, ohne daß dadurch die
Festigkeit des bereits erlernten leide, u. s. f.
Alle drei Rechner sind jedoch imstande. Hunderte von
Zahlenstellen, die in den Aufgaben und Ergebnissen einer mehr-
stündigen Sitzung vorgekommen sind, ohne Anwendimg von
Hilfsmitteln wiederzugeben, weil die Zahlen infolge der inten-
siven geistigen Erregimg, die die Beschäftigung mit ihnen her-
beiführt, sich festgesetzt haben und erst dem Gedächtnis ent-
schwinden, weim neue Zahlen in das Bewußtsein eintreten.
Es wurde auch noch auf Ferrols Gedächtnis für Silben
und Wörter in einigen Versuchen näher eingegangen. 12 Sü-
ben in der 3x4 Anordnung des Netzes (Tafel II) wurden in
9 Sekunden vorgesprochen, die letzte Silbe jedesmal betont
Tafel n.
gut
zein
tra
bli
pin
mer
kel
dan
ter
las
nok
laum
Nach jeder Darbietung schrieb F. in ein Netz, was er behalten
hatte und brauchte im ganzen fünf Wiederholungen für die
korrekte Wiedergabe. Gaben wir ihm an Stelle der sinnlosen
Silben 12 zweistellige 2^ahlen (Tafel III), so merkte er sie bereite
Tafel ffl.
62
U
80
61
20
48
87
94
76
60
26
86
über RedtenkünstUr.
197
li zwei Darbietungen. Endlich sprachen wir ihm lo Voka-
i vor, deren Fremdwörter selbstkonstruierte, sinnlose Laut-
iplexe waren (Lemstück). Er brauchte sechs Wiederholun-
Lernstück.
togir
semba
pefar
funam
livor
Name
günstig
kriechen
dunkel
Früchte
malit
bilirni
wirdo
nufem
Käfer
anders
finden
würdig
wedok Rasen
zur vollständigen Erlemimg, wodurch ein leichtes Wort-
icHtnis charakterisiert ist. Interessant war nxm die Fest-
ung, daß Ferrol, wenn auch kein hervorragend leichtes,
och ein eminent treues Gedächtnis besitzt, und daß er
einmal erlernten Zahlen, sinnlosen Silben und sinnlosen
ter über sehr große Zeiträume festhält Tafel II wurde
erstenmal gelernt am 27. 11. 01, dann am 30. 11. 01
i emmaligem Vorsprechen korrekt wiedergegeben imd am
03, also nadbi i Jahj 7 Monaten spontan zur Hälfte repro-
jrt (Tafel IV) und nach einmaligem Vorsprechen das
Tafel IV.
pin
mer
kel
dan
nok
faum
ce vollständig wiedergegeben, ohne daß F. in der Zwisdhen-
jemals an diese Silben gedacht hatte.
Tafel III wurde erlernt am 27. 11. 01 und am 31. 12. 01,
nach einem Monat, wurden 9 der zweistelligen Zahlen
itan reproduziert. Er sah den Zettel noch innerlich vor
. Von den fehlenden 3 Zahlen kam ihm eine sehr bekannt
die andern beiden waren ihm fremd geworden. Das obige
abellemstück koimte von ihm am 9. 7. 03 nach der 4. Dar-
ang wiederholt werden, so daß eine Ersparnis von 2 Wie-
fcolungen gegen das erste Erlernen des Stückes zu konsta-
ai ist. Diese Ersparnis muß darauf zurückgeführt werden,
ihm die Vokabeln in der langen Zeit nicht völlig fremd
198
F. Ktmsia xmJ A^ GrmmipOM,
geworden waren; denn zur Erlernung einer neuen Vokabel-
reihe hatte er wieder 6 Wiederfaohmgen nötig.
Die Schnelligkeit der Ausführung einfacher Rechenoperar
tionen ist bei allen drei Rechenkünstlern sehr groß, was
sich hinreichend durch die tägUche Übung und durdi
den großen Gedäcütnisvorrat an fertigen Resultaten erklären
läßt. Wir ließen F. zusammen mit zwei Studenten einfadie
Additionsexempel ausführen. Es wurden die 9 Grundzahlen
in beliebiger Folge zu langen Additionsreihen aufgeschrieben.
Die 3 Personen begannen gleichzeitig zu rechnen und mußten
nach je 15 Sekunden, weim ein Signal ertönte, einen Strich
machen und die Summe notieren. Alle drei hatten starke
Schwankungen der Leistungsfähigkeit (vergl. die Linien dec
f.
so
A^^.^f,
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T 1
Figur I), am meisten jedoch Ferrol, bei dem nach m^**'
malen Leistungen starke Depressionen vorhanden waX^^
F. zählte in den ersten 15 Sekimden 36 Stell^i zusamnt»^^
K. 20 imd E. 18. F. läßt mit geringen Schwankungen in ^^
Schnelligkeit nach imd kommt nach Verlauf von zwei Minute^
auf 16 Stellen pro 15 Sekunden, erhebt sich dann wieder io
starkem Auf und Ab bis zu 42 Stellen nach 3 Mmutea 45 ^
1
iden und geKt in der 5. Minute wieder auf 18 herunter. Dfe
fferenz zwischen Maximum und Minimum beträgt also bei
a 42 — 16=26, während sie sich bei K. nur auf 23 — I2«=»ii
i bei E. auf 18 — 7=» 11 beläuft. F. rechnet demnach bei
tsen einfachen, auf ziemlich mechanischen psychischen Vor-
Qgen beruhenden Operationen noch einmal so schnell wie
t beiden anderen Versudispersonen.
Er behauptet freilich, gar nicht zu rechnen, sondern die
•umme zweier Zahlen sofort mit ihrem Anblick zu verbinden,"
ibewußt und unbeabsichtigt; er lege sich noch eine gewisse
Jschränkung dabei auf, da er bei dem Erfassen zweier be-
bigen Zahlen sogleich auch die Differenz, das Produkt, den
lotienten, die Quersunmien, die Logarithmen u. a. mitzudenken
ivohnt sei, die für ihn in bestimmten Richtungen des Raumes
^,Hegen", oder aus der Erde „aufzusteigen" scheinen.
F. glaubt, daß die Schnelligkeit seines Rechnens mit
und 3-stelligen Zahlen imd dieses ungesuchte „Auftauchen"
Resultate, das von ihm als „Empfinden" bezeichnet wird,
seine spezifische Art zu rechnen zurückgeführt
den muß, auf die wir deshalb jetzt näher eingehen wollen.
F. unterscheidet nach der Art des Zustandekommens seiner
^tiltate zwischen schriftlichem Rechnen und Kopfrechnen;
letztere wendet er in Zahlenkreisen bis 1000 000 an und
über hinaus, wenn „Kürzungen" anzubringen sind; das
riftliche Rechnen ist nur noch insofern schriftlich, als er
i Resultat mit den Einem beginnend niederschreibt, imd
IT unmittelbar nach Bekanntwerden der Aufgabe. Während
die Einer notiert, berechnet er die Zehner, indem er sämt-
tie Zehnerwerte der Teilprodukte feststellt und sie sofort
diert. Dasselbe wiederholt sich bei den Hunderten u. s. f.
Beispiele für schriftliches Rechnen:
31
X 12
1X2 = 2 Einer
(2X3)+(iXi) = 7 Zehner
1X3 =3 Hunderter
oder:
31
12
31 31
12 12
. . 2
• 7a 372
200 ^' Kemsies und A, Grünspan,
*1
X 87
• . 4
42
X
X 87
7X2 = 4 Einer + i Zehner
(7X4)+i+(8X2) = 5 Zehner Hunderter
__ (8X4)+4 = 36 Hunderter
• 54"
42
I
X 87
3654
In derselben Weise rechnet F. auch, wenn die Faktoren
von sehr hoher Stellenanzahl sind. Das nämliche Verfahren
wendet übrigens Diamandi an.
Beispiele für Kopfrechnen:
31
X 12
F. behauptet, daß die Bestimmung der Einer aus Einem X
Einem, und die der Hxmderter aus Zehnem X Zehnem zu
einfach ist, als daß für sie bestimmte Zeitmomente aiurusetzen
seien. Es bleibe nur die Auffindung der Zehner übrig aus
Einem x Zehnem, weshalb er hiermit den Anfang macht, also
(2X3) + (IX 0 = 7 Zehner
3 I
X
I 2
Hunderter und Einer schließen sich vom imd hinten an: 372.
Größere Zahlen ergeben Überträge, z. B.: (8x4) + (7x2)
= 6 Zehner, 4 Himderter, die in bekannter Weise der höheren
Stelle zugeschlagen werden.
8 2
X
7 4
also: 6068.
über Rechenkünstler, 201
Beispiele für Kürzungen:
3 2 oder 2 3 oder 2 2 oder 2 2
X X X X
ilj_£ X 2 I X 3 I X I 3
Die 4 Fälle haben das eine gemeinsam, daß 2 Ziffern
gleich sind^ imd deshalb 2 Multiplikationen in eine zusanunen-
gezogen werden können. Statt zu sagen:
(2x3) + (2x1) = 8 Zehner,
sagen wir:
2X3 + 2X1 = 2X4 = 8 Zehner
oder:
i-|-3 = 4, 4x2 = 8 Zehner.
Resultate: 384, 483, 682, 286.
Ist die Summe der zusammengezogenen Ziffern = 10, so
ergeben sich neue Kürzungen:
84 48 44 44
X X X X
X 2 4 X 4 2 X 2 8 K 8 2
Statt zu sagen:
(4 X 8) + (4 X 2) == 40 Zehner,
wird nach obiger Angabe gerechnet:
84-2 = 10, 4x10 = 40;
hl diesem Falle tritt jedoch eine zweite Art der Kürzung ein,
die die obige in sich' aufnimmt, nämlich:
2 X 8 = 16, 16 + 4 = 20 Hunderter.
Resuhat: 2016.
Bei der zweiten Aufgabe:
4 8
X
X 4 2
ss^en wir:
Bei
'rechnet
man:
4 X 5 = 20 Hunderter.
Resultat: 2016.
4 4
X
A 2 8
3x4=12 Himderter,
Resultat: 1232;
202 ^' Kemsks und A. Grünspan.
und bei
4 4
X
X 8 2
9 X 4 = 36 Hunderter,
Resultat: 3608.
Ähnliche Kürztingen finden statt, wenn die Summe d^i
mit der gleichen Zahl zu multiplizierenden Zahlen nicht 10,
sondern 20, 30 usw. ausmacht, femer wenn man nicht &c
Sununen, sondern die Differenzen in Betracht zieht.
Beispiele für Division ohne Kürzung:
41463
8
8X5 = 40; 41—40=1
14—8X1 = 6
•6:5 = 1
51
81
6— i>5 = i
16— iXi = 15
15:5 = 3
41436
51
813
Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, daß F. soviel Opera-
tionen als irgend möglich zusammenzufassen sucht.
Weiteres Zusammenfassen kommt vor bei Addition oder Sub-
traktion von Produkten, beim Wurzelziehen, beim Logarith-
mieren, bei der Bestimmung von Winkelfunktionen.
Diese Art zu rechnen unterscheidet ihn prinzipiell von
Inaudi und Diamandi und befähigt ihn zu noch höheren
Leistimgen, bei denen eine ausgezeichnete Kombinationsgabe
zusammenwirkt mit der Neigung und Übung ztisammen-
zufassen. Es tritt hinzu als förderndes Moment die Kennt-
nis vieler Zahlenbeziehungen, die aufzusuchen für ihn ein
Ober ReOunkÜHStUr. 203
angenehmes Spiel ist, dem er sich gern hingibt. Sobald
zwei beliebige Zahlen ihm genannt werden, denkt er sofort
über die zwischen ihnen möglichen Beziehimgen nach. Wir
fragten ihn nach den Beziehimgen zwischen 36 mid 144.
Er führte über sie folgendes aus: Daß 144 das 4 fache von
36 und beide Zahlen die Faktoren 2.2.3.3 enthalten, schien
mir 80 selbstverständlich, daß ich diesen Umstand garnicht
näher erwähnte; ebenso selbstverständlich war die Teilbarkeit
dieser Zahlen und damit auch ihrer Quersummen durch 9.
Nur daß diese Quersummen beide gleich 9 waren, schien mir
besonderer Erwähnung wert. Beide Zahlen sind Quadrate, die
eine jenes der doppelten Wurzel der anderen. Streiche ich in
der 144 die bei der Teilung durch 36 resultierende Ziffer 4
hinten oder in der Mitte, so bleibt 14; diese aber ergibt in der
3. Potenz 2744, also eine Zahl, die wie 144 mit „44** endigt,
während die beiden ersten Ziffern wiederum 9 als Quersiunme
geben. Es ist ferner 14 = 2X7, drehe ich 144 um, so erhalte
ich 441 =212=^9.7*. Die Zahl 2744 ist = 8-343 = 7'- 8;
i-l_ 2+3+4+54-64-74.8 ist aber 36. 36 und 144 haben gleichen
log sinus und gewissermaßen gleichen log cos (nämlich 9,7692187
und 9,9079576), weil 180=5X36, also 180—36=4.36=144,
sin (180 — a) aber== sin a und cos (180 — a) = — cos a ist. —
Es ist ferner 362=9.144 = 1296, 1442 = 20736. Diese Zahl
endigt mit 36, also zugleich mit der doppelten Quersumme von
36^ und 144», nämlich 18. 36^ = 46656, 144' = 2985984, eine
Zahl, die ich erhalte, wenn ich 36^ mit 64 multipliziere. Die
Zahl 1679616 = 36* beginnt und endigt mit 16; die Wurzel
aus dieser Zahl ist 4, die mit der Quersumme multipliziert
widerum 144 gibt Es ergibt 144* = 16796x6 • 16 • 16 =429981696,
eine Zahl, in der 5 mal die 16 erscheint.
Da Fer r o 1 außerdem den Logarithmus der Primzahlen von
I — 433 auswendig weiß, ebenso den log sin, cos, tg und cotg der
etwa 20 am häufigsten vorkommenden Winkel, femer die Quadrat-
und Kubikzahlen bis weit in die Zahlenreihe hinauf und eine
Reihe von Gesetzen über die Teilbarkeit der Zahlen, so gelingt
es ihm, auf einfachen Wegen zur Lösung von quantitativ und
qualitativ schwieriger Kopfrechenaufgaben zu gelangen. Wir
geben im folgenden vier Beispiele dafür.
I. Gesucht ist die 19,5. Wurzel aus einer 24 stelligen Zahl.
Es ist F. sofort klar, daß er die 39. Wurzel zu nehmen hat
204 ^' -Kiemsies und A. Grünspan.
und das Resultat ins Quadrat erheben muß. Nun ist der
garithmus einer 24 stelligen Zahl hinsichtlich seiner Kennziff«
=»23 bekannt, während die Mantisse sich nach den Ziffern d«
Radikanden richtet Die Wurzel sollte rational sein ; sie war au£
dem, wie F. erkannte, kleiner als 10, und nun erhielt er, inde:
er 23, ... . diurch 39 teilte, 0,5 ... ., welche Zahl auf o,6o2^:z>^
zu erhöhen war, d. h. auf den Logarithmus der nächst höher^^s
ganzen Zahl. Diesen log 4 wußte F. auswendig. Diese Zahl 4
war demnach die 39. Wurzel und demgemäß 16 die 19,5 Wurz^^^X
2. F. wurde die Aufgabe gestellt, die 9. Wurzel aus d^^nm
Produkt von zwei 12 stelligen Zahlen zu ziehen. Bevor ihm dLi<
Aufgabe selbst genannt wurde, stellte er sofort folgende Üb^^x*-
legung an: Da der Radikand 23, höchstens 24 Stellen ha1>^^m
konnte, so mußte die gesuchte Wurzel 3 stellig sein und konrs.'^e
der Zahl der Stellen nach höchstens 500 betragen. Da die
Wurzel aufgehen sollte, und er sich auf das Ausmidtiplizier^ n
der großen Faktoren nicht einlassen konnte, so beschloß ^^x-,
rein rechnerisch nur auf die i . Stellen der Faktoren zu acht^
im übrigen aber deren Teilbarkeit festzustellen. Es konzxi
sich, da die Wurzel unter 500 sein mußte, nur um kleine Teil^
handeln, und da außerdem beide Faktoren von gleicher StelU
anzahl waren, so enthielt wahrscheinlich jede annähernd di^
9. Potenz der Quadratwurzel des Resultates, welche also cir'c:^^
20 sein mußte. Nun wurden die Faktoren genannt; der i. d^"*'"
selben beginnt mit 79. Die folgenden Stellen beachtet F. nic^^t**
mehr und stellt nur durch ihre Addition fest, daß die Z^^^^^
durch 9, die Wurzel also durch 3 teilbar ist. Logarithmis^^^
betrachtet, ließ diese mit 79 beginnende Zahl nur den W^^^
21 zu, eine Erwägung, die F. erst später zur Kontrolle anstell'^^^-
Der 2. Faktor begann mit 32 ; die andern Ziffern wtu-den nicrJ^^
mehr berücksichtigt; F. zieht vielmehr rasch die Summe d^^
log 79 und 32 = annähernd 2.3,608, woraus als WurzellofiT^"
rithmus 2,60 folgt. Die Wurzel selbst ist also nahezu ^o^-
Der Wert 397 ist ausgeschlossen als Primzahl; 398, 396 sit»«
nicht durch 3, resp. durch 7 teilbar, und so bleibt als allein
mögliches Resultat 399. Diese Überlegungen folgten zeitlich
so rasch aufeinander, daß F. nach Nennimg des letzten Fak-
tors auch schon das Resultat präsent hatte.
3. Ein Kapital von 1000 M. soll in 9 Jahren amortisiert
werden. Gegen die ursprünglich festgesetzte Rate wird seitens ^ ^
U
Üiter MechenkünsUer.
205
des Schuldners Protest erhoben mit dem Erfolge, daß seine
Beschwerde als berechtigt anerkannt und der Zinsfuß um Vs ^1^
ermäßigt wird, Dadurch ermäßigt sich auch die Amortisations-
fate um 0,30 t^/o des Kapitals, nämlich auf 131,50 M. Wenn man
nun die Logarithmen einzelner Zinsfaktoren, und zwar 1,0 p,
daiux ijO p 5, femer \^o (p + 1) usw. mit einander vergleicht^
so zeigt sich, daß die Differenzen dieser Logarithmen auf etwa
3 Stellen berechnet, nahezu gleich sind. Infolgedessen werden
3iicli bei einer nicht zu hohen Reihe von Jahren die Diffe-
renzen der Amortisationsraten gleich sein. F. sieht von vorn-
herein von der Verwendung der reg. fals, ab, müßte aber, um
"it5 Differenz der *\mortisationsraten zu erfahren, zwei der-
selben berechnen, wenn nicht, diese Differenz 0,300/0, durch
^»^ Angabe des Kapitals bereits gegeben wäre* Er rechnet
cles^ialb die Amonisationsrate bei einem Zinsfuß von 3 0/0 aus,
nj^d^t die Zahl 128,50 M. und, indem er sie von 1310O M ab-
^^^J^t, die Differenz 3 M. oder 0,30 «»/o. Demnach ist der end-
ffviltige Zinsfuß 3^/2*^/0, der ursprüngliche 4<>/o.
4. Es ist x! berechnet, aber da einer der Faktoren aus-
^^^ lassen wurde, so erhielt man das unrichtige Produkt 68 428 800.
1^ ^^i^ groß ist X und welches ist der ausgelassene Faktor y?
A^^*^ Bestimmung von y untersucht F. die Zahl 68428800 auf
*^^ Teilbarkeit. Es leuchtet sofort ein, daß für diese Unter-
^^^liung 8^ 5 und 10 nicht in Betracht kommen, eine Unter-
i^^^liung auf 9 und 27 aber zu keinem Resultate führen kann.
Xmtersucht also auf 7, u und 13, und zwar derart, daß er
Produkt 7j 11, ij := looi so oft als möglich abzieht:
68428 Soo
- 68
360—360
440
Es zeigt sich, daß, da 440 wohl durch 11, nicht aber durch
und 13 teilbar ist, der fehlende Faktor y^^^j, x aber weniger
^h 13, nämlich 12 ist. Auch hier stellt F. diese Überlegungen
^chon an, während die Aufgabe genannt wird und liefert das
^ Nichtige Resultat unmittelbar nach Nennung der Aufgabe.
Man vergeiche damit die Leistungen Inaudis, die er nach
dem Berichte von Binet bei jeder Sitzung vorführt, um den Unter-
schied in der Qualität der Operationen und in der Quantität der
Zahlen bei beiden Rechenkünstlern völlig zu verstehen. L rech-
206 ^' Ketnsies und A. Grünspan,
net im Kopfe gleichzeitig aus: i. Die Differenz zwei^^r
Zahlen von je 21 Stellen, 2. die Summe von 5 Summanden
zu je 6 Stellen, 3. das Quadrat einer vierstelligen Zahl, 4. d^n
Quotienten zweier vierstelligen Zahlen, 5. die Kubikwurzel eiii.^r
neunstelligen Zahl, 6. die 5. Wurzel einer zwölf stelligen Zalrml.
Zur Einprägung sämtlicher Aufgaben sind mehrere Wieder-
holungen notwendig. Die Zahlen für die erste Operation werden
von der Umgebung genannt, von I. wiederholt, darauf unt^r
dem Diktat von I. an die Tafel geschrieben, ohne daß ^r
sie jedoch zu Gesicht bekommt, und nun von dem Impresairio
vorgelesen, sowie von I. wiederholt. Dann geht man zu d^^xn
Zahlen der zweiten Operation u. s. f. Sind sämtliche Zahl^^xi
angeschrieben, so wiederholt sie I. zum letzten (6.) Male.
Die Lösung beansprucht 10 — 12 Minuten, in dieser Z^^it
muß er ca. 200 Ziffern festhalten.
F. braucht die einzelnen Aufgaben nicht erst zahlenmä^Wi-g
einzuprägen, um darauf die Resultate festzustellen, sondern gi"fc>^
letztere sofort an, nachdem die Aufgaben gestellt sind.
Es bleibt noch übrig, etwas über die Entwickelung d ^^^
Rechenkünstlers nachzutragen. Zur Erklärung der außer^^^'
wohnlichen Leistungen einer Person pflegt man wohl na-^c^"
besonderen Gaben und Leistungen in der Ascendenz zu suche^"*^-
Nun gibt Ferrol wie Inaudi von seiner Mutter an, daß sie c
Zeit der Schwangerschaft infolge von Wirtschaftssorgen v:
rechnen mußte. F. berichtet aber noch weiter, daß sie el
ausgesprochene Begabung für Rechnen besessen und ihm ein^
ausgezeichneten ersten Rechenunterricht erteilt hätte. Au«
Diamandis Mutter hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis besesses^
Von seiner Schwester sagt F., daß ihre Leistungen im Mul
plizieren für ihn viele Jahre unerreichbar waren. VonDiamanci
vierzehn Geschwistern zeigten zwei ein ähnliches Talent w
er, welches aber nicht weiter ausgebildet wurde ; von Inaudis <
schwistem läßt sich derartiges nicht mitteilen.
Zur Anlage tritt als steigerndes Moment die tägliche Übun-— •^":^
und das Interesse, das sich in den Gegenstand allmählic "^
hineinbohrt. F. sagt, daß, wenn er einige Monate der gewohnte "^^ .
Beschäftigung fem geblieben sei, er eine gewisse Unsicherher:^ ^^
bei sich konstatiere, und daß er größere Anstrengungen mache
müsse, um die Lösungen zu finden. Wenn er in der Übun.
bleibe, so mache er stetige Fortschritte in Bezug auf Mannt]
über RecßunkünsÜer, 207
gkeit der Rechenoperationen sowohl, als auch in bezug
die Methoden.
Inaudis Fähigkeiten sind scharf umgrenzte. Er hatte weder
Trieb noch das Können, sich nach Wissensgebieten zu be-
2n, in denen Rechenoperationen Anwendung finden, so daß
5t auf Grund dieses und einiger anderer Fälle den all-
«inen Satz ausspricht, daß die Rechenkünstler ihre ge-
te geistige Kraft für ihr Talent aufbrauchen, so daß ihnen
andere Disziplinen nichts mehr übrig bleibt. Dieser Satz
jedoch, wie das Beispiel Ferrols zeigt, nur beschränkte
iing. Denn diesem gelingt es, sich spielend und autodi-
tisch in Probleme der Physik, Chemie, der biologischen
scnschaf ten und der reinen Mathematik hineitizudenken und
ständig Fragen zu stellen imd zu beantworten. Er ist der
nder mehrerer elektrischer, auf Rechnung gegründeter
iapparate, und er behandelt oft schwierige mathematische
physikalische Probleme in der Absicht sie zu lösen, ohne
Tragweite sofort ermessen zu können. Im ganzen ein
citiger imd anregender Kopf, der sich in keiner Beziehung
leichen läßt mit dem ländlich einfachen Inaudi, der sein
bentalent unter der seiner Obhut anvertrauten Herde ent-
:eln mußte.
Gemeinsam ist beiden die intensive, geistige Erregung
:h Zahlen, die sich durch das ganze Vorstellungs-,
lüts- imd Willensleben, ja sogar im Traume noch fort-
Qzt. Die Zahlen haben im Traume eine solche sinnliche
tlichkeit imd Lebhaftigkeit, daß ganze große Rechen-
•ationen mit sämtlichen Einzelheiten erinnert werden. Es
imt bei Ferrol vor, daß er am Morgen die Lösung einer
«reren Aufgabe fertig vorfindet. Bei Tage vermag Inaudi
irmender XJmgebxmg ungestört seinen Zahlen nachzusinnen;
st völlig in sie versenkt und befindet sich im Zustande
imaler Aufmerksamkeit. Wird er unterbrochen, so bleibt
e Rechnung im Gedächtnis stehen. Er rechnet sogar wäh-
l der Unterhaltung, wenn auch langsamer, weiter. Ferrol
lält sich ähnlich.
Interessant und einer näheren Prüfung wert erscheint die
lauptung Ferrols, daß seine Rechenkunst sich unterrichtlich
wenden lasse, wofür er eine Reihe von Erfahrungen an
idcm beizubringen gedenkt.
Sitzungsberichte.
Psychologische Gesellschaft zu Berlin.
Sitzung vom 20. Januar 1903. Beginn 7 Uhr 20 Min.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fla tau.
Schriftführer: Herr Pfungst.
Der Vorsitzende verkündigt die Meldung von drei neuen Mitgliedern,
zwar der Herren:
Kriminalkonunissar Joh. v. Manteuffel, Berlin NW., I^^^^ ^
bergerstr. 26,
Dr. med. James H. Honan, American Physidan, Berlin '^^•*
Lützowstr. 78,
Freiherr v. Münchhausen, Berlin, Schleiermacherstr. 19.
Er begrüßt sodann den Redner des Abends und die zahlreich erschien^^^''^'^
Gäste. Hierauf hält Herr Prof. Dr. G. S i m m e 1 (a. G.) den angekündi^^^
Vortrag:
Über ästhetische Quantitäten.
Der Glaube an die unbegrenzte Spannweite der Kunst hat verschietS-^^^
ästhetische Richtungen zum gleichen Irrtum verführt. Sowohl der abstr^-^^^
Idealismus wie der Realismus glauben, das Wesensprinxip der Kunst h.^^^
lu allen Inhalten des Seins das gleiche Verhältnis, d. h. sie könne gnm^^
sätzlich jeden Gegenstand in den Kreis ihrer Formen ziehen und mit gieic^^'^
VoUkonunenheit ausstatten. Dieses ist das entgegengesetzte Extrem etg'^^^\
über jener Theorie, die nur Schönes, Charakteristisches als Gegenst^^-^'
gelten lassen wollte.
Die Meinung, die Kunst könne wie ein Spi^el jedes Ding in ^' ^
inuner gleichen UmbUdung wiedergeben, übersidit, daß die Kunst t^^
ihre Mittel historisch erwachsen sind. (Dieser artistische Panthdsmus ^^
ein Größenwahn, der die Relativität und endlose EntwicklungsfiUiigi^^
alles Menschlichen verkennt.) Ztun objektiven Sein kann die Kunst deshalb ^^
verschiedenen Punkten nur ein verschiedenes Verhältnis haben. Ein hi*-^^^^
für charakteristischer Punkt soll hier aufgezeigt werden, indem ich die 'N^'^
schiedenhcit des ästhetischen Standpunktes in ihrer Abhängigkeit von ^^^^^
verschieden großen Umfang des Kimstwerkes betrachte.
Di^ Dinfr~ fordern von sich aus gewisse Größomiaße für ihre ^^^^\1
banmg im Kunstwerke. Wenn diese Forderung, die aus den Dingen qn-Ä""**
Sim^ngsb^^^U.
200
ufmd jene, die vom rein artistischen Standpunkt erwächst, haJd auseinander
weichen, bald zusammenfallen, so ist so viel enviescn, daß die künstlerische
Qe^alrtmg rur Wirklichkeit ein ganz ssufälligcs und schwankendes Verhält-
nis liaL
Die größten Diskrepanzen entstehen gegenüber der n i c h t o r g a n i -
s c li e n Natur, So können z, B* Alpenbilder die Quantitätsbedeutung nicht
^fcschBpfend wiedergeben^ sie wirken leer und unzureichend. Selbst Segantini,
Hfer finiige große Alpenmaler, den es gegeben hat) hat die Berge immer
m den Hintergrund gerückt oder stilisierte Formen gewählt und auch sonst
noch (durch Luft-, Beleuchtungs- Behandlung) von der Forderung jenes aÜein
durch die Quantität eriiel baren Eindruckes ganz abgelenkt.
Bei allem organbch Gewachsenen finden wir, daB der Umfang immer
sö weit geht^ als die inneren Kräfte ihn getragen baben. Da empfinden wir
(durch wahrscheinlich unbewußte kompliziertere Erfahrungen und Ein-
füliluiigen) die inneren Kräfte de^ Wachstums, wir sind infolge dessen immer
j niif der Gro&e einverstanden, und dem Künstler ergeben sich ohne weiteres
di« Änderungen der Form, deren es bei Änderung der Quantität bedarf.
Bei Unorganischem dagegen drückt die Gestalt kein Inneres aus; die
formen sind durch äußere Einwirkungen gestaltet ; es fehlt das innere Prin<
rip f tij ^ic äußerlich gegebene Form, das uns bei der Umbildung leiten könnte.
. l^a können wir uns nur an die gegebene Tatsache der Größe halten.
^^ ^ie kommt es weiter, daß auf den Nichtarchitekten kleine Modelle
^Bk Bauwerken fast gar keine ästhetische Wirkung haben oder wenigstens
^™e solche, die der Ausführung in den wirklichen Maßen gar nicht ent-
^tieht? Psych ophysisch sind wir nicht imstande, die Schwere Verhältnisse,
^^ Lasten und Tragen, Ausbiegea und Hochstxebcn, kturz die dynamischen
Vorgänge^ in so kleinen Abmessungen in uns nachzubilden und naclmi-
*tihlen. Alle diese „Einfühlungen*' entstehen uns erst oberhalb einer ge-
^S^n absoluten Größe der Obje^itc, welche wir füglich „Schwelle'* der
^acbempfindung nennen können. Unsere historisch gegebene Architektur
^t effenbar jene Quantitätsmaße, welche unserer Seele ein solches Nach-
fühlen gestatten. Bei sehr viel kleineren oder sehr viel größeren können
^r üoch immer anschauen, intellektuell konstatieren, aber ästhetisch wirk*
^^*ii sind diese Verhältnisse nicht.
In diesem Zusammenhange wird klar, weshalb idealistische (?) in-
^Uelcttjalis tische Ästhetik stets formalistisch sein muß. Denn wo es nicht
*iJconimt auf das NachfühJen, sondern auf rein intellektuelle Prozesse, da
werden jene Bedingtheiten durch bloße Größenmaße ganz gleichgültig sein*
Für (Jip reine Vernunft ist Form FoiTn und die gleiche Form müßte immer
^^^ gleiche Wirkung haben.
Für einen Gott, dessen Empfinden nicht von Reizschwellen begrenzt
wäre in solchen Fällen das Quantum ganz gleichgültig. Er würde an
"^ inantitativen Verschiedenheiten nicht, wie wir es müssen, qualitative
Ttrschiedenheiten der Reaktion knüpfen.
ßiese Wandlung des ästhetischen Wertes zeigt einen neuen Typus
"*i Orfanischem, Nicbtmenschlichein, Der ästhetische Widerstand gewisser
^^bjektc richtet sich nicht nur gegen Verkleinerungen und Vergrößerungen,.
manchmal gerade gegen die DarsteUung in natürlicher Größe,
^eitKhrifi fQr pilidft£0£E&€:tie Ps,ychoLo£it, Patholoj^ie und Hygiene. ^
210 Süzungsberickte,
Auf einem nicht allzu großen Bilde wirkt z. B. ein Pferd immer oaturar
listisch, d. h. aus der Sphäre des Kunstwerkes herausfallend. So sind über-
haupt gewisse Objekte von vornherein vom Kunstwerk ausgeschlossen, weil
sich die Dinge der Kunst im selben Maße entziehen, als das Interesse an
ihrer Wirklichkeit associativ das Vorstellen beherrscht, wie etwa die
Interessen des taglichen Lebens, sehr merkwürdige Erscheinungen und Vor-
fälle und dergleichen mehr.
Alle diese treiben die Kategorie des Seins als Frage, Wunsch, Wissen
ins Bewußtsein und entfernen sich damit aus der bloß ideeUen Sjdiare der
Kunst.
Diese Motivreihe kann noch von einer anderen Seite vermehrt
werden. Ein Reiter auf dem Pferde ergibt in natürlicher Größe einen
Widerspruch, denn die lebensgroße Darstellung wirkt realistisch; das inner*
lieh gerechtfertigte Verhältnis beider scheint direkt tmigekehrt. Eine Ver-
kleinenmg aber verschiebt das künstlerische Verhältnis der TeUe zu Gunsten
des geistig Höheren. Dies zeigt, daß die einzelnen Teile eines Kunstwerkes
nicht nur durch ihre gegenseitigen Relationen wirken, sondern es ist eine
bestimmte absolute Größe des Ganzen erforderlich, die jenen Relationen
erst die rechte Bedeutung gibt. Der Accent mag immerhin auf der Form
liegen, aber zu der Möglichkeit, entscheiden zu können, kommt sie erst,
weim sie an einem bestinmiten Größenmaße sich zeigt.
Bei der Menschengestalt zeigt sich das ästhetische Wunder, daß sie
durch fast alle möglichen Vergrößerungen imd Verkleinerungen ihren ästheti-
schen Wert bewahrt Der Grund hiefÜr ist: ihre ästhetischen Pn^rtionen
besitzen für uns, die wir mit ihnen solidarisch sind, solche Wichtigkeit uod
Deutlichkeit, sie haben solch immittelbare, iimere Notwendigkeit, daß ^^
Herr werden über alles andere. Ja, die menschliche Figur wird als NortB
für Qualitäten und Proportionen alles übrigen empfunden: der Mensch ^
das Maß aller Dinge, auch im Anschaulichen.
Wo es sich aber um ein Verhältnis von Menschen untereinander handelt
tritt das Quantitätsproblem wieder auf. So tritt z. B. beim Madonnenlö^^
die körperliche Kleinheit in einen Widerspruch zu seiner beherrschende^
zentralen Rolle. Die kindliche Form ist überhaupt wegen ihrer minder^*^
Differenziertheit wenig geeignet, geistig Bedeutsames auszudrücken. Di^^
Schwierigkeit ist völlig überwunden allein bei der Sixtiiüschen Madonna.
Grenzen für die Macht des Künstlers gibt es nicht. Damit ist ab^
lücht gesagt, daß diese quantitative Bedingtheit keine Bedeutung bal^^
sondern nur, daß sie ein Element ist, das von anderen Elementen zwar öb^^'
wogen werden karm, aber nicht verschwindet. Im gaiuen scheint es, ^^
ob jedes künstlerisch verwertbare Element zwei Größenschwellen besits^*
ein bestimmtes Quantum seiner Darstellung, innerhalb dessen sie überbsi^P^
erst eine ästhetische Reaktion hervorruft, und emes, wo sie wieder eriisd»^
Auch auf anderen Gebieten des höheren Seelenlebens finden sich 8olcl>^
Schwellen, z. B. Schwelle des Rechtsbewußtseins (minima non curat praetor/»
des religiösen Bewußtseins.
Die ästhetischen Schwellen der Gegenstände, oberhalb und unterhw'
welcher ihre ästhetische Verwendbarkeit liegt, rücken je nach dem Fof^
vermögen des Künstlers zusammen oder auseinander. Mit wachsender ^^
Sütan^iä^rt^i^.
211
H^ dex ästhetischen Erkenn Lni^ aber müssen die Schwellenwerte sich
r mehi einander nähern» bis das vollendete Wissen^ wenn es einmal ein
geben kann^ für die künsUerische Komposition einen ganz be-
ten Maßstab für den vollen künstlerischen Eindruck gewinnt.
bisherigen Untersuchungen über aUe diese Piobleme sind bis
ni der Feststellung gelangt, daß gewisse Modifikationen der Re-
\k auf das bloße Quantum sich zurückführen lassen. Aber damit ist
f|-oblem erst gestellt. Die psychologischen Mittelglieder fehlen noch,
ierru nocli zwei prinzipielle Erwägungen i Die erste betrifft nicht das
um des Kunstwerks selbsti sondern das der Gefühls erregung,
km. ihm ausgeht. Es ist sehr dilettantisch, die Bedeutsamkeit des
[Werks dem Quantum der Gefühle proportional zu setzen. Vielmehr
Jas gefühlsmäßige Mitgerissenwerden nicht nur eine bestimmte Form
tug auf rhythmischen Wechsel innehalten, sondern auch das Quantum
ine gewisse Schwelle nicht übersüvreiten, wenn nicht das Gefühl alles
öensche in uns überschwemmen soll.
fo kann z. B. die Spannung^ die ein Roman in uns erzeugt, das zu
f Interesse am rein Stoffhchen^ die künstlerische Wirkung zerstören ♦
^^ewisse Distanz und Reserve ist notwendig. Daß es sich hier um eine
eitätsfrage handeil, ersieht man daraus, daß, wenn uns schon der In-
irohl bekannt ist, die künstlerische Formung doch bei jedesmaligem
immer noch ein Spannungs* und Teilnahmegefühl erregt, das gegen-
äem obigen realistischen Gefühl nur wie ein xartes Abbild erscheint,
; uns ja die Kunst sozusagen den Inhalt des Lebens ohne das
selbst bietet.
nch die Gefühlsstärke scheint mir also eine untere und eine obere äst he-
Schwelle zu haben. Jenseits der einen Teilnahmslosigkeit, jenseits der
^ realistische Teilnahme. Diese Hcrabgeset^theit der Gefühlsquantität
cht nur den Sinn, dem ästhetischen Gefühle Platz zu machen, sondern
^.abstraktere'' Gefühls starke, der von der Qualität der realen Gefühle
fehlt, i s I selbst schon eine ästhetische Qualität. Denn, wo wir sonst ur-
;lich bei Gefühlsintensj täten FU^rabsetzungen erfahren, pflegen wir
anko. ein Versagen zu empfinden; die Kunst allein weiß den ganzen
^ des Fühlens lückenlos zu bewahren.
nsere zweite Erwägung gilt dem Quantitätswert im alleräuöerlichsten
scheint uns selbstverständlich, daß innerlich sehr bedeutsame Gegen-
eine größere Bildflächc brauchen, geringere Gegenstände eine
te. Dieses Verhältnis ist keineswegs selbstverständlich. Das Ver-
ide scheint mir zu sein, daß jede Büdgrößc einen bestimmten Teil
Sehfeldes beansprucht. Wenn ein Bild das Sehfeld nicht gam
nahezu ganz ausfüllt, so wird unvermeidlich noch vieles andere mit-
ist ein richtiges Verhältnis des Sinnes des Inhaltes zu der Gesamt-
ier momentanen Interessen erforderlich. Auch das sinnliche Bewußt-
11 nur von einem ästhetisch bedeutungsvollen Gegenstand ganz aus-
werden; ein geringer darf das Sehfeld nicht ganz beanspruchen. Das
jede Symbolik^ die das Grundwesen aller Kunst ist, verleUen.
4»
212 SitsungsherickU.
Als die letzte Formel der Kunst und ihrer Beglückung kann man aus-
sprechen, daß sie Forderungen der Dinge, deren jede unabhängig von der
anderen entwickelt ist, so daß die Wirklichkeit gleichsam nur die Wahl bat,
welcher sie gehorcht, mit einer Gleichheit imd Gleichmäßigkeit zu g^
horchen weiß, als gäbe es nur eine einzige Gesetzmäßigkeit, wo die Wirk-
lichkeit in Zufälligkeit und gldchgültige Fremdheit auseinander geht.
So sehen wir: aus den rein artistischen Bedingungen einerseits, aus
unserer körperlich-seelischen Struktur andererseits entwickeln sich Allfo^d^
rungen an die Quantität des Kunstwerkes. Aus der inneren Bedeutung der
Dinge (Associationen, innerer Sinn) quellen andere, die aber mit jenen
ersten übereinzustinmien durch keine prästabilierte Harmonie gehalten sind.
So zeigt uns die Kunst wenigstens im Bilde des Seins den einheitlichen
Zusammenhang seiner Elemente, den die Wirklichkeit uns vorzuenthalten
scheint, der aber unserem tiefsten Wissen nicht fremd sein kann, weil das
Bild des Seins schließlich auch ein Teil des Seins ist.
(Autorreferat.)
Die Diskussion über den Vortrag wird auf Wunsch des Herrn Vor-
tragenden vertagt.
Schluß der Sitzung 8V2 Uhr.
Sitzung vom 5. Februar 1903. Beginn 7Vs Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. Flatau.
Schriftführer: Herr Pfungst.
Herr Th. S. Flatau begrüßt die anwesenden Gäste und verkündet
die Aufnahme der Herren:
Joh. V. Manteuffel,
Dr. med. James H. Honan,
Freiherr von Münchhausen,
sowie die Meldung der Herren
Dr. med. Schultze-Verden,
Erziehungsdirektor S. Neubauer,
Frau Leutnant K e m m 1 e r.
Er verweist sodann auf die für den 6. Februar angesetzte gemeinsam«
Sitzung der Internationalen Musikgesellschaft und der Psychologischen Ge-
sellschaft und läßt eine Liste kursieren zur Einzeichnung derjenigen Mitglieder,
die einer separaten Demonstration des Photophonographen beizuwohnen
wünschen. Es melden sich ca. 30 Mitglieder.
Es findet alsdann die s. Z. vertagte Diskussion über den Vortrag d«*
Herrn Prof. Dr. G. Simmel: „Über ästhetische Quanti-
täten" statt.
Diskussion.
Herr Martens: Die Änderung der natürlichen Quantität von OD*
jekten im Kunstwerk wirkt auf jeden schärferen Kenner der Naturohj«»^
immer mißlich. Kleinere Darstellimg z. B. von Pferden auf Schlachtfddö*
macht auf mich denselben naiven Eindruck wie die mehrfache Größe.*'
Königsdarstellung auf den altägyptischen BUdem.
Sitm ngsberühte.
213
in Stern bemerkt : Herr Professor S i m m e 1 hat in seinem Vor*
Jie imiwdfdhaft richtige Tatsache hervorgehoben, daJJ sehr kleine
e von architektonischen Kunstwerken keinen ästhetischen Eindruck
Ifi machen, wean wir nicht gerade selber Architekten sind* Er hat
ihr richtig dadurch erklärt» daß uns bei der Betrachtung sehr kleiner
die Wirkung d^t Kräfte in dem Bauwerk nicht lum Bewußtsem
was aber beim Architekten der Fall ist. Er drückte dies etwa durch
ndung aus, daß die „Dynamik der Kräfte"* oder die „dynamiscfee»
uns nicht zum Bewi:ßtsein kommen. Ich wollte mir nun die Frage
ii naturlich in ganz bescheidener Weise, ob Herr Professor Simmel
^i vorziehen würde, hier zu sagen: die „Statik der Kräfte'* oder die
jthen Gesetze**. Denn ein Bauwerk ist ein System, in welchem die
l 2tir Ruhe gelangt sind oder im Gleichgewichte sich befinden. Und
l^tik ist eben der Teil der Mechanik, welcher die zum Gleichgewicht
^rlichen Bedingungen (die Größe der Kräfte, ihre Richtungen und
jge ihrer Angriffspunkte) bestimmen lehrt. Die Dynamik hingegen ist
jgc Teil der Mechanik, der die Art der Bewegung bestimmen
pe dn nicht im Gleichgewicht befindJicJier Körper nehmen muß
(ob in gerader oder kniminer Linie, mit welcher Geschwindigkeit^
t Wirkung er auf einen anderen Körper, den er auf seiner Bahn trifft,
f' etc,). Und das in dem Bauwerk noch vorhandene dynamische Spiel
tckkularkräfte, also etwa die Oscillationen der Moleküle innerhalb
luwerks infolge der Temperaturschwankungen in der Außenwelt, die
(icscm mitteilen, oder ähnliche Molekular bewegun gen können hier
Ifemeint sein, da diese weder den das Bauwerk Betrachtenden, noch
jkhitekten, sondern nur den Natiirforseher und den Naturphilosopheti
lieren.
Irr Pfungst pflichtet dem Herrn Vortragenden in der Betonung einer
f und einer unteren ästhetischen Schwel] e durchaus bei, glaubt jedoch
läaß beide jemals auch nur im idealen Falle zusammenfallen können,
% neben den Forderungen des Objekts immer noch diejenigen des
luden Subjekts behaupten werden ; diese sind aber — und dies ist
petjsch ungemein bedeutender Faktor — individuell äußerst variabel»
OT Bärwald: Das Gesetz, daß die ästhetische Wirkung eines Ob-
Sofem sie sich gerade an seine Große heftet, bei der verkleinerten
idung verloren gehe^ wird beschränkt durch die Gegenwirkung der
ition, die auch mit dem verkleinerten Gegenstande die Vorstellung
iprünglichen Große und somit die gewohnte Gemütswirkung verbindet,
(enschliche Figur vertragt nur deshalb jegliche Verkleinerung, weil
jedermann mit Associationen überhäuft ist. Ebenso versagt das archi-
iche Modell seinen ästhetischen Effekt nur dem Nichtarchitekten,
fjcnbild den seinigen nur dem Nichtalpinisten. Die Associationsfülle
I also hier Unterschiede der ästhetischen Empfänglichkeit.
Tade an die Verkleinerung aber können sich andererseits Asso*
m knüpfen, die eine schiefe ästhetische Wirkung mit sich führen,
trkleinerte Modell des Kiingerschen Beethoven wirkt nicht wie er-
Wüleoskonzentration, sondern wie gnomenhafte Verbissenheit,
fUdercn Fällen wird der richtigsiellende Einfluß der Association
214 SiUungsberichie,
dadurch paralysiert, daß die Kleinheit der Nachbildung mit der Wucht des
Inhalts einen komisch wirkenden Gegensatz bildet. So in den winzigen
Kopien des Landgrebeschen Beethoven, der in höchster Erregung bin-
stürmend dargestellt werden soll und um so mehr in Gefahr gerät, als ein
possierlicher psychischer „Sturm im Wasserglase** zu erscheinen.
Das Schlußwort erstattet Herr Simmel, der nicht zugegen sein
konnte, schriftlich.
Es folgt sodann der Vortrag des Herrn G. Fla tau:
Zur Psychologie der Zwangsvorstellungen.
Der Vortrag ist unter den Originalbeiträgen dieser Zeitschrift zum Ab-
druck gelangt. ^
Diskussion.
Herr Th. S. F 1 a t a u fragt, ob tatsächlich ein Vorlegen der luiange-
nehmen und peinlichen Affekte oder jahrelang herrschender Druck sorg<^<^'
voller Lebensführung in der Regel nachweisbar sei. Oder ob auch frcudi^^
Gefühle bei größerer Intensität Zwangs vorstellimgen auslösen. Femer ob c^^T
Inhalt der Zwangsvorstellungen selbst inmier unlustbetont »ei. Ein T^^»»
der Fälle würde sich ätiologisch an die Hysterie anreihen.
Herr Bärwald fragt an, ob Zwangsvorstellungen sich inuner nur 2-^
Anschluß an ein bestimmtes einzelnes Erlebnis entwickeln, oder ob auch
dauernde Tendenz der Gefühle z. B. zu Zweifeln, zu Reuegefühlen u. s.
Zwangsvorstellungen einer bestimmten Art erzeugen können.
Herr Steingiesser weist in längeren Ausführungen auf den
liehen Zusammenhang zwischen Herzerkrankungen und Zwangsvorstr
lungen hin.
Herr Haake bemerkt, daß die Frage, die er stellen möchte,
teUweise durch den Vorredner beantwortet sei. Er wünsche nämüch
erfahren, ob und inwieweit ein Zusammenhang zwischen dem VorkomxD^»-
von Zwangsvorstellungen und bestimmten körperlichen Erkrankungen
Abnormitäten beobachtet worden sei, und ob man annehmen dürfe, c
krankhafte Zwangsvorstellungen in jedem Falle durch gewisse körperli(
Dispositionen mitbedingt seien.
Nach einigen auf die Anfragen bezüglichen Bemerkungen des He
G. F 1 a t a u erfolgt der Schluß der Sitzung um 8V4 Uhr.
Zur Aufnahme meldet sich
Frl. Dr. med. Martha Wygodzinski, Berlin N., Sc^
hauser Allee 9.
Sitzung vom 5. März 1903. Beginn 7 Uhr 25 Min.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fla tau.
Schriftführer: Herr G i e r i n g.
Der Vorsitzende verkündet, daß folgende neue Mitglieder aufgenomina
worden sind:
Frau Leutnant K e m m 1 e r ,
Frl. Lr. med. Martha Wygodzinski,
i
Sit9un^sbcn£ki€.
215
Herr ErKiehun^direktor Neubauer,
HciT Stabsarie a. D. Dr. Sc hu! tie- V erden.
tm Aufnahme vorgeschlagen sind die Herren:
Ingenieur Serenyi, Berlin, Birwaldstr, 55.
Oberlehrer Dr. FriedTnann, Berlin N.^ Wilhelmshafenerstr, 33.
Dr. phiL E d e l h e i m , Berlin W,, Habsburgerstr. 4.
Vgn der Münchener Gesellschaft sind folgende Schrift an eingegangen:
Jahresbericht 1899/1900 und 1900/1901.
R e i s n e r v. Licht enstern: Die Macht der Vorstellungen im
Kriege,
Tb. L i p p s : Psychologie, Wissenschaft und Leben,
Pannwilt^ Die Psychologie des Gerich tssales^
G. H i r t h : Psychologie und Kunst.
Eine Liste zum Abonnement auf Eitz' „Tonwort" wird aufgelegt. So-
ta erhalt Herr Dr. Liebfnann das Wort iti dem angekündigten Vor-
«:
Die Sprache der Geisteskranken.
Der Vortragende bespricht die Veränderungen der Sprache bei den
^Intigsten Formen der Getsteskrankheiten und gibt lur Erläuterung eine
e von Stenogrammen, die er einem soeben erschienenen, vom Vor-
enden gemeinsam mit Max Edel herausgegebenen Werke (Liebmann-
I; Die Sprache der Geisteskranken, Halle 1903) enmimmt.
Die Sprache der Geisteskranken unterscheidet sich vielfach von der
len in mechanischer und formaler Beiiehung.
Die mechanischen Veränderungen betreffen besonders die Laut-
ung, die Lautverbmdung, die Lautfolge, das Tempo, das Timbre und
Stimmsläxke,
In formaler Hinsicht findet raan absonderlichen Inhalt, eigenartigen
ruck, Abweichungen der syntaktischen und grammatischen Formen.
1. Bei der Melancholie (traurige Verstimmung ohne genügende
■-^^rc Ursache) ist die Sprache gewöhnlich langsam und zögernd, die
biTie leise und monoton. Der Kranke hat großen Drang zum Sprechen,
Inhalt ist aber immar derselbe; Angsiideen und Selbstvorwürfe. Bei
Ktelancholia attonita sprechen die Patienten oft monatelang kein Wort.
S. Die Rede der Maniaci {Manie: heitere Stimmung ohne äußere
iche, Ideenflucht, Bewegungsdrang) hat meist ein jagendes Tempo.
t^heurer Wortschwall. Häufig werden in sinnloser Hast nur noch ab-
tscne Worte oder unartikulierte Laute ausgestossen. Laute, fröhliche,
brüllende Stimme, Heiterer Inhalt. Witzige Pointen, Neckereien, Häufig
p>pc und obscöne Ausdrücke. An Stelle des logischen Zusammenhangs
'a häufig lautliche Associationen und alberne Reimereien.
5. Bei der akuten hallucinatorischen Verwirrtheit (Delirien mit massen-
Sinnestäuschungen und reaktiven Stimmungen und Handlungen)
-eben die Kranken meist stundenlang hintereinander. Sie antworten
% sondern reden nur mit sich selbst oder mit ihren Stimmen. Der Ton
Verschieden je nach dem Inhalt der Sinnestäuschungen. Meist wird nur
i verworrenes Zeug vorgebracht. Häufig Verbigeration (d, h,
»erden abgerissene Worte oder sinnlose Silben mit leichten Variationen
216 Sitzungsberichte,
öfters auch mit Reimen in endloser Weise wiederholt). Häufig treten Ver*
folgungs-, Versündigungs-, Größen- und erotische Ideen auf, aber ohae
System. Mitunter schwimgvoUe, bilderreiche Rede, öfters auch eine Axt
Bibelsprache.
4. Chronische Paranoia: (Der Ich-Standpunkt der Paranoiker
ist ^»verrückt*' in ihrem Verhältnis zur Außenwelt. Beeinträchtigmigi-
und Verfolgungsideen einerseits, Überschätzungs- und Größenideen anderer-
seits werden mit oder ohne Siimestäuschungen zu einem Wahnsystem metho-
disch ausgesponnen). Mitunter Stummheit. Paranoiker, die sich wie Kiiider
gebärden, sprechen häufig in hohem Diskant. Manche Patienten sprechen
konstant in zwei Stimmlagen. Die beiden Stimmen imterhalten sich mit-
einander. Der Vortragende teilt einen solchen Fall mit, der behauptet,
ein Kind spreche aus ihm.
Paranoiker, die sich in ihrem Wahne sehr gebildet vorkommen, wenden
oft eine übertriebene, gezierte Artikulation an.
Paranoiker mit kindlichem Benehmen gefallen sich oft in einer Art
Baby-Sprache.
Viele Paranoiker entfalten eine große Produktivität in der Bildung
neuer Worte, die meist aus Gehörshallucinationen entstehen.
Der Paranoiker redet so lange Vernünftiges, als er nicht von seinen
Wahnideen spricht. Kommt er auf diese, so spiegelt sich in seiner Rede
die groteske Verzerrung seines Empfindungs- und Vorstellungslebens wieder.
5. Dementia praecox (Psychose des jugendlichen Alters: Ober-
spannte Ideen. Sprunghafter Gedankengang. Selbstüberschätzung. Geziertes,
altkluges Wesen. Eigentümliche Haltung. Verwirrtheit, Aufregung): Diese
Patienten sprechen viel und schnell. Bei Erregung und Verwirrtheit un-
zusammenhängende Rede. Oft werden nur sinnlose Phrasen aneinander-
gereiht. Manche dieser jugendlichen Patienten sprechen mit hochtrabenden
Redensarten von Dingen, die sie gar nicht verstehen.
6. SekundärerBlödsinn: Ausgang ungeheilter Psychosen: a) Apa-
thischer Blödsinn: Ausdruckslose Miene. Glieder verharren in leidit
gebeugter Stellung. Perzeption, Sensibilität, Reflexerregbarkeit minimal)-
Diese Patienten bringen jahrelang kein Wort hervor, dann gelegentlich wohl
einzelne Worte und Sätze, b) Agitierter Blödsinn: Verworrenheit,
läppisches Wesen, keine planmäßigen Handlungen, automatische Bewegungen,
Reste früherer Wahnvorstellungen. Diese Patienten schwatzen viel, oft mit
weinerlicher Stimme. Dürftiger Inhalt. Kurze, abgerissene, zusammenhang-
lose Sätze.
7. Progressive Paralyse: „Gehirnerweichimg** (eine organische
mit charakteristischen körperlichen Lähmungserscheinungen verbundcoc
Seelenstörung, die zu fortschreitendem Verfall der geistigen und körperlichen
Kräfte führt). Bei den paralytischen Anfällen pflegt die Sprache ganz «*
versagen. Häsitierende Sprache. Silbenstolpem (Wiederholung, UmstcUonJ
und Auslassung von Silben und Lauten). Stammeln. Monotone, blecherno
oder meckernde Stimme. Schließlich verwaschene Artikulation und ^
verständliches Lallen. Immense Größenideen. Schwelgen in ungch«ff*
Zahlen. Schließlich wird nur sirmloses Zeug geschwatzt. Verbigeratioa.
S^^tm^ä^ficki^.
217
: Epilepsie (Epiteptbche Krämpfe : BewuBtlosigkeii^ plotiliclies Hin-
Tonisch'klonische Krämpfe). Auf epileptischer B&m entwickelt
a) fortschreitende Degeneration des Charakters und des Intellekts,
erzustände und Psychosen manischen, melancholischen, paranoischen
kters. Bei vorgeschrittenen Fällen stockende, stotternde Sprache.
merxustande un«usammenhangende Rede. Epileptiker sprechen meist
kh selbst, sind leicht gereizt, führen oft drohende Reden.
Hysterie (Globus, Clavus, Ovarien Steigerung der retlektorischen
iomotorischen Erregbarkeit. Plotzhch verschwindende Lähmungen.
fanfälle. Leichte Suggestibilität. Mangelhafte Reproduktions treue.
Affekt ej Koketterie. Degeneralive Veränderungen des Charakters
itellekts. Interkurrente Psychosen)- Mitunter vollständige Stummheil*
stotternde Sprache, öfters l^ysterische Aphonie (Flüstersprache).
rbche reden viei von sich, klagen über alle möglichen Beschwerden,
Khlechter Laune brauchen selbst wohlerzogene Patienten die obscönsten
wkiicke.
Angeborener Schwachsinn (Imbecillität, Idiotie : Degene-
«eichen. Intellektuelle Schwäche bis zum Blödsinn). In den höchsten
2 überhaupt keine Sprache, nur unartikulierte Laute. In minder
eil Fällen hochgradiges Stammeln. Höher stehende Idioten und
ciile erwerben allmählich eine deutliche Sprache, vergreifen sich aber
i Ausdruck und sprechen häufig ohne grammatische und syntaktische
!n. Meist dürftiger Inhalt, Kindische Wünsche. Beeinträchtigungs-
. Chronischer AlkohoUsmus (Fortschreitende Degeneration
lilcllekts und Charakters). Die Patienten sind im allgemeinen sehr
g. Langsame, stockende Sprache, öfter lallend. Tremulierende Stimme,
ic Ausdrücke. Die Patienten beklagen oft ihre Trunksucht, äußern
bitmordideen. Manche renommiercxi in cynischer Weise mit ihren Trink-
Delirium zusammenhanglose Reden, eigenartige Verfolgungsideen
von Insekten dringen auf die Kranken ein. Blitze zucken. Donner
Gewehre krachen)*
Autorreferat.)
Diskussion:
err Dr. Max Edel: Hochgeehrte GeseüschaftI Wie Sie schon vor
des Vortrages von unserem verehrten Herrn Vorsitzenden gehört
habe ich die Absicht, Ihnen lur Ergänzung des Vortrages von
^ Dr. Liebmann über die Sprache der Geisteskranken einige pbono*
ihische Aufnahmen zu demonstrieren. Die von mir angefertigten Steno*
de sind wohl im stände^ Aufklärung über die Störungen der Sprache
der Hinsicht zu geben^ also über den absondorlichen Inhalt, den
tigen Ausdruck, Abweichungen der syntaktischen und grammatischen
abei sie vermögen keinen genügenden Aiif Schluß über die raecha*
Veränderungen der Sprache m geben, z. B. in betreff der Stimmhöhe
Btärke, des Timbre, Tempo, Pathos, der Laut Verbindung u» a. Ich
daß die phonographische Aufnahme der Sprache Geisteskranker,
ktllch bei Verbesserung dtt technischen Apparate, im stände sein wird,
218 SitMungsberichte.
diese Lücke auszufüllen. Besonders trifft dies für Demonstratioiisnrec
zu. Sehr wohl weiß ich, daß die phonographische Aufnahme hei Geirt
kranken gewissen Schwierigkeiten begegnen wird. Man wird nur ds
kleinen Teil der Kranken dazu veranlassen können, in den Apparat denü:
hinein zu sprechen. Vielleicht gelingt es aber spater bei Verbessenmg i
Apparate, auch bei aufgeregten und verwirrten Kranken das Phcmogni
zu erhalten, wenn die Reden in größerer Entfernung als bisher auf
nommen werden können. Eine weitere Vervollkommnung unserer Den
strationsmittel würde es zweifellos bedeuten, wenn die durch das Stc
gramm kontrollierte phonographische Aufnahme durch ev. gleichfä
biographische Aufnahme vervollständigt würde. Alsdann wird man
besten in der La^e sein« die ganzen Eigentümlichkeiten der Redew
eines Geisteskranken zu fixieren in Verbindung mit der Haltung, Mimik
Gestikulation. Auf diese Weise wird die Vorstellung der Kranken seOif
gewissem Grade ersetzt werden können, wo dieselbe nicht mögltch
andererseits eine Unterlage für eine exakte wissenschaftliche Erforsdu
der sprachlichen Äußerungen Geisteskranker geschaffen. Die Beispi
die ich Ihnen hier zu demonstrieren gedenke, hat Herr Dr. Liebmann t
TeU bereits angeführt. Es handelt sich um einen Fall von Paranoia a
tun jenen Fall von Doppelsprache — mit Teilung der Persönlfchki
Der Kranke glaubt ein Kind in sich zu bergen, zu welchem er spricht. M
kann die verschiedenen Stimmlagen hier sehr gut hören. Die dritte A
nähme betrifft einen schwachsinnigen Querulanten ; bei derselben kann m
abgesehen vom Pathos der Rede, das Stottern, Stocken, das Suchen nach.d
passenden Ausdruck, die häufigen Einschiebungen von Verlegenheitslaut
die näselnde Stimme heraushören. Bisher war es mir nicht mögii
eine größere Zahl von klassischen Beispielen vorzuführen, da ich erst i
kurzem auf den Gedanken gekommen bin, die Sprache der GeisteskranI
auf phonographischem Wege zu fixieren. Ich hoffe aber bald ein große
Material beibringen zu können. Zum Schluß danke ich unserem i
ehrten Herrn Vorsitzenden für die freundliche Unterstützung bei die
Aufnahmen und für die Erlaubnis, diese Demonstration hier halten zu dar!
(Demonstration.)
Nach einigen kurzen Bemerkungen der Herren Th. S. Flatau
L i e b m a n n schließt die Sitzung um 8^/4 Uhr.
Verein für Kinderpsychologie zu Berlin.
Sitzung vom 15. Mai 1903. Beginn 8 Uhr 20 Min.
Vorsitzender : Herr K e m s i e s.
Schriftführer: Herr Hirschlaff.
Der \'orsitzcnde eröffnet die Sitzung mit einigen einleitenden BemeT
gen und begrüßt die erschienenen Gäste. Sodann hält Herr Obeit^
Dr. F. K e m s i e s den angekündigten Vortrag :
„Die Schwachbefähigten auf höheren Lehranstalten
Der Vortrag wird in extenso in dieser Zeitschrift publiziert '
Sritungtöerichie.
Diskussion:
Herr Ca&tel: Nach meinen Erfahrungen an Schulkiödem — en
dte sich allerdings um geistig minderwertige Kinder, die teils wenig,
I noch gar keinm Unterricht genossen hatten — kann man die Begabung
ttt|cnieni nicht unter einem Gesichtspunkt zusammenfassen, wenn man ein
TicÄtiges UTtcil über die geistige Poleni der Kinder erlangen will. Memes
llracbtens muß man in jedem einzelnen FaO tu eine Analyse der verschiedenen
P Äußerungen geistiger Tärigkeit eintreten, wie z. B. Gedächtnis. Perzeption,
►Kcproduktion, Kombination, Zahl enbegriffs vermögen etc. Erforscht man
dkst Funktionen gesondert, so wird man in liemlich exakter Weise gewisse
V'f^tglejchspunkte eruieren, die es ermöglichen^ die einzelnen Fälle gegen-
einander abiuÄchäticn, Dabei stellt sich nun die schon vielfach betonte
Tatsache Heraus, daß man nicht schlechtweg begabte, weniger begabte,
*inbegabte unterscheiden darf, sondern daß die Begabung für die eini einen
»tigen Leistungen bei ein und demselben Individuum sehr verschieden
i kann. Ich erinnere nur an das häufig mangelnde Zahlenverständnis der
Aofäliger, das in spateren Jahren in den mangelhaften Leistungen im Rechnen
^<^ in der Mathematik seinen Ausdruck findet; dieselben Schüler können
^^ den Sprachen und im deutschen Aufsatz Vonügliches leisten. Der umge-
«^rte Fall findet sich auch nicht gan« selten Als Beispiel zitiere ich einen
^jährigen Knaben* der einen höchst gewitzten Eindruck macht, in allen
^^cbern gute Leistungen aufweist, sich aber noch nicht einmal im Zahlen-
^«^ise von 1 bis 10 iurcchtfinden karm. Das ist nun ein ganz exorbitanter
^^^» er beweist doch aber, daß bei der Beurteilung der Begabung eine
Reihe gani verschiedener Faktoren in Rechnung gezogen werden muß.
Herr Poppelreuter; Ich möchte an den Herrn Vortragenden die
p*ge richten, warum er in seinen Ausfühntngen die Richtung gerade auf
L s Ziel hin genommen hat zu zeigen, worin das Wesen der schwachen
* ^ g a b u n g bestehe. Darüber läßt sich doch wohl auf dem Boden der
"«rgebrachten Vorstellungen über geistige Prozesse kaum Neues
*^gen. Alle Pädagogik ist ja auf die Voraussetzung gegründet, daß die gute
Begabung als alJ gern eine Geisteskraft rurückgcht auf die Fähigkeit, im
_^ti2elnen richtig aufzufassen, zu behalten, zu unterscheiden, zusammen-
fassen, einzuordnen, Begriffe und irrteile lu bilden, Systeme ru
-rsehen u. s* w, u. s. w. Daher ergibt sich von selbst, daß schwache
f^gabung darin besteht, daß sich diese geistigen Funktionen
*t geringerer Kraft und in unvollkommenerer Form als
^i normaJer oder guter Begabung vollziehen, so wie sich das in jeder
iltitcrrichtsstundc beim Schwachbegabten Schüler in der einzelnen Leistung
**Et Dagegen bietet der Vortrag des Herrn K. ein vortreffliches Muster-
^ispiei dafür^ wie der Lehrer im atigemeinen seinen Beruf dem Schiüer
5«nüber auffa^en und ausüben soll. Nicht wie der Richter»
* ordern wie der Arzt soll der Lehrer «einem Schüler gegenüberstehen.
*<^^t feststellen, entscheiden und richien, sondern beobachten, beurteilen
^r>d helfen ist die Hauptaufgabe des Pädagogen. Die ganze Schulmis^re
^'^''de mit einem Schlage beseitigt sein, wenn dieser Unterschied in seinjer
^'*'^*eti. großen Tragweite tm Geltung käme. Als die Hauptquclle der Fehler
^^ schwachen Leistungen würde der Lehrer nicht strafwürdigen bösen
220 SÜMungsberickU.
Willen, sondern die normalen Beschaffenheiten des psycS=M.m-
sehen Lebens und der Kindernatur insbesondere erkennen; nicht ^zscxit
der leider allzuweit verbreiteten nervösen Erregimg des Schulmeisters, s^ovi-
dem mit der Ruhe des beobachtenden und prüfenden Arztes oder Na^r-v^x-
forschers würde er, solange nicht böser Wille festgestellt ist, den Unv-^z>Xl-
kommenheiten des Kindes entgegentreten. Freüich nicht nur als NaKr^jB.?.
Objekt, aber auch und zum großen Teil als. Naturobjekt soll ^^ilcr
Lehrer seinen Zögling betrachten. Dann wird von selbst inmier mehr an ^züe
Stelle der Grobheit der Methode, des Verfahrens, des Urteils und ^^«r
Entscheidimgen, die heute noch so vielfach und gewiß nicht inmier mit X.^'n.
recht dem Lehrer vorgeworfen wird, die Feinheit und Gerechtiglc^*2t
des Beobachtens, Vergleichens, Abwägens, Urteüens und Bewertens tre-^^^o,
für die uns vor allem die Naturwissenschaft die anerkannten Muster lieC^st.
Und daraus wieder werden die richtigen Gegen-, Heil- und Fördenm^^s-
mittel gefunden werden, und es wird immer mehr die Schule die Heirs^n
erobern, während sie heute noch durchweg nicht einmal den Dank ujxnd
die Anerkennung zu finden pflegt, die sie wirklich verdient.
Herr Kemsies: Er glaube nicht, daß seine Darlegimgen über-
flüssig seien, denn gerade das Wesen der schwachen Begabung bedürfe
der Aufhellung in empirisch - psychologischem Sinne; seine Methode d^
Beobachtens sei ihm freilich so sehr zur zweiten Natur geworden, d^i^
er es nicht für nötig gehalten habe, noch besonders auf sie hinzuweisen^*
Herr Poppelreuter: Ich bitte den Herrn Vortragenden, mich nic^^^
mißzuverstehen, als ob ich seine Darlegungxmgen ihrem Hauptinhalte naC^^
und an sich als überflüssig angesehen hätte; die Ausführungen selbst hal^^^
ich im Gegenteil für sehr wertvoll und zeitgemäß; ich habe nur gewissc:^^'
maßen eine andere Zuspitzung und Nutzanwendung des Vortrags erwarte"^*^'
So möchte ich denn an diesen den Wunsch anknüpfen, daß die von dei^^
Vortragenden geübte Betrachtungsweise, d. h. ein auf bestinunte und wo^^ '
möglich graphisch festgelegte Einzelbeobachtung gegründetes UrteUen, imme? ^^
weitere Verbreitung in Lehrerkreisen finden möge. Denn es kann leide ^^^
nicht geleugnet werden, daß weit mehr als es in den Umständen unab
änderlich begründet ist, mechanische und schematische Massenbehandlung
herrscht, wo individuelle und psychologische Pädagogik di«
schönsten und wertvollsten Früchte zeitigen könnte, von der soeben der Vor
trag des Herrn K. ein lehrreiches Exempel vorgeführt hat.
Herr Rauh: Ich möchte dagegen Einspruch erheben, daß mit den vo
Dr. Kemsies aufgeführten Faktoren, Gedächtnisschwäche, Mangel an Kon
binationsgabe etc. die Frage erschöpfend behandelt sei, zumal der Mange
in einem Erkenntnisgebiet, etwa den Abstraktionen der Mathematik, nie
auf schwache Befähigung schlechthin zu schließen erlaubt. Als Beispie
führe ich Fr. Nietzsche mit seinem „ungenügend" in der Mathen
in dem sonst vorzüglichen Abiturientenzeugnis an und knüpfe daran di -- —
Forderung, in solchem Einzelfall nach der Ursache der einzelnen „schwache:::====-^
Befähigung" zu suchen. Ich glaube sie im vorliegenden Fall nicht in einer — "-^
der von Dr. Kemsies angeführten Faktoren erkennen zu dürfen, sonder^ ^^^
in einem Mangel an Interesse für so gedankenblasse Abstraktionen, wie
Mathematik sie bietet, einem Mangel, der seine Wurzel wieder in eine
B^bew^tf.
221
übemormil entwickelten Fhantasictäcigkeit und einem Drange ^mi frischen
Leben sieb zu beteiligen hat.
Nach einigen kunen Erwiderungen des Herrn K e m s i e s schließt die
Sit^iizig um 10 Uhr.
Sitzung vom 26. Juni 1903. Beginn 8Vä Uhr,
Vorsitzender: Herr Kemsies.
Schriftführer t Herr Hirschlaff.
Nach einigen geschäftlichen Vorbemerkungen des Vorsitzenden hält Herr
1-ela.rcr Arno Fuchs den angekündigten Vonrag:
,,B eobachtungen an schwachsinnigen Kinder n/*
Der Vortrag findet sich unter den Originalbeiträgen dieser Zeitschrift ab-
gedfuckl,
Diskussion:
Herr Kem&ies dankt dem Redner für den anregenden Vortrag und
eröffnet die Diskussion mit einigen Leitworten.
Herr Schul Inspektor Dr. v. G i i y c k i weist darauf hin^ daB die vom
H enu Vortragenden angeführten EinKelhtobachtungen^ wenn auch an iweifel-
los schwachsinnigen Kindern gewonnen, doch an sich als ausreichende Be-
weis« für die krankhafte Beanlagung der betreffenden Individuen nicht
^rigesehen werden könnten. Dieselben logischen Denkfehler ließen sich
gclegeDtlich auch bei normalen Kindern und Erwachsenen nachweisen und
müBieti vielleicht z. T. auf die Dürftigkeit und Enge des den Kindern zur
Verfügung stehenden Erfahrungskreises zurückgeführt werden. Das logische
Ocjiken allem sei nicht das Kriterium für die Beurteilung des Geist es äsustandes
****■ Kinder, wenn auch die Häufigkeit und die kindische Art der Mißgriffe.
***^ bei Seh wachs iimigen gewöhnlich der Entwickelungsstufe eines viel un-
''«^iferen Alters entsprächen, als bedeutsame Symptome anzusehen seien.
Herr Fischer stimmt dem Vorredner darin bei, daß zwar an der
S^ ästigen Minderwertigkeit der von dem Vortragenden angeführten Kinder
^icht zu zweifeln sei, die angeführten Beispiele allein aber vielfach zu deren
^^nstaticrung nicht ausreichten, vielmehr ähnliche von normalen Kindern
*^n<j Erwachsenen in reichster Fülle angeführt werden könnten, und bringt
Uiig^ solche Beispiele bei,
Herr Fuchs: Auf den Einwand, daß die gegebenen Beispiele nicht
r^ Beweise für Mängel in der logischen Denkfähigkeit gelten konnten, da
^^iche Vorgänge auch bei normalen Kindern, ja sogar bei normalen Er-
-^clisenen festzustellen seien, erwidere ich, daß ich nicht einen Augenblick
^tr^ji gezweifelt habe, daß sich ähnliche Beispiele a«s dem Leben der
^ ^Tmalcn werden berichten lassen. Aber es wird doch gewiß niemand
^^^'►^ommen, deswegen, weil ein normales Kind einmal eine logische Verkehrt-
est begangen hat, dasselbe als schwachsinnig zu bezeichnen, ebensowenig
*^ es mir beigefallen ist, die von mir genannten Kinder nur um der geringen
"^^xahl der von mir berichteten logischen Inkorrektheiten als schwachsinnig
^Uszygeben. Es ist in diesem Punkte notwendig, daß Sie mir entgegen-
'^^mmcD, übeneugt zu sein, daB ich Ihnen aus der Fülle meiner Beob*
^^tuisgen über die logische Denkfähigkeit schwachsinniger Kinder nur eine
L
222 Süaung9henckt9.
verschwindend kleine Zahl von Beispielen vorgeführt habe. Wollte ick das
Thema über nur ein Kind erschöpfend behandeln, so müßte tmd könnte idi
ein außerordentlich reichhaltiges Beweismaterial erbringen. In monem
Vortrage aber konnte ich mir nur gestatten, über einige typische Fälle n Ik-
richten; ich habe jedoch ausdrücklich hervorgehoben, daß Ahnliches anch
einem normalen Kinde unterlaufen könne, und zwar aus Unachtsamkeit oder
in einem sehr jugendlichen Alter. Dieser Punkt ist m. £. von den Hemn
Vorrednern nicht beachtet worden. Femer betone ich nochmals, daß ich das
Charakteristische nicht durchaus in den einzelnen geschilderten Vorgingen
gesucht habe, sondern vor allem auch darin, daß diese Erscheinungen an
10— 15 jährigen Kindern beobachtet worden sind, und daß endlich bei
jedem einzelnen schwachsinnigen Kinde in der Regel nach jeder Richtung
seines Denkens und Handelns die Eigentümlichkeit eines Mangels im logi-
schen Denken zu beobachten ist. Charakteristisch ist also in erster Linie das
Alter der Kinder und die Häufigkeit der Beweise. Wollen Sie meine Dar-
legungen und die einzelnen Beispiele über die von mir angeschnittene Frage
kritisch betrachten, so muß ich Sie bitten, das zu tun, wenn ich Ihnen meine
Methode zur Feststellung bestimmter Resultate über das logische Denken
Normaler und Schwachsinniger und diese Resultate selbst vorführe, aber
nicht, wenn ich versuche, Sie durch einen nur interessierenden Vortng fSr
das Thema zu gewinnen.
Was die in der Diskussion femer aufgeworfene Frage betrifft, ob die Ein-
richtungen für die Erziehung und Belehrung der Schwachsinaigen und
Idioten wirklich auch allen Kindern genügen werden, bemerke ich, daß bei
der Vielgestaltigkeit der abnormen Kindesnatur stets einige Kinder ans dcB
Rahmen der betr. Einrichtung herausfallen und nirgends gut untemibringci
sein werden. Für die Mehrzahl aber scheinen die getroffenen Venuistaltiingci
entsprechend organisiert zu sein. Ich bin überzeugt, daß die zur TagesaiKtak
erweiterte Hilfsschule die geeignetste Einrichtung für die Belehrung und Er-
ziehung schwachsiimiger Kinder sein wird, zumal diese Organisatioo ^
eine durch das Wesen der betr. Kinder bestimmte anzusehen ist. Uisprfifl^
lieh bestand in Berlin die Absicht, die Insassen der Nebenklassen für den
Hauptunterricht „unterrichtsfähig'* zu machen. Das ist aber nur bei 8 bi>
9<^ möglich gewesen, die übrigen 91<Vb verlangten eine ihrer besonderen Be-
anlagung entsprechende Sondererziehung. Damit war die Sdbstindigkeit dci
Hilfsschulunterrichts von der Natur der Kinder selbst gefordert. Daß dieK
selbständige Hilfsschulerziehung und Belehrung erst dann eine der Kindi^
natur und den sozialen Bedürfhissen völlig entsprechende sein wrrd« wti*
natur und den sozialen Bedürfnissen völlig entsprechende sein wird, wff>
sie durch eine Hilfsschule, bezw. eine Tagesanstalt die entsprechende Orgtft'
sation erfahren hat, bedarf keines Beweises. —
Daß schwachsinnige und idiotische Kinder in der Exaktheit ibN'
Leistungen nachlassen, sobald sie dieselben in anderer Umgebung ansffibic*
müssen, ist eine oft beobachtete und mit der Sensibilität der SchwmchsiniHf
zu erklärende Erscheinung. — Einseitige Begabung mit stauen KootniH'
habe ich bei den von mir erzogenen Schwachsinnigen nicht beobachtet P**
gegen ließ sich oft eine nicht harmonische Beanlagung besflgL des matb^
matischen Denkens, des sprachlichen Ausdrucks und der tecfanbchaB Fertig
keiten feststellen.
err Schulinspekior Dr. v^. G i f y c k t führt aus, man müsse auch
Ik geistige Entwicklung der nonnalen Kimler ein umfangreicbes und
k gesichtetes MateriaJ sammeln. Dieses würde abgesehen von seinem
paychologiächen Werte aucli zur Kontrolle der Beobachtungen
Itwachäitmigen dienen. Er regt an, vorcrsi den Inhalt des Bewußtseins
n Grad der geistigen KräJie bei einer größeren Aniahl von neu ein-
tten Kindern systematisch lu untersuchen,
ach einigen Bemerkungen der Herren K e m s i e s und Maller schließt
fimg um 10 Uhr.
'ziehungE' und Fürsorge-Verein für geistig:
turfickgebliebene (schwachsinnige) Kinder
zy Berlin*
ich längeren Vorbereitungen hat sich am S6. Man d. J, der oben
Btr Verein konstituiert. Demselben gehören heute ca. 160 Personen,
logen^ Mediziner, Nationalökonomen u* s. w,, an. in der begründenden
mlnng sprachen die Herren Kgl, Kreis- u. Stadtschulinspektor Dr.
Giiycki, Rektor Hensiorf und Rektor Pagel über die päda-
ihen und sozialen Ziele und die Organisation des Vereins. Die Ver-
lang nahm den vorgelegten Statutenentwurf an und ebenso den Entwurf
Aufrufs, der das große Publikum für die Ziele des Vereins gewinnen
diesen Aufruf haben schon jetzt hervorragende Personen aus Gesell-
und Wissenschaft unteneichnet. Zum 1. Vorsitzenden wurde Herr
KLSpektor Dr, von Gitycki, rum 2. H err Schulinspektor Dr. Fischer,
i Herr Sanitätsrat Dr. Hartmann, zum 1. Schriftführer Herr Schul-
(or GädiDg, zum 1* Schatzmeister Herr Bankier A. Böhm, tum
Dr. Ginsberg gewählt — Die Bearbeitung der pädagogischen
des Vereins setzt sich eine besondere Kommission zum Ziel
Pädagogische Kommission bezweckt ,,cine pädagogische Ver-
Of in das Wesen der geistig zurückgebliebenen Kinder, eine kJare
mninis der besten Methode, die zu einer erfolgreichen Belehrung uod
Übung dieser Kinder führt, und der ihrem Wesen am besteft ent-
rbenden Organisation des Unterrichts/* Diesen Zweck strebt die Kom*
ion an durch die Abhaltung von Versammlungen, die Einrichtung von
fagskursen^ die Gründung einer Bibliothek der einschlägigen Literatur^
bitandbaJtung eines Leseiimmcrs mit den entsprechenden Zeitachrifteti,
Einrichtung von Informationsreisen, die Beschickung von Kongressen
Die Pädagogische Kommission hielt am 8. Mai im Stadt. Schul-
Kttn ihre 1. Sitzung ab. Es waren ca. 100 Personen erschienen, darunter
fJerr Geh. Ober^Regierungsrat B r a n d i. Nachdem der Vorsitzende, Herr
or Stndt^ die Ziele der Pädagogischen Kommission klargelegt hatte,
:h Herr Lehrer Arno Fuchs über die Verhandlungen des IV. Ver-
lit;^e£ deutscher Hilfsschulen in Mainz und schloß daran seinen Vortrag
„Die nächsten Ziele der Hüfsschulpädagogik". Der Referent erachtete
ir notwendig, die gesammelten Beobachtungen tmd Erfahrucigen auf
Gebiete der Psychologie und Methodik nach pädagogisch wisseo-
224 Berichte und Besprechungen,
scbaftlichen Gesichtspunkten zu ordnen und zusammenzufassen zu monogra-
phischen Abhandlungen. Durch diese Arbeit diene man der wissenschaft-
lichen Psychologie, der Psychiatrie und der Methodik alles Unterrichts und
gebe schließlich den Behörden und Volkswohltätem die besten Finger-
zeige und Beweise für die wünschenswerte äußere Organisation der Hilfs-
schulerziehung. — Der Vortrag fand allseitigen Beifall. An der D^atte
beteüigte sich auch Herr Geh. Ober-Regierungsrat Brandi. Er gab
seiner Freude Ausdruck über die Einmütigkeit, mit welcher man sich der
Sorge für die Schwachen am Geiste widme, imd hob femer hervor, dafi
die Behörde das Ziel für Nebenklassen, die Kinder zum Volksschulimterricbte
wieder zurückzuführen, nicht anerkeime, da die betr. Kinder dann in den
untersten Klassen aus der Schule entlassen würden. Weiter betonte er,
daß das Schwergewicht in den Nebenklassen und Hilfsschulen auf die Gemütt-
bildung zu legen sei. — Herr Kgl. Kreisschulinspektor Dr. von Giiyc"ki
sprach Herrn Geh. Ober-Regierungsrat Brandi den Dank der Versammliug
für sein Erscheinen imd für seine Ausführungen aus.
Berichte und Besprechungen.
Tafel zur Erziehung des Farbensinnes von Dr. Hugo
Magnus. 2. Aufl. 1902. Kerns Verlag.
Die Tafel ist folgendermaßen angeordnet: In neun senkrechten Reihen
sind die Farben: Braun, Purpur, Scharlach, Orange, Gelb, Grün, Blais»
Violett und Schwarz, in Gestalt ovaler Blättchen auf eine große Tafel attf-
geklebt. Jede Reihe besteht aus vier solcher Blättchen, die den Übergang w»*
einer ziemlich hellen Schattierung einer Farbe in den Grundton zeigen-
Diese so hergestellte Tafel wird den Kindern vorgelegt, und es wird ihnc«»
bedeutet, die verschiedenen Farben zu zeigen und zu nennen. Zu der Taf^
gehört sodann ein Kästchen mit 72 Täfelchen, die genau dieselben Faibe^
zeigen wie die Ovale. Diese Täfelchen werden den Kindern in die Ha»^
gegeben, damit sie sie auf die entsprechenden Farben der Tafel legen. Di^
Schattierungen der einzelnen Farben bereiten ihnen Schwierigkeiten, m^^
das Verfahren muß deshalb so lange geübt werden, bis keine Fehler gemad'^^
werden. Legt das Kind aber ein grünes Täf eichen inmier wieder, auch naC^
vielen Übungen auf Blau oder Rot und umgekehrt, so liegt die Annahic^^
nahe, daß das Kind farbenblind ist.
Hat sich sein Farbensinn genügend entwickelt, so daß es keine FehL^
mehr beim Aufsuchen der Farben begeht, so soll die Tafel nicht mehr l>^*
nutzt werden, sondern es sollen aus den Täfelchen verschiedene bezeichne^^
Farben und ihre Schattierungen herausgesucht werden. Auch soll es Täfdck^*
auswählen, deren Farben dem Aussehen irgend eines vorher bestimmC^^
oder gezeigten Erzeugnisses der Industrie oder der Natur entsprechen. ^^
lernt das Kind mit Sicherheit die verschiedensten Farben kennen und ses^^
Nuancen unterscheiden.
ßtPkkU und ß^spfuhMiftgen.
225
U wurden mit der Tafel Versuche an Kindern von 5—6 Jahren
Hellt, Hedwig P., 61/4 Jahre alt, leigte eine große Freude,
sie der Tafel ansichtig wurde. Sie bezeichoete die Farben-
1 als Kleckse und hätte die Taiel gern in Besitz genomnxen.
mich den Farben beieidmungen gefragt wurde, kannte sie die Namen
Jurpur und Scharlach nicht, sondern verwendete dafür den Namen Rot.
[e war für sie Gelb, und Violett Blau. Die beiden ersten Schattierungen
Schwarz sah sie als Braun an. Als ihr die richtigen Bezeichnungen
itit wurden, behielt sie nach einiger Übung. Darauf satltc sie die
chen auf die entsprechenden Farbenovale legen. Bei den tiefsten
der Tafel gelang es iiir ziemlich leicht, die richtigen Farben lu
[fen; bei den helleren Nuancen hingegen hatte sie wiederholt Schwierig-
und machte Fehler, Besonders verwechselte sie die Schatlierun^n
charlach und Orange {3. und 4, Farben reihe), deren Unterscheidung
1 ungeübtes Auge schwierig ist. Ebenso erging es ihr mit den helleren
von Braun und Schwarz (1, und 9. Farbenreihe),
[urt H., 6Vf Jahre alt, freute sich sehr über die bunten Eier, wie er
, Der Kleine bezeichnete die braune Farbenreihe (l,) und Orange
tit Gran. Auch er machte keinen Unterschied atwischen Purpur (2.) und
flach (3) und nannte beide Rot. Violett (ß.) dagegen bezeichnete er als
drot. Er legte die ihm durcheinander gereichten Täfelchen für die
dfarben auf die richtige Stelle, doch bei den helleren Nuancen erging
wie Hedwig, Das Ganze erschien ihm als ein unterhaltendes Spiel,
n eine Farbenreihe mit Täf eichen bedeckt war, rief er vergnügt aus :
habe gewonnen T'
iTalter E., b Jahre alt, bezeichnete Scharlach mit Dunkdgelb, Orange
er nur unter dem Namen ,, Fußbodenfarbe**, weil er, da sein Vater
eist er ist, diese Bezeichnung dafür gehört halte* Für Violett ge-
lte er den Ausdruck Rosa. Sein Farbensinn war ziemlich entwickelt;
er legte die Täf eichen mit ntur wenigen Abweichungen auf die
:e Stelle. ,
Eine Schwester, Ella E*, 8 Jahre alt, fand auch für die Täfelchcn
:ht|ge Farbe, aber sie halte für die Farbenreihen andere Benennungen»
nele sie Purpur mit Rosa, Scharlach mit Gelb. Orange w^ für
und Gelb dagegen Outikelgelb.
bUlen die Kinder für die Farben verschiedener Gegenstände die cnt-
lenden ^Farben täfele hen heraussuchen, so gaben sie immer dunkler
Tafeln, als verlangt wurden.
Als diesen wenigen Beispielen geht hervor, daß die Kinder im Alter
Jahren noch keinen genauen Unterschied zwischen der 2.^ 3. und
benreihe, sowie der 1. und 9. Reihe machen und die Farben nicht
benennen, Die Mischfarbe B kennen sie nicht als solche und finden
nicht die feinen Unterschiede zwischen den helleren Farbe nnuanccn.
nach einiger Übung lernen sie selbst die feinsten Schattierungen unter-
en, und deshalb scheint mir dieses System von Magnus in der Tat
lödagogischen Standpunkte aus emplehlenswert.
crlin. Max Kr od.
Z^lidirift Inr pädigoeiKKe P^ychdlofie. pAtholoiTie titid lij^tm.
226 Befichte und Besprechungen,
£. Stiehl, Eine Mutterpflicht. Beitrag zur sexvelUn
Pädagogik. Verlag von Herrmann Seemann Nachfolgerin
Leipzig. 46 Seiten. 0,50 M.
Obwohl \ms die letzte Zeit mit Beiträgen zur sexuellen Pädagogik radi-
lich versehen hat, so ist doch das Erscheinen dieses Schriftchens mit Frendea
zu begrüßen. Daß ein Wandel in den bestehenden Verhältnissen Not tnt,
darüber sind sich wohl nahezu alle Eltern und Erzieher Idar. Vide aber
werden nicht wissen, welchen Weg sie bei der Belehrung ihrer Kinder ober
geschlechtliche Dinge einzuschlagen haben. Diese werden in dem Werioe
trotz seines geringen Umfanges viele dankenswerte Anregungen finden. Andi
die Mahnimg, die die Verfasserin gibt, daß jede Mutter neben der offaMB
Belehrung der Kinder die gesundheitliche Erziehung derselben zur SittUchkdt
mit Tatkraft und Sachkenntnis in die Hand zu nehmen hat, verdient volle
Beachtung. Hier werden die sanitären Maßregeln über Kinderenäehung, die
im Schlußteil des Werkchens gegeben sind, manchem zustatten kommen.
Berlin. Grünspan.
Heinrich Keiter: Die Kunst, Bücher zu lesen. Winke
für die Lektüre dichterischer und wissenschaftlicher
Werke. Dritte Auflage. Essen a. d. Ruhr, Verlag und Druck
von Fredebeul & Koenen. 1901. 142 S.
„Lesen imd Bildung**, wie Schönbach seine treffliche Schrift genannt
hat, wäre ein zu weiter Titel für das vorliegende Büchlein. Der Veifiatf
will nur den Lese- und Lemlustigen Winke geben, wie sie ihr Leitt
zweckmäßig einzurichten haben, damit sie den Genuß, die Bildung nod
Belehrung daraus schöpfen, die den meisten bücherverschlingenden LeteA
fast gänzlich entgehen. Über das Was läßt er sich nicht aus, nur du
Wie betrachtet er. Nachdem er dargelegt hat, daß fruchtbar nur die ^
Maß, Ordnung und Kritik betriebene Lektüre ist, gibt er Ratschlage fif
das Lesen mit der Feder in der Hand, für die Herstellung von Sammlungen
und die Anfertigung von Auszügen aus dem Gelesenen und für seine
Beurteilung. Im einzelnen behandelt er dann die Durcharbeitung gemeinver-
ständlicher, wissenschaftlicher, insbesondere geschichtlicher, lite^atnrg^
schichtlicher und naturwissenschaftlicher Werke. Der Hauptteil des Boches ist
der Lestmg dichterischer Erzeugnisse gewidmet. Darin gibt der Verfasser
einen Abriß der Poetik, soweit sie zu tieferm Eindringen in das sdifiaB
Schrifttiun notwendig ist, und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Punkte^ ^
man bei der Lektüre der verschiedenen dichterischen Gattungen zu beadittft
hat, sowohl, was die äußere Gestalt, als was den inneren Gehalt betrlA
Gedankenwelt, Stoff, dessen Auffassimg und Gestaltung durch den Diditc^
Charaktere u. s. w. Den Schluß bildet eine Anweisung, das GesamäA^
eines Dichters zu entwerfen. — Es ist anztmehmen, daß die klare D»^
Stellung des Verfassers, die sich von Gelehrtheit und Oberflächlichkeit f^
nügend fem hält, manchem Leser nützlich sein wird, der sich durch dl*
Lesen nicht nur imterhalten, sondern auch bilden will. Zu bedauern ^
aber die störende Hervorhebung des persönlichen Standpunkts des Ver
fassers, den er selbst als „christlich-konservativ" bezeichnet. Sein Recht a»
BtruJtt^ und Btspre^kungm ^^^^^^T 227
seine Anschauung und ihr Bekenntnis soU ihm nicht verschränkt werden^
aber ihr ständiges Eingreifen schädigt die UnhefaDgenheit der Erörterung
tiad den sachlichen Gewinn für den Leser. Die Hauptgesichtspunkte für die
Beuiteüung wissenschaftlicher oder künstlerischer Erzeugnisse liegen doch
aun einmal innerhalb des Gebietes von Wissenschaft und Kunst. Der
Verfasser aber sieht alles durch seine politisch rdig tose Brille an und
verdammt, was ihm durch sie geschaut, verwerflich erscheint* Damit hangt
tag zusammen seine Abneigung gegen die böse „neue Zeit" und die
Leistungen neuzeitlicher Forschung und Dichtung. So wäre es Pflicht des
Leluers, der etwa seinen Schülern das an sich nützliche Büchlein in die
Ha^nd gäbe, durch mündliche Belehrung der Einseitigkeit des Verfassers
Gegengewicht zu bieten.
Berlin* SiegbertSchayer.
Übungsaufgaben zu Prof. Dr. WÜmantis* Deutscher
Sc liulgrammatik. Bearbeitelvon Dr. K. Bandow, Frolessor,
0 t> errealschuldirektor a. D. L Heft. Für Sexta und Quinta.
ochste unveränderte Auflage. Berlin, Gustav Vetter. 190L
TV, 103 S. 8ö, 0,80 M.
Die sechste Auflage ist wie die fünfte ein unveränderter Abdruck der
nerteu. Das Heft war schon in dieser (1890) den Bestimmungen der Lehr-
plaae von IB91 angepaßt^ und es entspricht auch denen von 1901. So mag
^ wie früher neben Wümanna" Schulgrammatik nutzbringend gebraucht
werden, kann aber auch neben andern Lehrbüchern oder wo kein gedruckter
l^eitfadcn dem grammatischen Unterricht zugnmde gelegt wird, verwandt
werden. Insbesondere empfehlen sich die reichlichen und wohlgeordneten
L'bimgen für diejenigen Anstalt en, auf denen die grammatische Bildung
^ die mit ihr verbundene Denkbildung nicht dem Lateinischen, sondern
<äcr Muttersprache obliegt. Für die nächste Auflage wäre eine Inhaltsübersicht
»wünscht.
Berlin. Siegbert Schayer,
Uli)
Kanon deutscher Dichtungen. Zusammengestellt durch
' Ächk onf erenien des Königl. Theresien-Gymnasiums In
^t^üchen, München 1900. KgU H of- und Universitäts-Buch-
.Druckerei von D r, C. W olf & Sohn. 79 S. gr. &^. 0.70 M.
Über die Absichten und Gesichtspunkte dieser Zusammenstellung sprechen
die Herausgeber nicht aus, Sie wollen anscheinend eine handliche
Sammlung derjenigen Gedichte geben, deren Kenntnis sie als unentbehrlich
^ 4m Scb liier ansehen, und dadurch die deutschen Lesebücher entlasten.
Die Dichtungen sind auf die einzelnen Klassenstufen verteilt und für
jede Stufe wiederum nach Gattungen geschieden, nur daß für die obersten
^i Lyrisches allein in Betracht kommt. Angellängt ist ein Verzeichnis der
^m Auswendiglernen vorgeschlagenen Stellen aus deutschen Dramen. Trägt
l^e Auswahl von der Art der vorliegenden etwas Eigenmächtiges in sich, so
**^rtet man von einer durch die Mitwirkung mehrerer Fachmänner her-
S^eilten Sammlung^ daß sie eine im ganzen allen passende MitteUtnie
228 Beridkle wtä Bnpncfnmgtm,
dantdle. Das »t hier durchaus nicht ohne Eiaschriikuiig
Gibt auch von dem Aufgenommenen nicht vieles Aa^aß mit 4en fie
gebem zu rediten, so fällt doch schon von vornherein aitf allen Sldte
gewisse Magerkeit auf. Und tatsächlich fehlen eine Ansahl von OediC
die wir gewohnt shid, mit unsem Schlilem dnrchzunefamen und A
wegen ihres künstlerisdien und bildenden Wertes auch nicht misKn «Ic
So sucht man vergebens auf der Unterstufe Claudius' ^bendfietf* >
Mond ist au^egai^en*), Rückerts ,Vom Bämnlein, daa andre Bttne
gewoUtS »König Karls Meerfahrt' von Uhland, Seumes «KMudier', et
Mittelstufe U h 1 a n d s Eberhaid-Balladen, .TaiUefer' und »Gläok von Eta
Schlegels ^rion', Schillers ,Kampf mit dem Drachen*, »Oangnadi
Eisenhammer', »Handschuh', Heines »Belsazar*, Vossens .jSkMk
Geburtstag', auf der Oberstufe Goethes ,Mondlied*, ,Hochael
Schillers »Spaziergang*, »Künstler*, ,Ideal und Leben*. Zu entb
wäre Geibels »Rheinsage*, die Rückerts »Barbarossa* zu ähnlic
V. Webers »Deutschland'» das neben Arndts Lied »Des Deut
Vaterland* schwächlich wirkt» Schillers »Johanniter', deren Lehre (
den »Kampf mit dem Drachen* wirksamer gestaltet ist. Gern sähe
femer einige Änderungen in der Verteilung. »Der Ring des Polykrates
hier für IV angesetzt ist» paßt erst für III» Schillers philosopl
»Worte des Glaubens' sind auf der Oberstufe fruchtbringender zu beha
als in Ulli; auch Schenkendorfs ^Freiheit» die ich meine' is
diese Klasse zu abgezogen. Schlegels »Jambus* und »Hexameter*
ebenso wie Schillers »Distichon* aus Olli nach der Oberstufe zu
weisen» desgleichen Schillers »Teilung der Erde', das freilich
inOn, schon in OHI oder Uli dem Schüler erklingen. Walthers,Tiv
zuht\ müßte nach den preußischen Lehrplänen von UI nach OII
unterrücken.
Berlin. Siegbert Sc ha yei
Dr. Arthur Wohlthat» Oberlehrer an der Luisensc
in Düsseldorf, Die klassischen Schuldramen nach lo
und Aufbau. Leipzig» G. Freytag. Wien-Prag» F. Temj
1902. X, 192 S. 2 M.
Der Verfasser geht» wie allgemein angenommen» von dem Gesidxt^
aus, daß die höchste Aufgabe der Dramenlektüre auf der Schule
ästhetische Erfassung des Dichtwerks» nur dann erfüllt werden kann,
sie sich auf die zuvor erworbne Erkenntnis des dramatischen Aufbace
der sachlich-logischen Gliederung gründet» und daß jenes oberste Sc
daxm ganz erreicht werden kann» wenn nicht» — wie es oft g^cfaie
die Herausarbeitung des Grundrisses zuviel Zeit hinwegnimmt. Deshalb
er in dem gut ausgestatteten Buch eine fertige Übersicht über die dram«
Gliederung der auf mittleren und höheren Lehranstalten gelesenen Di
und berücksichtigt auch solche» die gemeinhhi der Privatlektüre» für di
Buch nebenher bestimmt ist» überlassen bleiben. Er behandelt von Lesi
Schiller» Goethe alle für die Schule in Betracht kommoiden Sl
BefuMit Uftd ßBS^r<cäiM^em^
229
dkseta auch den Faust, erstem und zweiteB Teil, von Kleist 4ie
Hermanni^cbUcht und dem Primco von Hombmg, Körners Zriay,
Vhlaads Herzog Ernste GrUlparzers Aimfrau^ Sappho, Goldiies Vlied,
H e b b e 1 s N ibelun^eii, Ludwigs Erbförster, von nichtdeutschen S h a k e <
sp«ires Corioilan, Julius Caesar, Richard III, (dabei in der Einleitung
Hoaiich VL), Lear^ Macbeth, Hamlet;, aus dem Altertum des Sophokles
beide Odipus> Antigone. Aias, Philoktel und des E u r i p i d es Iphigetiie b«i
den Tauiiem. Vorausgeschickt ist eine knappe Erläuterung der Grundbegriff o
aus der Technik des Dramas« Auch in die Darstellung der einzeln en
Stücke ist das bekannte Schema des Handlungsverlaufs verflochten, die
Übersicht aber so eingerichtet, daß auch bei seiner Nichtbeachtung der
Aüfbaa klar wird. Der Inhalt der einzelnen Szenen wird kurz, aber mit
fcciigtiider Ausführlichkeit wiedergegeben, die inhaltlich zusammengehörigen
unter eiöc gemeinsame Überschrift gefaßt, auch die größeren Abschnitte her-
vorgehoben. Die Sprache ist schlicht, ohne trocken zu sein, die Inhaltsangabe
niwrlassig:, die Gliederungen sind wohldurchdacht* Im ganien ist die
Sc]iftft ein nützüches Hilfsmittel für den Unterricht. Freilich wird so
naodier Deutschlehrer nicht gern a«f die treffliche Denkübung verzichten
«oUta, die Schüler selbst arbeiten lu lassen, was ihnen hier fertig übergeben
to4 Aber auch dann ist es noch für ihn selbst eine brauchbare Grundlage*
Im übrigen ist es unter allen Umständen geeignet, sowohl die zeitraubende
Selbsttätigkeit der Klasse zu verkürzen, als auch besonders für Wieder-
bl\u]g«rL und vergleichende Betrachtungen das Rüstzeug darzubieten.
B e T I i n- S i e g b e r t S c h a y e r.
t Adolf Hcinzes Praktische Anleitung zum Disponieren
LI sc her Aufsätze. Gänilich umgearbeitet von Dr* Her-
mann Heime, Direktor des Königlichen Gymnasiums und
<^«i" Real schule zu Minden i. W. Sechste, verbesserte und
erweiterte Auflage. Leipzig, Verlag von Wilhelm Engel*
«laftn. Erstes Bändchen. Aufgaben 1—125. 190L XX, 147 S.
2*cites Bändchen. Stoff aus deutschen Schriftsteller n;
Sprichwörter, Sprüche, sinnverwandte Wörter. 1899, VI,
^S, Drittes Bändchen. Aussprüche und Sinnsprüche, 1900*
^^tl, 130 S. Viertes Band eben. Stoff aus der Erdkunde, dem
Klar- und Menschenleben. 1901, VI, 104 S.
Die im Jahre 1890 von dem Sohn des Verfassers vorgenommene Um-
Ünmg hatte die fünfte Auflage fast als ein neues Buch erscheinen lassend
^JJlgabensammlung wurde auf vi« Hefte verteilt und gemäß den Stoffen
^1 fcordnel, zahlreiche Themen durch andere ersetzt oder rnngearbeitet,
^ ichrif Istellerisc hen Belege reichlicher und genauer gegeben, die mit
'^'ladwortern stark versetzte Sprache gereinigt* Die VoTrede zur vorliegenden
"•«iatca Auflage verspricht die Wiedergabe der Aiiführungen au^ fremd*
%a«kLichen Schriftstellern in deutscher Übersetzung; erfüllt ist dieses Ver-
5**^l*n aber n^r im ersten Bändchen, Im übrigen bleiben für eine weitere
die der reichliaitigen Sammlung wohl beschieden sein wird,
mandie VVüosche: Scheidung der Aufgaben nach Untemchtsstufen,
230 Berichte und Besprechungen,
Stärkere Berücksichtigung der deutschen Schuldramen, dafür Beschrankoni
der „allgemeinen" Themen, deren sachgemäße Bearbeitung eine umfassender
äußere und innere Lebenserfahrung voraussetzt, als sie den Schülern zu eigne
pflegt, und die deshalb, so weit es nur möglich ist, mit dem im deutsche
und im übrigen Unterricht oder in der wirklichen Entwicklung der Knabei
und Jünglingsjahre gewonnenen Stoffe innig verbunden sein sollten. Zu lobe
ist, daß die gestellten Aufgaben sich von Plattheit wie Verstiegenheit glei<
fem halten und die Gliederung des Gedankenplans natürlich und legi»«
ist, nur daß Einleitung und Schluß zuweilen unorganisch angefügt sind.
Berlin. Siegbert Schayer,
Robert Seidel, Reallehrer. Die Handarbeit der Grün,
und Eckstein der harmonischen Bildung und Erziehun
Leipzig, Verlag von Richard Lipinski. 1901. 38 S.
Gleichmäßige Entwickelung von Körper und Geist ist die Losimg ^
neueren Pädagogik. Tatsächlich jedoch beschränkt sich auf unseren Schcd
die Ausbüdung des Leibes auf eine geringe Anzahl von Tum-, Gesan
imd Zeichenstunden neben einer überwiegenden Masse wissenschaftliche
Unterrichts. Ist es doch auch, wenn die unseren Lehranstalten gesteckte
Ziele erreicht werden sollen, kaum zulässig, die Unterweisimg in den nur de
Verstand bUdenden Fächern zugunsten der nur oder nebenbei dem Körpe
förderlichen .weiter zu beschränken. Der von nichtamtlichen Kreisen mi
Erfolg betriebene Handfertigkeitsunterricht, der dazu angetan ist, Leib
Sinne und Geist zugleich zu entfalten, steht bisher außerhalb des Lehrpluv
und kann darum seinen Segen nur in geringem Maße geltend machen
Da erscheint es denn als ein kühner Gedanke des Schweizer Reallehrer!
Robert Seidel, wenn er das, was bisher nur geduldet worden ist, ii
den Vordergrund des Schullebens zieht, indem er die Handarbeit als „Grund
und Eckstein der harmonischen Bildung und Erziehung** hinzusteUen vd
sucht. Niemand wird daran Anstoß nehmen, daß der Verfasser in seine
sonstigen volkserzieherischen, politischen und dichterischen Schriftsteller^
sich als eifriger Vertreter der Sozialdemokratie bekennt. In dem vorliegende^
Büchlein tritt seine Parteigesinnung nicht störend hervor; nur der Geist, dr
darin lebt, ist sozialistisch oder richtiger sozial, wenn dies soviel bedeute
wie volks- und menschenfreundlich. Denn aus warmer Liebe, zur Menschlur
und zu ihrer stets neuen Hoffnung, der Jugend, ist sein Plan geboren, de
nichts Geringeres wül, als eine völlige Umwälzung unseres Schulunterricht^
zum mindesten eine Verschiebung des Schwerpunkts im Aufbau und Tm
sammenhang .der Lehrfächer. Der Handarbeitsunterricht — den Name
„Handfertigkeitsimterricht** verwirft der Verfasser als nicht würdig genug -^
der bisher, und auch das nur vereinzelt, ein halb und halb als Spideri
betrachtetes Anhängsel der wissenschaftlichen und technischen Unterweison
gebildet hat, soll nicht nur nüt den übrigen Fächern lebendig verschmolzei
sondern er soll geradezu der Mittelpunkt des gesamten Unterrichts weidei
Wenn das Ziel der Schule nicht bloße Vorbereitung für bestinunte Beruf«
Klassen und Stände, sondern die BUdung harmonischer Menschen, die köipe:
liehe, geistige, bürgerliche und sittliche Schulung ist, so verfehlen
MiUeüi$ngtn,
231
ebungsanstahen diesen Zweck, die höheren noch mehr als die niedcTen» In
allen^ so meint der Verfasser und ganz wird niemand wagen, das im leugnen
— wird mviei Theorie und zu wenig Praxis geboten, Lehre und Ausübung
gehen vielfach nebeneinander her, statt miteinander^ ,,m allen wird lu viel
Wissen tind zn wenig Könneti erzeugt, in allen wird zu viel geredet
id 2u wenig gehandelt, in allen kommt die Kjorperblldung und die
ditng des Herzens und Gemütes zu kurz**« Damit hangl zusammen,
^ die Schulerziehung keine naturgemäße ist, woraus sich das Unbehagen
der meisten Kinder an der Schule erklärt. All das wird mit einem Schlage
znders werden, wenn an Stelle des redenden Unterrichts der handelnde tritt,
AQ Stelle der ^j wissenschaftlichen^^ Lehrfächer oder doch beherrschend neben
sie dei- Arbeitsunterricht. Statt über die Dinge zu sprechen, sollen die Dinge
«Ibst in die Hand genommen, bearbeitet, hergestellt werden. Das ist also
soviel mehr, als der Anschauungsunterricht, wie er in den untersten Klassen
gepflegt wirdj wie Machen mehr ist als Sehen. Das theoreüsche Lernen
^^ gleichsam nur die Ausstrahltmg des praktischen Schaffens darstellen.
Das Kind soll zuerst ein Stück Holz in die Hand bekommen, es bearbeiten^
festalten und dann erst über das Wesen des Holzes, über den Baum,
von dem es stammt, belehrt werden, zuletzt vielleicht einen Aufsatz darüber
scbr&il^en^ der dann nicht dem Lehrer abgelernte Wortweisheit wiederkäuen^
somi^i-ii Erlebtes selbständig nachschaffen wird. Es soll Figuren bilden;
^^^^"^ werden ihm die abgezogenen Lehrsätze der Raum- und Körperlehre
lebericiig werden, kurz, das Fröbelsche Beschäftigungsverfahren, aber nicht als
oektirende Unterhaltung schulunreifer Kindlein, sondern als Grundlage des
8*äa^Äterx LrnterrichtsI Wie auf diese Weise alle Seiten der Menschennatur
■egensreich entwickelt werden, weiß der Verfasser bestechend darzulegen.
Oüticli seine Ausführungen klingt als Leitmotiv der Preis der Arbeit als der
P"Oöeii Bildnerin und Sittigerin der Menschheit- Aber ist das nicht doch
^^ "^enig die Wirkung einer einseitigen Partcianschauu ng, wenn er nur
^^ ^ a n d arbeit zu rühmen weiß und den Segen der rein gebtigen, vom
^^'^ich greifbaren Stoff losgelösten Arbeit unterschätzt? Und vergißt er
^ht auch, daß die Erziehung schließlich nicht nur der Schule zur Last
faüt^
Sondern auch dem Ehamhause und noch mehr dem Leben?
Berlin.
Siegbert Schayer.
Mitteilungen*
%iir Entstehan; dar Sprache nnit Be griff sblldung des Ktndes*
Hs steht nach den Ergebnisseu der jüngsten Forschung wohl fest, daß
^igentUche Begriffsbildung bei den Kindern noch nicht im zweiten
"^vk^nsjahre, sondern erst viel später und zwar teils unter dem Einfluß
^* mehr oder weniger sorgenden oder äußerlich interessant en Umgebung
*^ Kindes, teils unter dem des Unterrichts erfolgt. Der Unterschied, ob
^^ Kind in einer anwehenden Umgebung oder nicht, ob in einei^
232 MiUeäungen.
großen öder klemen Stadt, namentlich Industrie- oder Adsenladt
oder auf einem Dorfe aufwächst, kommt hinsichtlich der Begriff»-
bildung desselben sehr früh zur Geltung. Die großstädtischen Kinder Ionen
Im Vergleich mit den Dorfkindem verhältnismäßig ziemlich spät BaoKi^
Blumen, Haustiere, Feldfrüchte u. ä., also die notwendigsten Beg^ritfe koaes^
viel eher aber alles, was zu einem feineren Haushalt und einer besser^A
Lebensführimg gehört, femer Soldaten, Standbilder und Denkmäler aA^
Art, großartige Bauten und die bekanntesten technischen und Verkeh^'S-
einrichtungen, ohne die heutzutage keine große Stadt denkbar ist.
Die Untersuchungen über die Entstehungszeit der ersten klaren 19«^
griffe des Kindes müssen, wie dies auch stets von den Forschem, al.^K>
namentlich Preyer, Lindner, Sigismund, Ament und besonders Meumarx^i,
geschehen ist, in Verbindung gesetzt werden mit den Erörterungen über cSie
Entstehung der Sprache, denn mit Recht sagt schon Cicero, de invent. 1, -^ ^
Mihi quidem videntur homines hac re mazime beluis praestare, quod loca^ui
possunt, und so hat sich denn im Hinblick darauf in neuester Zeit
umfangreiche, durchweg an W. Preyers berühmtes Werk: „Die Seele
Kindes** anknüpfende kinderpsychologische Literatur entwickelt, jedoch
daß bis zum Erscheinen der trefflichen Arbeit des Züricher Hochsds.'ul*
Professors E. Metunann : „Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen b^sim
Kinde*', Leipzig, Engelmann, irgendwie sichere oder abschließende Ergebni^vc
auf diesem Gebiete gewonnen waren. Metunann wird man entschieden l9«i-
stimmen müssen, wenn er in scharfem Gegensatze zu fast allen bisheriflr^»
Forschem über den Gegenstand die ersten Worte nicht als Bezeichnungen ^'osi
Gegenständen, sondern lediglich als Wunschwörter auffaßt und diese £ii^*
Wicklungsstufe der kindlichen Verstandestätigkeit als emotionell-volitiansl
bezeichnet. Er sagt nämlich in dieser Beziehimg u. a. zutreffend folgendes:
Die ersten Worte des Kindes bezeichnen Wünsche, Begehrungen, etwas habec
wollen oder nicht wollen, Abneigungen oder Neigimgen, und wenn ^ms
Kind scheinbar Gegenstände benennt, so gibt die Bezeichnung nicht dsi^
Gegenständen selbst, sondern ihren Beziehungen zu seinen Wünschen tn*^
Begehrungen. Unrichtig urteilt dagegen Ament, wenn er in seinem sonst woJ^
beachtenswerten Buche: „Entwickelung von Denken und Sprechen beix3D
Kinde*' angesichts seiner Versuche behauptet: Das Kind sprach das Lalhr»^^
„mammamm" zunächst ohne Bedeutung; dann gebrauchte es dasselbe xc^^
Bezeichnung von Brot- imd Brezelstückchen imd rief es seiner Schwest^^^
entgegen, die ihm oft davon schenkte. Alle Speisen und Getränke heiß^ '**'
schließlich „mammamm" ; als ihm ein Spielzeug gefallen, und seine Schwest^^
es aufheben wollte, rief es unwillig „mammamm**; es verlangte nüt de^^^^^^^^
Worte sein Abendessen, endlich bezeichnete es Brot, Fleisch, Gemüse, Supp^^^"
Milch mit diesem Worte. — Ament deutet hiermit selbst an, daß d^^^^
Kind mit dem gelallten Worte „mammamm** nur Wünsche angibt, ist ab^^-
keineswegs berechtigt anzunehmen, daß das Kind mit diesem Lallwort::^^^
einzelne von ihm erkannte Gegenstände bezeichnen wolle, auch nicht, wi^^^
bisher fast immer geschehen, daß dasselbe auf dieser Stufe schon allgemein^^^'^
Begriffe aufgefaßt und gebildet habe.
Meumann legt seinen Ausführungen nicht, wie andere Forscher, iwed^^^
BeurteUung der Kinderpsychologie die ausgebildeten psychischen Erscheinunge^^^
MiUeüungen, 233
nen zugrunde, um jene mit diesen zu vergleichen und danach zu
>ndem geht mit Recht vom Sprachverständnis des noch nicht
ermögenden Kindes aus. Er zeigt unwiderleglich, daß das Kind
zen ersten Lebensjahre und vielfach auch noch in einem großen
eiten gar kein Sprachverständnis besitzt und selbst mit den-
en, die alle Kinder zunächst sprechen lernen, also: „Papa**,
k-tack", „oo" =» „groß*«, x. B. „Oopapa«« »..Großpapa" „ci" —
1. a. keine Begriffe verbindet. Am allerwenigsten weiß ein
em Alter wirklich, was eine ihm vorgehaltene Schiefertafel
ider ist, ja selbst die Bedeutung von „Papa" und „Mama"
>ch nicht, sondern drückt mit diesen Worten lediglich Gefühle
ne Freude übet das Eintreten oder seine Unsofriedenheit mit
en der Eltern.
! nicht, was allerdings sehr nahe liegt, daß das Kind ja doch
ersten Monaten seines Lebens auf die Stimme der Mutter
rärterin höre. Meumann hält diese allbekannte Erscheinung
ter, als eine Art Anlehnung oder Richtung des kindlichen Sinnes
mmenes angenehmes Geräusch, also eine einfache Suggestion,
päteren Monaten zeigt sich bei gleichem Anlaß, wie er richtig
höchstens eine ganz schwache Assoziation, die Lindner am
er Wanduhr allerdings nachgewiesen, aber in ihrer Bedeutung
X, Auch Sigismund und Preyer legen nach Meumann irrtümlich
i eines zweiten ausgestopften Vogels, der dem ersten dem Kinde
ig gleich aussah, zu viel Gewicht beL
1 gelangt zum wirklichen Sprechen erst, nachdem die oben
und ähnliche Worte zunächst rein mechanisch eingeübt, dann
ii wirklich als Zeichen für die einzelnen Wahmehmimgen von
in sind und Gebärden mit größerer oder geringerer Lebendig-
laßen zur Illustrierung des Empfundenen von ihm angewendet
ai.
ein. Karl Löschhorn.
Bibliotheca pädo-psycholog^ica
von
Leo Hirschlaff.
Literatur des Jahres 1901.
A. Allgemeine Psychologie.
b. Sinnesempfindungen.
Fortsetzung.
524. Schwendt: Ergänzende Untersuchung über Tonhöhenbestimmung
sehr hoher Töne mittels der Kimdt'schen Staubfiguren. Verhand-
lungen der deutschen otologischen Gesellschaft, S. 65—65.
525. Scripture, E. ,W.: The Color Sense Tester. C. R. IVe Congr^s
Int. de Psychol., 1900 (1901), 387—402.
526. Scripture, E. W.: A safe test for color vision. Stud. fr. Yale
Psychol. Lab., 1900 (1901), VIII, 1—20.
527. S e a r s , C. H. : Studies in Rhythm. Ped. Sem., 1901, VIII, 1—44.
528. S e n g e r , E. : Phonation und Resonanz der Gesangsorgane. Musi-
kalisches Wochenblatt, No. 11.
529. Siebenmann, F.: Über die Entstehung der Membrana tectoria.
Verhandlungen der deutschen otologischen Gesellschaft, S. 31.
530. S o 1 o m o n s , L. M. : A New Explanation of Weber*s Law. PsychoL
Review, 1900, VII, 3. 234—240.
531. Sommer, G. : Über die Zahl der Temperaturpunkte der äußeren)
Haut. Sitzber. d. physik.-med. Gesellsch. zu Würzburg Jahrg. 1901,
S. 63-66.
532. V. Spee, F.: Zur Histologie des Corti*schen Organs in der Gehör-
schnecke des erwachsenen Menschen. Anatomischer Anzeiger, Erg.
S. 13—23.
533. Squire, C. R.: A Genetic Study of Rhythm. Amer. Joum. of
Psychol. XII (4), 492—589. 1901.
534. Stadelmann: Ein Fall von Aphasie \xtid Agraphie. CentralbL
f. Nervenhk. und Psychiatr., 1900, n. F., XI, 718—717.
535. Steiger, A.: Sehschärfe und Astigmatismus. Arch. f. Augenhk.,
1901, XLIV (Ergzgsh.), 15—30.
536. Stern, L. W. : Kontinuierliche Flaschentonreihe. Verhandlungen der
deutschen otologischen Gesellschaft, S. 136-189.
BibU&$k«€a pädo-psychölogica.
235
637. Stevens, E. H.: Über Schallgeschwindigkeit in Luft bd gewöhfji-
licher imd bei hoher Temperarur und in verschiedenen Dämpfen. Diss.
Heidelberg 1900. 72 S,
538, Stevens, W. Le C: Paeudoscopic Vision. Science, N. S., 1901,
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Scbriftleitung: F. Kemties, Berlin NW., Paulstr. :U und L. Hinchlaff, Beriin W.» U|tw«|lr«4l
VerUg von Hermann Walther, Verlagsbuchhandl., O. m. b. H., Berlin SW., KominiuidaalCHlL M
Druck : Deutsche Buch- und Knnstdruckerd O. m. b. H., Zossen^Bolfai SW. 11.
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5. Jahrgang. 1903 Heft 4/5.
Zeitschrift
für
^ädaaoal$cl)e P$ycl)oloalc,
Pathologie und l^ygiene.
Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff.
^ Inhalt von Heft 4/5.
Original-Artikel.
[einrich Idelberger, Hauptprobleme der kindlichen Sprachentwickelung.
eo Hirschlaff, Zur Gesundheitspflege des Nervensystems.
larx Lobsien, Kinderideale.
udvig Gurlitt, Die Schule und das öffentliche Leben.
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Psychologische Gesellschaft zu Berlin. — Psychologische Gesellschaft zu
Breslau. — Verein für Kinderforschung.
Berichte und Besprechungen.
B. Otto. — B. Otto. — Eingesandt.
Mittellungen.
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Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaft
Jahr^ng V* Berlin, Dexeniber 1003.
Heft 4/5.
Hauptprobleme der kindlichen Sprachentwlcklun^
nach eigener Beobachtung behandelt von
Heinrich Idel berger.
Vorwort
Im Sonimer vorigen Jahres veranlaßte mich Herr PrDfessor
I>r. E, Meumann, Zürich, Beobachtungen über die Entwickelung
der Kindersprache anzustellen. Die von mir in dieser Richtung
gewormenen Ergebnisse liegen nun teilweise in der nachstehen-
den Abhandlung v'or. Ob und inwieweit den mitgeteilten Resul-
taten eine wissenschaftliche Bedeutung beimmessen ist, muß
ich einer kompetenteren Beurteilung überlassen.
Bei der Behandlung der folgenden Sprachprobleme dienten
mir, soweit dies mögUch war, die an meinem eigenen Kinde
Ktirt Idelberger angestellten Beobachtungen als Grundlage.
Wo diese nicht ausreichten, wie vor allem bei der Frage der
Worterfindung, habe ich sodann den Beobachtungskreis in dem
Älaße erweitert, als ich es zu einer unanfechtbaren Lösung
unserer Probleme für notwendig hielt. So habe ich denn außer
meinem Sohne noch die folgenden Kinder beobachtet, bezw,
beobachten lassen:
1. Gertrüde SiaW. geb. 21. VII. lOÜL )
2. AlbrechT Herzog, geb. L\ L 1901. \ (von mir selbst beobachtet.)
a Heinrich Nan, geb. 28, IIL IWi. |
4. August Hackel, geb. 7- IX. 1J)(1L (Vaier: Kaufmann.!
5. Erich Spohr, geb. 10. VI. IBOL I (Vater: Ant; Mutter: ehemaiige
6. Irene Spohr, geb. 8. VIIL 1902. ( Lehrerin,)
7. Hellmut Rauch, geb. 27, VTU. 1901, (Vater: Am.)
a Ernst Witebäky, geb. 8. IX. 19U1. (Vater: Amt.)
% Rosa Bartscher, geb. 15. IX. 190L (Vater: Lehrer.)
10. Elisabeth Schwarahaiipt, geb. 7. L 1301. (Vater t Lehrer; Mutter:
ehe m al ige L e hrp ri n . )
IL Walter Jost, geb. 13, 11. 190^. (Vater: Lehrer; Mutter: ehem. Lehrerin.)
ZcitKlifift für pädDign^i^che Psychologie* P*ihologi* und Hygiene. 1
242 Heimich Idelberger,
12. Kurt Zorbach, geb. 30. VII. 1899. \
13. Johanna Zorbach, geb. 14. V. 1901. \ (Vater: Lehrer.)
14. Heinrich Zorbach, geb. 14. IX. 1902. J
15. Margarete Schiocker, geb. 17. VI. 1902. (Vater: Ökonom.)
16. Kurt Idelberger, geb. 6. U. 1902. (Vater: Der Verfasser.)
Die unter 4 bis 15 genannten Kinder sind nur gelegent-
lich von mir selbst beobachtet worden ; im übrigen haben die
Eltern derselben auf meine Veranlassung hin Beobachtungen
in der Richtung der behandelten Probleme aufgezeichnet und
mir zukommen lassen. In Anbetracht dessen, daß die Beob-
achtung von Kindern eine gewisse Übung und Schulung er-
fordert, und mit Rücksicht auf die Beurteilung des Wertes
des dieser Abhandlung zugrunde liegenden Materials halte ich
es für nicht überflüssig, zu bemerken, daß ich diese Eltern
für besonders geeignet zum Beobachten erachtete.
Die einschlägige Literatur habe ich mit Absicht nur in
geringem Umfange benutzt, um durch dieselbe nicht zu sehr
beeinflußt zu werden.
Einleitung.
Ehe ich in die eigentliche Behandlung der Probleme ein-
trete, sei mir gestattet, einige Beobachtimgen allgemein-psycho-
logischer Natur mitzuteilen, welche für die nachfolgenden
speziellen sprachpsychologischen Erörterungen von ganz be-
sonderer Bedeutung sind. Dieselben betreffen einesteils das
Verhältnis des Gefühls- und Willenslebens ziim Vorstellungs-
leben und andernteils die Energie der kindlichen Aufmerksam-
keit am Ende der Zeitperiode, die man die Periode des Sprach-
verständnisses nennt, nach deren Ablauf — durchschnittlich
im zwölften Lebensmonat — das spontane Sprechen beginnt
I. Beobachtungen über das Verhältnis des
Gefühls- und Willenslebens zum Vorstellungs*
leben beim Kinde.
Das Verhältnis des Gefühls- und Willenslebens zum Vor-
stellungsleben ist erkennbar aus der Gesamtheit der psychischen
Äußerungen. Als solche sind in der fraglichen Lebensperiode
vor allem die mimischen und pantomimischen Ausdrucks-
beweg^ngen (Gebärden) anzusehen; außerdem standen meinem
Sohne Kurt an dem Tage, an welchem ich die nachfolgenden
Aufzeichnungen gemacht habe, schon einige Laute bezw. Laut-
verbindungen zur Äußerung verschiedener seelischer Emotionen,
insbesondere die Lautreduplikation „ö — ö", verbunden mit der
hinweisenden Gebärde, als Ausdruck eines Begehrens zur Ver-
iiuuptpTobUme der kindikhm Spr^cktnn&ükiung.
243
ting. ^^in 4. Januar 1903, also am 334, Lebenstage Kurts,
le ich txxT Feststellung des genannten Verhältnisses an ver*
iedenen Stunden alle diese Ausdrucksbewegungen auf-
eichnet. Zur Klarlegung desselben genügt es, wenn ich
lesen Aufzeichnungen eine Stichprobe gebe. Ich teile
sbachtungen mit, welche ich an dem betreffenden Tage
-7 Uhr nachmittags niedergeschrieben habe. Zum Ver-
lis der Situation bemerke ich noch, daß ich mich mit
er Frau und Kurt> um auch Beobachtungen an Gertrude
hl aniustelkn, in die in unserm Hause eine Treppe höher
egene Wohnung des Kaufmanns Stahl begeben hatte. Im
»hnzimmer dortselbst waren außer mir, meiner Frau und
rt noch Frau Stahl und ihr Töchterchen Gertrude anwesend.
iiugefügt sei noch^ daß Kurt^ welcher aJs Beobachlungsobjekt
ler bezeichneten Frage diente, körperlich so weit entwickelt
kdaß er, an einer Hand geführt, durchs Zimmer schreiten,
also bei dieser Hilfeleistung zum Gegenstande seines Be-
irens hinbewegen konnte. Ich gestatte mirj die unsere Frage
reffenden Beobachtungen in derselben aphoristischen Form
(teilen, in der ich sie seinerzeit aufgezeichnet habe,
c>3 (334* Lebens tag). 6 U hr nachmittags,
[urt will ein höhernes Milchkännchen (Spiel/eug) haben
Igt mit freudiger Miene nach dem Licht — will vom
Jöß der Mama auf den Boden — will laufen — will an den
Bchinn — jauchzt vor Freude: ei, ei — rückt am Stuhl
nd her — nimmt das vorbezeichnete Milchkännchen in
Hand — sieht verwundert m das dunkle Schlafzimmer
Vüre 2U demselben war von Frau St. geöffnet worden) —
t das Milchkännchen w^eg — ruft vor Freude: heil — will
^ — guckt ins Schlafzimmer und lacht — sieht mich an
Pacht laut — bläst vor Vergnügen — spricht „dada" vor
'gnügen — spricht „ö — ö** als Ausdruck eines Begehrens
r Gegenstand seines Begehrens konnte in der Eile nicht
gestellt werden) — will aufgehoben werden, nachdem man
jrher auf den Fußboden gesetzt hat — zerrt und drückt
lem Stuhl, daß er vor Anstrengung schnauft — nimmt
böberne Milchkännchen in die Hand — legt es wieder
Seite — greift nach dem ölkännchen an der Seite der
[laschine* —
^^^ Uhr, Macht „ch— ch** vor Freude — greift ins Innere
244 Heinrich Idelberger,
der Nähmaschine — hebt ein Streichholzschächtelchen vo
Boden auf — wirft es wieder hin — fällt hin und weint — nip
an den Haaren des auf dem Boden liegenden Dachsfelles -
spricht „wauwau** — will aufgehoben werden — macht e
erstauntes Gesicht — hebt den Zeigefinger und spricht „ö — <
— stößt vor Freude den Laut „ch** hervor — will das hölzer-:
Milchkännchen haben — reckt die Ärmchen, um auf den Sek-
der Mama gehoben zu werden — will in die Schlafstube sehe
nachdem er von dorther einen Laut gehört hat — klopft n
einem Fuße auf den Boden — guckt nach Frau St. und spric
„bw — bw** — will von dem Töpfchen, auf welches er zwec
Urinabsonderung gesetzt worden ist, wieder auf — kaut 2
seinen Fingern — will die Holzspielsachen haben — schre
vor Zorn — will die Spielsachen haben — weint — will (k
Nachttöpfchen haben — zeigt nach einer kleinen Schelle uii
spricht „ö — ö** zum Zeichen, daß er dieselbe haben möchl
— blickt mit Verwunderung auf ein rollendes Rasselchen — "vü
dasselbe haben — will nicht das gereichte Stück Apfelsin
nehmen — wehrt ab — will vom Boden aufgehoben werde
— will laufen — weigert sich wiederholt, das dargereichl
Apfelsinestück zu essen — nimmt und versucht es — verziel
das Gesicht bei dem saueren Geschmack — ißt — will noc
ein Stück haben. —
62Ö Uhr. Kurt ißt — begehrt noch ein Stück Apfelsir
— fordert lebhaft, indem er mit dem Zeigefinger auf ein solch<
hindeutet und „ö — ö** spricht — (er erhält ein Stückchen) -
sieht erwartimgsvoU nach Frau St., die wieder ein Stück 2'
recht macht — greift nach der Stuhllehne — will sich ii
Schoß der Mutter aufstellen — will ein Stück Apfelsine habe
— rückt an einem Stuhl — wackelt an dem Stuhl — versuc!
ein Stück Apfelsine — macht ein „saueres** Gesicht — weh
ab — weint — will sich an der Stuhllehne aufstellen. —
6^0 Uhr. Zeigt einen nicht erkennbaren Wunsch dur»
unbestinmites Hin- und Herzeigen mit dem Zeigefinger an UJ
spricht dabei „ö — ö** — will laufen — lacht — tätschelt c
Mama — wird auf den Boden gesetzt und weint — will a*^
gehoben werden — freut sich über das klingende Rollschellcb.
— will es haben — jauchzt laut auf — lacht laut — rum.
die Spielzeugschachtel — lacht laut — läuft an der Hai
der Mutter dem rollenden Schellchen nach — lacht — läi
RmipipTühtime (Ur kmdlichm SpmckmfmfiMwng.
245
rancl um die Mama — freut sich sehr dabei — sieht das
l^hcUchen und lacht laut — bläst vor Vergnügen — sitzt auf
" dem Nachttöpfcheti und stößt in seiner Freude den Laut ,,ei** aus
— will von dem Töpfchen auf — uriniert — weint — kaut an den
Fingern — will dem Rollschellchen nach — freut sich — lacht
laut ™ lacht — will auf den Schoß der Mutter — will wieder
auf den Boden — streckt die Zunge vor und lacht — lacht
laut und stößt den Laut j^ei** hervor — macht ,,backe, backe
Kuchen" — ruft vor Freude „ei'* — will sich im Schoß der
Mutter aufstellen — petzt die Augen zu — betrachtet mit Staunen
Maxuas Brosche — spricht „wauwe" — streichelt die Mama
^ stößt vor Freude den Laut ,,ch" aus — zeigt nach einem
Stuhl und spricht „ö— ö'' (wahrscheinlich will er an demselben
herumhantieren) — (Frau St* hat einige Butterbrote in einer
Schale auf den Tisch gestellt} Kurt greift danach und nimmt
— ißt. —
6*0 Uhr. Reicht wieder nach den auf dem Tisch noch
stehenden Butterbrötchenj obwohl er noch hat — ißt — greift
nach dem Brötchen der Gertnide St. — ißt — schaut mit Ver-
minderung nach der schlagenden Wanduhr (6^/4 Uhr) — macht
^^ktierende Handbewegungen — will kein Brot mehr, wehrt
ab — ^iii auf den Boden — läuft — freut sich — will die
^^^ohnstubentüre zumachen — fällt hin und erhebt sich wieder
guckt erstaunt in die dunkle Schlafstube — ruft vor Freude
„ei** — wirft den Ofenschirm um — will an das Nachttöpfchen
~~^ bläst vor Freude „ch — ch'*. —
6^0 Uhr. Bewegt die Schlafstubentüre hin und her — will
m ciie Schlafstube — in der Dunkelheit fürchtet er sich jedoch,
*^^gt an zu weinen und kehrt wieder um — will laufen —
'^^cht die Schlafstubentüre auf und zu — spaziert ein kleines
-^üekchen ins Schlafzimmer, indem er sich an der Wand hält
^^ Icommt wieder heraus — macht die Türe zu — zieht sie
Meder auf — will zur Wohnzimmertüre hinaus auf den Vorplatz
"^ vifill an den Stuhl — bläst vor Vergnügen ^»ch — ch** — will
^ die Nähmaschine — freut sich — setzt sich auf den Boden
"^ ^lU auf — zeigt nach der kleinen Gertrude — klopft mit
^i^em kleinen hölzernen Spieltöpfchen an der Nähmaschine
nenun — spricht „wauwe** — will auf den Arm der Mutter
^ ^'ill laufen — freut sich und ruft „ei** — will die auf einem
Weinen nebenanstehenden Tischchen liegenden Muscheln haben
246 Heinrick ItUlberger.
— fällt hin und weint — will nach dem Papa — greint imJ^ciet
noch — will nach der Nähmaschine — will das blechc^^^
ölkännchen haben — freut sich und ruft „ei" — will an ^^
Muscheln — lacht und freut sich über das plärrende Schäfcb^^
(Spielzeug) — reicht mit großer Lebhaftigkeit nach do^
Muscheln — ruft vor Freude „ei" — will an die Nähmaschine - —
lallt „hadä" — hantiert an der Maschine herum — rupft slt\
dem Lederriemen der Maschine — freut sich und stößt d^n
Laut „ch— ch" aus. — (Schluß 7 Uhr.)
Was lehren ims nun diese Aufzeichnungen?
Die Äußerungen des Gefühls- und Willenslebens sind auft^ir-
ordentlich zahlreich und vielgestaltig. Es vergeht kaum eixi
Augenblick, in dem das Kind den aufmerksamen Beobachter
nicht einen neuen Wunsch oder eine neue Gefühlserregung er-
kennen läßt. Die Willensäußerungen des Kindes, die mit-
geteilten Wünsche und Betätigungen, stellen sich nun durch-
weg als triebartige Willenshandlimgen dar, und in diesem
Sinne bitte ich die von mir in meinem Berichte gebrauchte
Form „er will** aufzufassen. Das Gefühlsleben ist, wie 'wir
ersehen können, zu der fraglichen Zeit schon sehr differenziert
und wird charakterisiert durch das Vorwalten 4^ Affekte
(Schmerz, Freude, Zorn, Furcht, Staimen etc.). Intellektuelles
Leben können bezw. müssen wir bei den mitgeteilten Beobach-
tungen insoweit annehmen, als dies zur Erklärung der Existenz
der Triebe und Affekte notwendig ist. Sofern sich nämlich
diese letzteren auf Dinge und Vorgänge richten, muß voraus-
gesetzt werden, daß das Kind gegenständliche Wahmehmungfe^
(von denselben) bildet. Doch sind dieselben offenbar sehr
primitiver und oberflächlicher Art. Dies erhellt einesteils aus
der Kürze der Zeit, in der die gegenständlichen Reize auf die
Sinne und im weiteren Verlaufe auf das kindliche Bewußtsein
einwirken (ich werde diesen Punkt im folgenden Kapitel noch
näher ins Auge fassen), andernteils aber auch aus der all-
gemeinen psychophysischen Entwickeltheit in diesem Alter. D^^
Sinneswahrnehmungen haben um ihrer selbst willen für das
Kind keine Bedeutung ( — es betrachtet die Gegenstände und
Vorgänge nicht aus objektivem Interesse — ) ; sie erlangen di^*
selbe in dem kindlichen Seelenleben nur in dem Maße, ab
sie die einfachen Motive für die Triebhandlungen des
Kindes abgeben oder die Gefühle desselben auslösen. Triebe
i/au^J^r&Mrrnt iUr JkiHititckm SßfpßktmtwicMHttj^,
247
un d Affekte sind es — das geht zweifellos aus den mitgeteilten
Beobachtungen hervor — die das Kind in dieser Lebensperiode
vollständig beherrschen; das imeUektuelle Leben tritt diesen
gegenüber ganz zurück (Daß das Kind, wie man aus anderen
Beobachtungen schheßen kann, kcmpliziertere Assimilationen
und sukzessive Assoziationen bildet, ändert hieran nichts.)
Diese Feststellung ist nun für die folgende sprach psycho-
logische Erörterung von der allergrößten Bedeutung. Das
gekennieichnete Verhältnis des Gefühls- und Willenslebens kehrt
^icfi natürlich nicht momentan um: es waltet auch noch ob zu
der Zeit, in der sich ,,die Seele des Kindes in die Sprache
flüchter* (Hall) und kommt in derselben zum prägnanten Aus-
druck. Erst allmählich, mit wachsender Aufmerksamkeit und
Konzentrationsfähigkeit des Kindes, ändert sich dasselbe zu
gunsten des intellektuellen Lebens.
Eine Parallele zu diesen Beobachtungen bietet uns die
Völkerpsychologie. Bei den noch auf einer niedrigen Kukur-
stufe stehenden Naturvölkern werden die Individuen ebenfalls
niehr oder weniger von ihren Trieben und Affekten beherrscht,
Äiich hier macht sich das Dominieren des Gefühls- und Trieb-
'^beris in der Sprache geltend, doch muß ich es mir versagen,
Qä^rauf näher einzugehen.
In den bisherigen Erörterungen über die Entwickelung
der Kindersprache hat man nun dieses Verhähnis des emDtionell-
volitjonalen Lebens zum intellektuellen Leben beim Kinde In
dieser Zeit sehr mit Unrecht ganz unberücksichtigt gelassen
^^^eyer. Lindner, Ament). Die Folge davon ist eine durchaus
^*Sehe Auffassung von der Entstehung und Natur der ersten
^Wortbedeutungen gewesen. Bei Behandlung des ersten Haupt*
P^'otilems w^erde ich ausführlich hierauf zurückkommen.
2. Beobachtungen über die Energie der
Aufmerksamkeitt
Beim Erwachsenen ist die Energie der Aufmerksamkeit
^^ äußeren Beobachtung aus mimischen Ausdrucksbe-
^Siingen, aus der Quantität, Klarheit und Vollständigkeit der
Pperzipierten Vorstellungen, deren Kontrolle dem Beobachten^
J^^ durch die Sprache möglich ist, aus der Konstanz (Dauer)
^^^ Aufmerksamkeit und ^ besonders bei höheren Graden
e^r letzteren — im Experiment aus Veränderungen in Atem
^^^ Mi*i«im 4^kimn^^. Beim Kinde im 12. Lebensmonat laßt
248 Heinrich Idelberger.
sich dieselbe bestenfalls nur aus mimischen AusdrucVwS-
bewegungen und der Konstanz (Dauer) der Aufmerksamfei^it
schließen. Da sich nun die ersteren als ein sehr varial>l^s
Merkmal kennzeichnen, das dazu in Bezug auf seine V^^x-
Wendung keineswegs immer einwandfrei ist insofern, als A^r-
ßdbe Gesichtsausdruck, in dem sich die Aufmerksamkeit vcl-x-
raten soll, auch als ein Zeichen der Verwunderung, des Staunens
gelten kann, so bleibt uns als einigermaßen untrügliches Ken.ii-
zeichen hier nur die Konstanz. Die Frage nach der Energ'i«
der Aufmerksamkeit des Kindes in dem besagten Lebensal^^i^
läuft also im wesentlichen auf die Frage nach ihrer Konstsi-xiz
hinaus. Bestinmit formuliert, würde dieselbe lauten: W ie
lange vermag das Kind im zwölften Lebensmonat irgemrx^-
welchen Dingen oder Vorgängen seine Aufmerksamkeit olrxxie
Unterbrechxmg zuzuwenden? Die Beantwortung dieser Fr^^^e
ist nun, selbst bei genauester Beobachtung und imter Zuhi 1 * ^•
nähme der besten zeitmessenden Instrumente, nicht so leic^^^»
als dies auf den ersten Blick scheinen könnte, ja in vi^l^^
Fällen ganz unmöglich. Dies hat seinen Grund darin, daß si^**
das Kind keineswegs immer solange einer objektiven Betrat^ ^'
tung der Dinge hingibt, als es seine Sinne scheinbar auf ci^^'
selben richtet. Dieselbe wird vielmehr in den meisten Fäl'^'^
dadurch eliminiert, daß sich die Triebe und Affekte, die du ^'^^
die Sinneswahrnehmungen ausgelöst worden sind, mit aJ-*^^
Macht im Bewußtsein vordrängen und nunmehr — wie i^*^
im vorigen Kapitel ausführte — die Seele des Kindes ^^^
herrschen. Wenn also von Aufmerksamkeit nur solange die R^^-^^
sein kann, als sich das Kind aus objektivem Interesse der siX^ ^'
liehen Betrachtung der Dinge und Vorgänge widmet, so nd-*^
man sagen, daß die Dauer der Aufmerksamkeit durchaus ni^^
identisch mit der Zeitdauer des Hinsehens, Hinhörens etc. n^- ^^
den Gegenständen und Vorgängen ist, und hierin liegt die gro ^^^
Schwierigkeit einer experimentellen Bestinunung der erster ^^^'
Bei den im folgenden mitgeteilten Versuchen zur Messi^^^^
der Aufmerksamkeitsdauer kam es mir besonders darauf S^^'
die höchstmöglichste Leistung des Kindes in dieser Bezieh» -^-^^
festzustellen. Ich wählte darum zu denselben Dinge und V^^
gänge von größter Reizintensität. Die Reize gehören den \^^^
schiedenen Sinnesgebieten an. Bei Ausführung der Versuch ^^^
waren mir meine Frau und mein Vetter, Herr Regienmgsb^^
HauptprobUnu der kindUchen Spracheniwicklung. 249
fülirer Hermann Idelberger, behilflich. Als Zeitmesser diente die
Taschenuhr; ein feineres zeitmessendes Instrument stand mir
leider nicht zur Verfügung. Die einzelnen Versuche folgten mit
Pausen von je zwei bis fünf Minuten aufeinander. Nunmehr teile
ich die an vier verschiedenen Tagen vorgenommenen Versuchs-
reihen nach dem Tagebuche mit.
I. Versuchsreihe (vom5. 1. 1903 [335. Lebenst.J, nachm. 6— 7 Uhr).
Frage i. Wie lange vermag das Kind seine Aufmerksam-
keit ohne Unterbrechung einem Vorgang zuzuwenden?
Versuch a. Es wird ein kleines selbstlaufendes Blech-
^äxischen vor Kurt auf den Tisch gesetzt und laufen gelassen.
Er beobachtet den Vorgang zehn Sekunden lang ohne Unter-
brechung.
Versuch b. (Derselbe Vorgang.) Dauer des Hinsehens:
'^ Sekunden.
Versuch c. (Derselbe Vorgang.) Dauer des Hinsehens:
^S Sekunden.
Versuch d. (Derselbe Vorgang.) Dauer des Hinsehens:
^ Sekunden.
Versuch e. (Derselbe Vorgang.) Dauer des Hinsehens:
3 Sekunden.
Während dieser Versuche ist Kurt bestrebt, das „Tierchen"
^^ ergreifen; es wird dies unmöglich gemacht.
Frage 2. Wie lange vermag das Kind seine Aufmerk-
^^^inkeit ununterbrochen einem ruhenden Gegenstand zuzu-
^^nden?
Versuch a. Es wird ihm eine Taschenuhr vorgehalten;
^^^ Knabe sieht nach derselben 20 Sekunden lang hin.
Versuch b. (Derselbe Gegenstand.) Dauer des Hinsehens :
4- Sekunden.
Versuch c. Gegenstand: Taschenmesser; Dauer des Hin-
^^fciens: 5 Sekunden.
(Kurt greift nach den Gegenständen.)
Versuch d. Gegenstand : Brennglas (wird ihm in die Hand
^^geben). Dauer der Aufmerksamkeit: 5 Sekunden.
Versuch e. Gegenstand : Photographie (wird ihm gegeben).
^Uer der Aufmerksamkeit: 10 Sekunden.
F r a g e 3. Wie lange wird die Aufmerksamkeit des Kindes
^^<^li einen Gehörsreiz gefesselt?
250 HemriOi Idelberger.
Versuch a. Ein im „guten Zimmer** befindliches Pianofort -:
wird gespielt. Kurt befindet sich in dem nebenanliegenden
Wohnzimmer; er kann das Instrument nicht sehen. (Er
schon sehr frühe großes Interesse an Musik gezeigt; er y^spielt
selbst gern imd begleitet sehr häufig irgendwelche Musi
[Klavierspiel, Drehorgel] oder Gesang mit rhythmischen Are
bewegungen.)
Kurt strebt nach der Türe des „guten Zimmers""^ ^
25 Sekunden.
Versuch b. (Derselbe Reiz.) Dauer des Hinstrebens: :^^;
Sekunden.
Versuch c. (Derselbe Reiz.) Dauer des Hinstrebens: ^^2
Sekunden.
F r a g e 4. Wie lange wird die Aufmerksamkeit des KincfL^s
durch einen Tastreiz gefesselt?
Versuch a. Kurt wird am Oberschenkel gestreichelt. lE^r
gibt sich scheinbar dem Eindruck 30 Sekunden hin. Währ^Är».d
dieser Prozedur spricht er mehrmals das Wort „dada", ^in
Zeichen seines Wohlbehagens.
Versuch b. (Wie vor.) Kurt sitzt still da, scheint d^^n
Eindruck ganz hingegeben: 8 Sekunden.
Versuch c. Kurt wird am Kopf gestreichelt. Aufm^ri^
samkeitsdauer : acht Sekunden.
Frage 5. Wie lange vermag das Kind beim Vorsprecl*^^'^
die Mundstellungen der Erwachsenen zu beobachten?
Versuch a. Kurt beobachtet die Lippenbewegungen *^^'
ausgesetzt: 9 Sekunden.
Versuch b. Aufmerksamkeitsdauer: 12 Sekunden.
Versuch c. Aufmerksamkeitsdauer : 5 Sekunden.
Bezüglich dieser Frage hatte ich bereits früher Beoba-^^'**
timgen angestellt und dabei folgende Zeitdauer gefunden-
Versuch d. Am 17. 11. 1902 (also an Kurts 286. Leben^-
tage): 8 Sekunden.
Versuch e. Am 18. 11. 1902 (also an Kurts 287. Lebens- --^
tage): 16 Sekunden.
Bei diesen Versuchen zu Frage 5 wirken gleichzeitig ein l^uti
optischer und ein akustischer Reiz auf das kindliche Beiraßt* l^ei]
sein ein. Das Kind wendet hierbei den Lippenbewegungen V^
aus objektivem Interesse seine volle, ungeteilte Aufmerksam- I ^
HauptprobUm^ der kindlichen Sprachenitvicklung. 251
keit ZU. Man ist also imstande, die wirkliche Aufmerksamkeits-
dauer zu bestimmen.
Daß Kurt Geschmacksreize wahrnimmt, konnte verschieden-
fecli aus mimischen Ausdrucksbewegungen festgestellt werden,
doch war es unmöglich, auf diesem Sinnesgebiet die Aufmerk-
samkeitsdauer näher zu bestimmen.
"- 'Versuchsreihe (vom 7.1.1903 [337.Lebenst.],nachm.6— 7Uhr).
(Kvirt hatte von 5 — 6 Uhr ca. 15 Minuten geschlafen.) Hier
und auch bei den folgenden Versuchsreihen folgen die einzelnen
^^^^•suchc den bei der I. Versuchsreihe aufgestellten Fragen.
Frage i. Versuch a. Vorgang: laufendes Blechmäuschen.
Ö3.iaer des Hinsehens: 19 Sekunden.
Versuch b. Vorgang: Eine silberne Uhrkette wird vor
s^iixen Augen hin- und herbewegt. Dauer des Hinsehens:
5 Sekunden.
Versuch c. Derselbe Vorgang. Dauer des Hinsehens:
^^^^ Sekunden. Der Vorgang fesselt ihn also überhaupt nicht.
(^Uxt hat vielleicht bei Versuch b. eingesehen, daß er die Kette
^^^t:^ eifrigen Begehrens nicht erhält.)
Frage 2. Versuch a. Gegenstand: Taschenuhr. Dauer
des Hinsehens: 5 Sekunden.
Versuch b. Derselbe Gegenstand. Dauer des Hinsehens:
^ ^ Sekunden.
Versuch c. Gegenstand: Photographie. Dauer des Hin-
^^tk^ns: 5 Sekunden.
Versuch d. Gegenstand: Taschenmesser (wird ihm ge-
^^t>en). Aufmerksamkeitsdauer: 7 Sekunden.
Frage 3. Versuch a. Akustischer Reiz: Klavierspiel.
^Vier des Hinstrebens nach der Türe des „guten Zimmers*':
^^ Sekunden.
Versuch b. Derselbe Reiz. Dauer des Hinsehens: 40
^^Icunden.
^^ Versuch c. Derselbe Reiz. Dauer des Hinsehens: 40
^^ Wunden.
^^ (Als seinem Begehren Folge gegeben und er in das „gute
^^^iimer" an das Instrument gebracht wird, „spielt** er selbst
^i einem ersten Versuch 13 Sekunden und bei einem zweiten
^ Sekunden lang ohne Unterbrechung.)
F r a g e 4. Versuch : Tastreiz. Kurt wird am Oberschenkel
252 Heiniich Idelberger,
gestreichelt. Scheinbare Aufmerksamkeitsdauer: i6 Sekund^^^*
Hoppst bei dem Versuch verschiedenemal vor Freude. Es ^^^
darum fragUch, ob die Aufmerksamkeit nicht unterbrochen w^^-
Frage 5. Kurt beobachtet die Lippenbewegungen be**^
Vorsprechen 5 Sekunden lang.
HL Versuchsreihe (vom 11. 1.03 [34i.Lebenst.] 5—6 Uhr nach«ici •)
(Zwischen 4 und 5 Uhr nachmittags hatte Kurt ca. V2 Stun.^^
geschlafen.)
Frage i. Versuch a. Vorgang: Eine Taschenuhr wix"<i
an der Kette vor Kurt hin und her geschwungen. Dauer A^^^s
Hinsehens: 10 Sekunden.
Versuch b. Derselbe Vorgang. Dauer des Hinseher»- s. :
7 Sekunden.
Versuch c. Derselbe Vorgang. Dauer des Hinseher""»^-
12 Sekimden.
Frage 2. Versuch a. Gegenstand: Eine PhotograpÄn- ^^
wird ihm vorgehalten. Dauer des Hinsehens: 27 Sekund-^s^^*
Versuch b. Gegenstand: Eine Taschenuhr wird ihm ^^
die Hand gegeben. Kurt betrachtet dieselbe: 10 Sekunden^ ^
Versuch c. Gegenstand: Es wird ihm ein Schlüsselbu^i' *^^
gegeben. Dauer der Aufmerksamkeit: 7 Sekunden.
Frage 3. Versuch a. Akustischer Reiz: Klaviersj^ :^»-el
Kurt strebt nach der Türe des „guten Zinuners", 2 SekunA^ -^°
(Wird durch eine auf dem Tische liegende Taschenuhr
gelenkt.)
Versuch b. Derselbe Reiz. Dauer des Hinsehens: 2 -^^
künden.
Versuch c. Derselbe Reiz. Dauer des Hinsehens: 2 ^^
künden.
Frage 4. Tastreiz: Streicheln am Oberschenkel. I^^ '^^
gibt sich dem Reiz 15 Sekunden hin.
Frage 5. Kurt beobachtet die Lippenbewegungen h^^^^^
Vorsprechen: 4 Sekunden.
IV, Versuchsreihe (vom 18. 1. 03 [348. Lebenst.] 5—6 Uhr nac?» ^^'^
(Kurt hatte von 3 — 4 Uhr geschlafen.)
Frage i. Vorgang: Eine silberne Uhrkette wird -^'^^
Kurts Augen hin und her geschwungen. Dauer des Hinsehe ^^ '
5 Sekunden.
.b
^mftpwM&im der l^ä^Jftm Sprße^nJwfef^mg,
253
IVrage 2, Versuch a. Gegenstand: Es wird ihm eine
Tascl^enuhr in die Hand gegeben. Kurt betrachtet dieselbe
15 Sekunden,
^^ersuch b. Gegenstand : Eine Photographie wird ihm
gegeben, Dauer des Hinsehens: 12 Sekunden,
Frage 3- Akustischer Reiz: Klavierspiel Dauer der
Aufmerksamkeit: 65 Sekunden. Er sieht zuerst erstaunt nach
der "Türe des „guten Zimmers*' imd fängt sodann mit beiden
Häoclen an zu „taktieren**.
Frage 4. Tastreiz: Streicheln am Oberschenkel Auf-
merlcsamkeitsdauer : 10 Sekunden,
Frage 5. Versuch a. Kurt beobachtet die Lippen*
be^wegungen 3 Sekunden. (Wird durch Mamas Brosche ab*
gelenkt.)
Versuch b. Aufmerksamkeitsdauer: 2 Sekunden. (Der
S^abe wird durch das Licht abgelenkt.)
Was lehren uns nun diese Beobachtungen?
Soweit sich die tatsächUche Dauer der Aufmerksamkeit
tJn^weideutig erkennen läßt (siehe L Versuchsreihe, Frage 2:
^' Ersuch e und dj Frage 4: Versuch b und c, Frage 5; Ver-
^^c:li a, b> c, d und e; H, Versuchsreihe, Frage 2: Versuch d
^^<3 Frage 5; HL Versuchsreihe, Frage 2; Versuch b und Cj
*"^ge 4 und Frage 5; IV. Versuchsreihe, Frage 2: Versuch
^ ^M^nd b, Frage 4, Frage 5 : Versuch a und b) erscheint dieselbe
~~"^ und damit auch die Energie dur Aufmerksamkeit — durch-
_ ^^ sehr gering; in der IV. Versuchsreihe, Frage 2: Versuch a
_^^t: sie als höchstes Maß die Dauer von 15 Sekunden erreicht.
^«iicksichtigt man nun ferner noch, daß bei Dingen und Vor-
^^ngen von noch geringerer Reizintensivitat beabachtungs
S^niäß auch die Dauer (und Energie) der Aufmerksamkeit eine
8^«^ingere ist, ja meist nur Augenblicke beträgt^ so ist leicht
^ir^ausehen, daß das Kind in dieser Lebensperiode noch nicht
iit^ Stande sein kann, seine Wahrnehinungen zu analysieren. Denn
"^^ den En\'achsenen ist es notwendig, daß er, um einen ihm
°^^ dahin unbekannten Gegenstand in allen Details auf2ufassen,
'"^^^ o eint* analysierte Vorstellung von ihm zu bilden, demselben
^^ridestens längere Zeit (einige Minuten) seine Aufmerksam*
*^*t zuwendet. Wie soUte dies nun bei dem Kinde in dieser
^^bensperiode, dem doch die ihm entgegentretenden Dinge
254 Heinrich Idelberger.
und Vorgänge alle mehr oder weniger neu und unbekannt sind,
anders sein können I — Von diesem Ergebnis meiner Beob-
achtungen über die Energie der Aufmerksamkeit hängt nun
die Entscheidung der im folgenden zu behandehiden Frage,
wie die ersten gegenständlichen Wortbedeutungen des Kindes
entstehen und welcher Art sie sind, in erster Linie ab. Außer-
dem wird durch diese Beobachtungen auch die rein lautliche
Seite der Kindersprache berührt insofern, als durch die Energie
und Konstanz der Aufmerksamkeit die korrekte Erfassung der
Sprache der Erwachsenen und die Überwachung der eigenen
Wiedergabe (Nachahmung) der vorgesprochenen Laute und
Lautverbindungen bedingt ist.
Nach diesen allgemein-psychologischen Bemerkungen
schreite ich nunmehr zur Behandlung zweier Hauptproblemess.
der kindlichen Sprachentwickelung, nämlich des Problems denrr*
ersten Wortbedeutungen und des Problems der Worterfindung: ^
die beide zurzeit lebhaft erörtert werden.
I. Das Problem der ersten Wortbedeutungen
beim Kinde.
Auf der Stufe der normalen Hörstummheit oder des Spracl:^-
verständnisses (gewöhnlich vom sechsten bis zwölften Mona."C)
hat das Kind gelernt, einesteils vorgesprochene Laute oder LauEt-
verbindungen nachzuahmen, andemteils vorgesprochene Worte
zu verstehen, ohne dieselben nachsprechen zu können. „Ai-if
dieser zweifachen Basis: auf dem bloß lautlichen Nachahmen
vorgesprochener Worte und auf dem Sprachverständnis ohne
Sprechen erhebt sich meist am Anfang des zweiten Leberxs-
jahres die eigentliche Sprache, das lautliche Nachahmen von
Worten mit Sprachverständnis" (Meumann, Die Entstehung der
ersten Wortbedeutungen beim Kinde; Leipzig 1902, Seite i4
[im folgenden zitiert als Meumann I] und Meumann, Die Spraol^^
des Kindes; Zürich 1903, Seite 25 [zitiert als Meumann Hl)-
Erst dann, wenn dem Kinde artikulierte Laute oder La.'*!^"
komplexe Zeichen für einen geistigen Inhalt werden und vron
ihm verwendet werden, um diesen geistigen Inhalt auszudrüclc^^»
mitzuteilen und zu bezeichnen (Meumann I, Seite 7 imd MT^^"
mann II, Seite 25) kann von eigentlichem Sprechen die R^^^
sein. Hiemach haben wir es also bei aller Sprache mit zv*''^^
Maupif*t&hkm£ der HndlkhtH Sprackentwidttmf§g*
255
Elementen zu tun, nämlich dem Laute oder der Lautverbindung
und einem psychischen Inhalt desselben (derselben) oder der
Wortbedeutung, Demgemäß hat sich auch eine Darstellung
der kindlichen Sprachentwickelung mit der lautHchen Ent-
wickelung der Wone (und der späteren syntaktischen Entwicke-
lung der Sätze) oder der „äußeren Sprachform*" (Steinthal)
und der Entwickelung der Wortbedeutungen (und des Satz-
inhaltes) oder der „inneren Sprachform" zu befassen. Unser
Problem weist mir nun die Aufgabe zu, die Entstehung der
allerersten Wortbedeutungen beim Kinde klarzulegen, eine
Aufgabe, die als eine der schwierigsten auf dem Gebiete der
kindlichen Sprachentwickelung bezeichnet werden muß. Denn
während sich einerseits die äußere Sprachform unmittelbar der
äußeren Beobachtung darbietet, wir darum jede lautliche Ver-
änderung leicht feststellen können, anderseits in bezug auf
^ie innere Sprachform in späteren Entwickelungsstadien die
^^oghchkeit vorliegt, uns mit dem Kinde über den Sinn seiner
WoriD durch gegenseitige Aussprache verständigen zu können,
^^ sind wir in jener Periode, in der das Kind seine ersten
^^^ortbedeutungen gewinnt, auf eine sachlich ungenügende
1* orschungsmethode angewiesen* Die Methoden der äußeren
^*2obachiung und der wechselseitigen Verständigung versagen
f^ier vollständig. Man kann nur aus den sprachlichen Äuße*
^txngen des Kindes Rückschlüsse machen auf das, was es damit
^^int. Doch diese Methode birgt die große Gefahr in sich,
^ß der Erwachsene den Äußerungen des Kindes seine Wort-
^deutimgen unterschiebt* Außerdem gew^ährt sie, unein-
geschränkt zur Anwendung gebracht, dem jeweiligen sub-
^^«tiven sprachwissenschaftlichen und philosophischen Stand-
'^^*lkte des Beobachters großen Einfluß auf die Deutung der
*"^ten Kindesworte. Eine kurze Darstellung der Geschichte
^t^Seres Problems wird dies zeigen. (Da der Schwerpunkt dieser
^'^nz^n Abhandlung in der Mitteilung und Verarbeitung eigener
^"^obachtungen Hegt, so erlaube ich mir, die geschichtlichen
Mitteilungen, soweit möglich^ im Anschluß an Meumann I und
^^iimann II zu geben.)
Die ersten deutschen Erforscher der Kindersprache : Sigis-
^"und, Linder und Preyer fassen die ersten Worte des Kindes
*^^ 'Wfesentlichen als Begriffe auf, die durch Abstraktion auf
es leichten Herausfindens der Ähnlichkeit von Wahr-
256 Heinrich Idelberger.
nehmungsumständen gewonnen seien und mit weitestem UmfsLKXf
verwendet würden. Die Frage nach der Entstehimg der ersü^tr
Wortbedeutungen läuft darxmi bei diesen auf dem Standpunkcire
einer logischen Psychologie stehenden Beobachtern vielfa.c:I)
hinaus auf die Frage nach der Entstehung von „Begriffexx**.
Nach ihrer Auffassung ist das Kind, längst ehe die Spraclie
beginnt, im Besitze aller logischen Funktionen: der Begriffs-,
Urteils- und Schlußbildung. — (Man vergleiche hierzu z. B.
Lindner, Aus dem Natur garten der Kindersprache; Leipzig-
1898, Seite 17, 18, 19 ff.) „Eine ähnliche Ansicht vertreten die
ersten französischen Forscher, insbesondere Perez, Compayr^
und Taine." (Meumann I, Seite 2.) Die Auffassung dieser
Interpreten der ersten Worte des Kindes, die ich nach dem Vor-
gange Meumanns als die logisch begriffliche bezeichne, wurde
fast gleichzeitig erschüttert durch die Statistik der kindlichen
Vokabularien, mit der amerikanische Psychologen und Lingu-
isten vorangingen, und durch die Kritik deutscher Pädagogen
und Psychologen, die fast sämtlich direkt oder indirekt von
Wundt angeregt wurden. Im Gegensatz zu der vorhin gekcan*
zeichneten Richtunjg^ vertreten diese letzteren die Ansicht, daß ^
sich bei des Kindes ersten Wortbedeutungen, soweit sie intellel*'
tueller Natur sind, um sehr unvollständige, imanalysierte Wat^T-
nehmungen handelt und daß die sprachliche Entwickelühg 4*^
Kindes vorerst lediglich des Assoziation^- und Reproduktior»-^-
gesetzen folgt. In diesem Sinne haben neben Wundt vCMSr
besondere W. Ament und E. Meumann die ältere Auffassu«ng
kritisiert. W. Ament nennt die ersten Wortbedeutxmgen d^
Kindes „Urbegriffe" (W. Ament, Die Entwickelung von Sprech.^
und Denken beim Kinde, Leipzig 1899, Seite 148 ff.) und ^i^
damit sagen, daß dieselben in intellektueller Beziehung eixje
völlige Sonderstellung einnehmen, sie sollen weder All^^
meinbegriffe noch Individualbegriffe sein, sondern werd^
in einer Weise verwendet, die beim Erwachsenen nicht meb''
vorkommt. Nach Ament ist ein Urbegriff die Bedeutung ein^
Wortes, welches mit einer undifferenzierten Sachvorstellung v^'
knüpft ist (Ament, a. a. O., Seite 150). Wegen der mang«''
haften Differenzierung des Wortinhalts können nun die Worte
in sehr allgemeiner Weise verwendet werden, und die Art ihrer
Verwendung nennt er „Wortverallgemeinerung". Etwas Ato-
liches wollte der englische Zoologe Romanes ausdrücken, weöft
ffoMßfpfsFBleme der i^äMcken f^ßrackintwick
er die ersten Wortbedeutungen als ,, Vorbegriffe** bezeichnete.
Er wollte damit andeuten^ daß die ersten intellektuellen Gebilde
des Kindes eine Zwischenstufe zwischen der allgemeinen
tierischen und der spezifisch-mensclilichen Erkenntnis ein-
nehmen, (Aus Meumann I, Seite 43,) Die Auffassungen Aments
und Romanes' haben das gemeinsam, daß es sich bei des Kindes
ersten Wortbedeutungen um eine noch nicht logische Stufe
^ der iniellektuellen Prozesse handelt. ..innerhalb welcher die
Worte des Kindes Namen von großer Allgemeinheit sind, mit
welchen die allerverschiedenartigsten Gegenstände bezeichnet
werden. Femer wird dabei angenommen, daß die Kinder
anfangs die zuerst erworbenen Worte beständig verallgemeinem,
'ndem sie einen immer größeren Kreis von Dingen unter die
gleiche Bezeichnimg unterordnen/' (Meumann II, Seite 53.)
(Iiigentümlicherweise bezeichnet Ament nicht bloß logisch
bea.rbeitete Vorstellungsgebüde, sondern alle Wortbedeutungen
^Is Begriffe. Dadurch wird er des Nachweises überhoben,
^'^rm und wie sich bei der Bildung der kindlichen VV^ortbedeu-
tud^en die logischen Funktionen betätigen, und da er infolge-
dessen in seiner Darstellung der ,,Entwickelung von Sprechen
^i^d Denken beim Kinde*' gerade dieses außerordentlich schwie-
^'S-e Problem unberücksichtigt läßt, kann man wohl sagen,
daß er bei seiner Arbeit auf halbem Wege stehen ge-
^'i^ben ist. Die Untersuchungen Aments sind auch in&afem
flieht ganz einwandfrei, als sich der Verfasser in der Absicht,
<len immerhin hypothetischen ParalleUsmus der onto genetischen
, *^riö philogenetischen Sprachentwickelung nachzuweisen, dazu
^*erleiten läßt, seine Beobachtungen im Sinne vorgefaßter ent-
^ickclungsgeschichtlicher und sprachwissenschaftlicher Mei-
nungen zu verwenden*) Ein weiterer Gegensatss in der Inter-
pretation der ersten Wortbedeutungen hat sich in der jüngsten
2eit herausgebildet. Wahrend bis dahin alle Beobachter der
K^iBdersprache dieselbe mehr oder weniger als intellektuelle
*-*^ bilde — apperzeptive oder assoziative — ansahen^ hat Meu-
^Janji in seinen beiden obengenannten Schriften darauf hin-
gewiesen, daß die allerersten Wortbedeutungen emotionell-
^'*>litional€r Art, die ersten Worte der Kinder also Gefühls- und
^\ unschwörter seien* Erst durch einen Prozeß, den er die
'»JtUellektualisierung'* der ersten Worte nennt, werden die Wort-
bedeutungen nach seiner Auffassung gegenständlicher Natur
Zdiichfift für pädAi^ogi&die PiychoIogSe, P-ithotogie und Hygiene. 2
258 Heinrich ItUlberger.
(Bezeichnungen von Wahrnehmungsinhalten, Dingen oder Vor-
gängen), ohne daß deren emotionelle Seite ganz zurücktritti
Diese Intellektualisierung der ersten Wortbedeutungen bildet
nach ihm den Übergang von der „emotionell-volitionalen" zur
„assoziativ-reproduktiven** Sprachstufe. (Meumann I a. a. 0.,
Seite 5.) Meine Aufgabe soll nun darin bestehen, an der Hand
eigener Beobachtungen eine Darstellung der Entstehung der
ersten Wortbedeutungen zu geben, um zugleich auf diesem
Wege ein Urteil über die Richtigkeit der mitgeteilten Auf-
fassungen zu gewinnen.
Zur einwandfreien Lösung dieser Aufgabe halte ich die
unmittelbare Beobachtung für unbedingt notwendig ; denn nur
dann ist es möglich, aus der jedesmaligen Wortverwendung
und den sie eventuell begleitenden Gebärden, vielfach auch
aus dem Klang der Stimme den Inhalt der ersten sprachlichen
Äußerungen des Kindes zu erschließen und so eine möglichst
objektive Verifikation ihrer Deutung zu erlangen. Wo die
Bedeutung der ersten Worte nicht unzweifelhaft aus der Wort-
verwendung und den angegebenen Begleiterscheinungen erkenn-
bar ist, werde ich mich bei der Interpretation derselben einer von
Meumaim zuerst angewandten Methode bedienen, die in der
Durchführung folgender drei Grimdsätze besteht:
1. „Wo nicht besondere Gründe entgegenstehen, haben wir
ims die Wortbedeutungen und die psychophysischen Prozesse,
die bei ihrer Gewinnung und Verwendung in Aktion treten,
so einfach wie möglich zu denken.
2. Wo die Wortbedeutungen des Kindes nicht vollkommen
eindeutig sind, muß die allgemeine körperlich-geistige Ent-
Wickelung (Entwickeltheit) des Kindes die maßgebenden Ge-
sichtspunkte für die Interpretation abgeben.
3. Wenn irgend möglich, muß die Deutung der kindlichen
Worte, ihrer Gewinnung und Verwendung aus späteren Ent-
wickelungsstadien geschehen, die der Beobachtung besser vy
gäxiglich sind. Insbesondere müssen wir jedesmal, wenn ein
bedeutungsbildender Prozeß als später eintretend oder in spä-
teren Jahren noch nicht vorhanden erwiesen werden kann, diesen
von den früheren Entwickelungsstadien absolut ausschließen.**"
Nunmehr lasse ich die unser Problem betreffenden Beob-
achtungen folgen. Ich habe dieselben an verschiedenen Kindern
mehrere Monate hindurch aufgezeichnet, bezw. aufieicfaliiea
J/amßiJ^roifkme ätr kindUchen SprachtHiwuMung,
259
Daß das gesammelte Material vielleicht manches Minder
£e enthält, das nicht geeignet ist, zur Klärung unserer
nach der Entstehung der ersten Wortbedeutungen bei-
wird jedermann begreiflich finden, der sich einmal
befaßt hat, kleine Kinder zu beobachten.
Die ersten sprachlichen ÄuBerungen, die mein Sohn Kurt
f dem Zeitpunkte, an welchem die vorliegende Arbeit mm
hluß kommen mußte, gebrauchte, waren — chronologisch
ihrem erstmaligen Auftreten geordnet — die folgenden :
I' I. wauwau (wauwa, wauwo, wowo^ wowö»)
51. Tag. Auf dem Büfett in dem „guten Zimmer** steht
feines Hundchen aus Porzellan, ca. fünf Zentimeter lang,
kennt dasselbe schon längere Zeit, betrachtet es allemal
Jrößter Freude und Verwunderung und greift auch stets
eh* Am 13. to. 1902 (also am 251. Lebenstage) gehe ich,
[auf dem Arm tragend, wieder in den genannten VVohu-
l Schon in der Türe richtet er den Blick nach der Stelle,
tt das kleine „Wauwauchen** seinen Platz hat. Er sieht
id spricht sofort freudig erregt und mit ziemlicher Deut-
feit „wauwau'\ ohne daß ich ihm das Wort vorher vor-
E hätte* Gleichzeitig reckt er mit seinem linken Ärmchen
pi. Das Experiment wiederholt sich an demselben, sowie
17*, 314, und 324. Lebenstage jedesmal in derselben Weise.
02. Tag. Kurt betrachtet die Bildchen in dem Katalog
Schellenbergs Kaisermagazin*V, Auf einmal zeigt er mit
äußerst schnellen Handbewegung auf ein kleines Näh-
den imd ruft mehremal voll Freude: „wauwau" („wauwa").
hopst er in seinem Stühlchen auf und ab*
57. Tag. I. Kurt ist mit seiner Mama in der Küche;
rt einen Hund im Hofe bellenj sieht verwundert nach
Küchenfenster und spricht: wau — wa. — 2, Er spricht
iu (wau— wa oder wauwö), als er das BUd der Großeltern
Schaukelpferd und die Wanduhr sieht. Allemal ist auf
H Gesicht Freude und Verwunderung zu lesen,
ji . T a g, Fräulein H. Seh, kommt, um zum Jahreswechsel
Uulieren, Sie trägt einen Pelzboa mit Hundekopf. Kurt
luf denselben und sagt „wau— we*' {Wahrscheinlich rufen
lünkeln Glasaugen und die großen weißen Zähne sein
M her\^r.) An demselben Tage besucht mich eine frühere
2*
260 Heinrich Idelberger,
Schülerin, Fräulein L. O., aus dem gleichen Anlaß. Ihr Pelzboa
ohne Himdekopf entlockt ihm dieselbe Lautverbindung.
334. Tag. Onkel H. hat ihm einen Giunmimaim geschenkt,
welcher infolge einer Vorrichtung allemal einen pfeifenden
Ton hervorbringt, sobald man ihn zusammendrückt. Kurt reicht
mir ihn (Gummimann) hin und spricht „wauwe". (Offenbar
wünscht er, daß derselbe wieder pfeifen soll.)
337. Tag. Kurt zeigt verwundert auf Mamas goldene
Brosche und die Knöpfe am Jackett und ruft „wauwe".
341. Tag. Kurt zeigt mit schnellen Armbewegungen nach
verschiedenen Stellen meiner gekräuselten Binde und stößt die
fragliche Lautverbindung aus.
396. Tag. Kurt sieht die schwarzen Knöpfchen in meinem
Vorhemd und spricht mit dem Ausdruck des höchsten Staunens
„wauwe" und „wowo**.
397. Tag. I. Wenn er einen Hund auf der Straße sieht,
so ruft er voll Freude „wauwau". — 2. Kurt ist in der Schlaf-
stube, reckt sein Ärmchen nach dem Fenster derselben nad
spricht in bittendem Tone abwechselnd „wowo" und „ß — ß— ß**-
(Er will an das Fenster gehoben werden und Himd und Ka»*
sehen, die gewöhnlich im Hofe sind.)
428. Tag. Sobald er Knöpfe oder Himde sieht, sprict*^
er auch heute noch mit erstaimtem und freudigem Gesielt*''
wauwau, wowo, wowö oder wauwö.
433. Tag. I. Kurt hält mir ein Badethermometer hinucr^°
spricht „wowo". 2. Sieht Perlen am Kleid und spricht „wauwc^^-
(Siehe auch 11. dudu 429. Tag.)
443. Tag. Kurt spricht oftmals wiederholt wauwa, als ^^
sein kleines Tuchhundchen haben will.
2. a-a (im Rachen erzeugt, kurz hervorgestoßen.)
258. Tag. Ich mußte, da ich etwas unpäßlich war, d-^^
Bett hüten. Meine Frau kommt mit Kurt in die Schlafstut^-
Letzterer gewahrt meinen Kopf mit dem dimkeln Haar, ^^^
unbedeckt ist, \md stößt den angegebenen Laut redupliziereJCi^
aus. (Offenbar Ausdruck seines Erstaunens.)
260. Tag. Sobald er seit diesem Tage etwas auf der Stra-^J
sah, was ihn lebhaft interessierte (Wagen, Pferde, Hunde, Vög^^
rief er allemal a — a — a.
370. Tag. Kurt gebraucht ihn, als er eine Droschke ^S^
Hauptprobleme der kindlichen Sprachentwicklung, 261
:r Landstraße sieht. Wie elektrisiert schnellt sein Zeigefinger
der Richtung des Gefährtes. Er sieht abwechselnd nach
esem und mir. Nunmehr dient der reduplizierte Laut der
itteilung. Kurt will mich auf den Gegenstand seines In-
resses aufmerksam machen.
372. Tag. Kurt hat in die Stube uriniert. Er weist auf
e Spuren seines Deliktums durch „a — a" hin. Desgleichen
s seine Mama Milch verschüttet hat.
373. Tag. Kurt spricht „a — a", sobald er den Drang zum
rinieren fühlt. (Er ist nämlich verschiedentlich ausgezankt
>rden, sobald er ins Zimmer uriniert hat.) Er macht durch
ese Lautreduplikation also nuranehr seine Umgebung auf
in Bedürfnis aufmerksam. Die Accentuierung ist folgende:
a,a-a etc.
375. T a g. Es sind einige Tröpfchen Milch auf dem Brust-
«tt seines Stühlchens verschüttet worden. Er zeigt darauf
id sagt: a-a.
376. Tag. I . Kurt macht durch die genannte sprachliche
ußerung auf ein auf dem Boden liegendes Emailletöpfchen
ifinerksam. 2. K. hat Apfelteilchen ausgespuckt und sich
tbei die Hände beschmutzt. Er hält die letzteren seiner Mama
ö, spricht J-a und beruhigt sich nicht eher, bis ihm dieselbe
ine Hände wieder vollständig gesäubert hat. 3. Als er Brot-
ämchen in seinem Bettchen sieht, weist er durch a-~
rauf hin.
390. Tag. Durch a-a verbunden mit der hinzeigenden
sbärde, macht er auf die unter dem Bette stehenden Pan-
fein Papas aufmerksam, ebenso auf das im Nachtschränkchen
hende Nachttöpfchen.
412. T a g. Kürt hat aus einem Buche einige Blätter gerissen,
steigt darauf und spricht a-a-a,
423. Tag. I . Kurt sträubt sich, als er mittags zum Schlafen
^gelegt wird. Plötzlich spricht er 5'-a. Er weiß, daß er,
bald er sich in dieser Weise vernehmbar macht, aufgehoben
«i abgehalten wird, benutzt also diese Erfahrung, um aus seiner
nach seiner Meinung — unangenehmen Lage herauszukommen.
Wenn man seit einigen Tagen früh morgens an sein Bettchen
^OMiit, zeigt er, diesen Laut hervorstoßend, unter die Decke.
439. Tag. I. Auf einen auf dem Sofa liegenden Regen-
■^tn macht er durch g: * g" aufmerksam; 1. desgleichen auf ein
252 Heinrich Idelberger.
Tröpfchen Speichel, welches aus seinem Munde auf meinen
Rock gefallen ist, als ich ihn auf dem Arm trage.
3. ch (Reibelaut, nach ß übergehend; ähnlich dem eng-
lischen th.)
259. Tag. Meine Frau tippt mit dem Finger an den
geheizten Ofen und spricht „heißT* „heißl" Darüber lacht
Kurt laut auf und ruft (wahrscheinlich nachahmend) ch—ch— eh.
289. Tag. I. Sobald er ein Licht sieht, fängt er vor Freude
an zu hoppsen imd stößt immerzu den Laut ch aus.
290. Tag. Kurt versucht mit seinem Zeigefhiger die Fliegen
von den Wänden aufzuscheuchen. Das Auffliegen derselben
(Fliegen) erfreut ihn sehr und veranlaßt das genannte ch.
322. Tag. Der Christbaum wird geschmückt. Der An*
blick der glänzenden Kugeln erweckt in ihm eine unbändige
Freude. Fortwährend zeigt er nach denselben hin und ruft
ch — .ch — ch. Dieselben Szenen wiederholen sich am Abend
des nächsten Tages beim Anblick des angezündeten Baum^-
360. Tag. Der Laut ch als Ausdruck der Freude wird
nicht mehr gehört.
4. ä (nasal, wie franz. in) und o (kurz gesprochen.)
267. Tag. Wenn Kurt irgend einen Gegenstand haben
will, so zeigt er nach demselben hin und spricht ä (nasal,
langgezogen), und zwar solange, bis man seinen Wunsch c^*
füllt hat.
273. Tag. Der Ausdruck seines Begehrens ist ä (k^^^
gesprochen und redupliziert), mit einer Schattierung nach «
hin, begleitet von Greifbewegungen.
313. Tag. Sobald Kurt aus der Stube oder ans Fenster ^üi,
so reicht er nach der Türe oder dem Fenster und ruft lebb^it
ö - 5, ö - ö. (Der Ton liegt auf dem zweiten o.)
314. Tag. In der Abenddämmerung sitzt meine Fr^**
mit Kurt auf dem Sofa der Wohnstube. Dieser reckt fortwäbre^^
nach der Gaslampe, indem er sein bekanntes o-5 ertön^^
läßt. Da ich den Wimschcharakter dieser Reduplikation kannt^'
dachte ich, er wünsche die Lampe angezündet zu sehen (i^
Dunkeln zeigte er stets etwas Furcht, auch in diesem Alt^''
schon). Als ich seinem vermeintlichen Wimsche nachkomin^
lacht er laut auf. Ich drehe darauf die Gasflamme noch einige
liaupi^rohUtfu lUr kindiicken Spra^kentim^inng.
2Ö3
aus und zünde sie wieder an. Jedesmal reckt er im Dunkeln
f\ d€r Lampe und wiederholt sein o - o.
5. dada und deide.
320. Tag, Kurt zerzaust seiner Mama das Haar. Dies
nacht ihmi wie es scheint, großes Vergnügen, Seine Beschäfti
fung begleitet er mit den angegebenen Lautverbindungen, in
ichmeichelndem Tone gesprochen,
331. Tag. Mit großem Vergnügen zupft er mich an Kopf-
md Bart haar und spricht dazu sein j.dada" und ,,deide'\
337, Tag. Kurt faßt den Hals der Mama, legt sein Köpfchen
in ihren Backen und spricht mit scheinbarem inneren Wohl-
behagen „dada** und ,,deide*\
430. Tag. Diese Ausdrücke werden auch heute noch fast
i^gehnäßig gehört, sobald K. seine Mama oder mich „frisiert***
H 6. baba.
331- Tag, Jedes Weinen begleitet Kurt durch vielmalige
tV^iederholung der Silbe ,jba'*,
396* Tag, Ich komme gegen 7 Uhr abends vom Spazier-
ajig zurück nach Hause und setze mich an den Tisch, um
e Zeitung zu lesen. Kurt stellt sich vor mich hin, weist mit
ixien Fingerchen auf mich hin und spricht j^baba**, (Schon
^^e beantwortete er die Frage: Wo ist der Papa? damit,
^ß er auf mich hinzeigte.) Als ich, erfreut über seine An-
^^, ihn dieserhalb lobe — was ihm, nebenbei gesagt^ außer-
cicntlich gefällt ; auf Lob ist er immer sehr erpicht gewesen ~,
I- scheint er sich selbst seiner Leistung erst voll bewußt %yx
^r-den imd ruft nun immerzu ,,baba**, indem er mich freude-
»"^hlend ansieht und meine Knie umfaßt,
397. Tag, Meine Frau, Kurt und ich fahren in der
■^ktrischen Straßenbahn, PlatEmangels halber muß ich mich
^* 3 m entfernt von den beiden niederlassen; der Wagen ist
^Ü besetzt. Kurt läßt sämtliche Wageninsassen Revue passieren.
'Js er mich in meiner Ecke entdeckt, ruft er mit dem Ausdruck
reüdiger Verwunderung und so laut, daß man es trotz des
^^gengeräusches durch den gan2en Wagen hört „baba''
^arna, ei, sieh doch, da ist ja der j.baba** I),
403, Tag. Kurt ruft auch reduplizierend ,*ba'\ als er der
^^to. ansichtig wird, {Hierzu ist nun zu bemerken, daß er
264 Heinrich Idelbcrger,
sehr wohl meine Frau und mich unterscheiden konnte. Fragte
man ihn: Wo ist der Papa? so zeigte er auf mich, und bei
der Frage: Wo ist die Mama? nach meiner Frau. Daß die
RedupHkation „baba" auch durch den Anblick der Mutter aus-
gelöst wurde, hat lediglich seinen Grund darin, daß er die
Reduplikation „mama", so oft man sie ihm auch vorsprechen
mochte, zu dieser Zeit noch nicht nachahmen konnte.)
406. Tag. I. Kurt hört, daß die Vorplatztüre aufgeschlossen
wird und spricht „baba". (Er hat schon gar oft erfahren, daß
nach dem Aufschließen der Papa eintritt.)
2. Ich beschäftige mich mit meinem Kinde in der Wohn-
stube; auf einmal wird die Vorplatztüre von einem Jungen
geöffnet, der meiner Frau etwas in der Stadt besorgt hat.
Kurt hört das Aufschließen und spricht sofort wieder „baba".
(Da seine Mama nicht im Zimmer ist, glaubt er wohl, diese
käme; und da er „mama** noch nicht sprechen kann, so erklärt
sich auf diese Weise die sprachliche Äußerung.)
408. Tag. Meine Frau hat sich hinter die Küchentüre
versteckt. (Er spielt nämlich gern Verstecken.) Kurt sucht sie.
Als er sie endlich findet, ruft er freudestrahlend immerzu sein
„baba", trotzdem er mich eben erst in der Wohnstube ver-
lassen hat.
409. Tag. I . Er begrüßt mich mit dieser Anrede, indeno
er auf mich deutet, als er am Morgen früh aufwacht und mich
im Schlafzimmer gewahrt.
2. Ich gebe Kurt eine mir zugegangene Schneiderofferte,
auf welcher Männer in den verschiedensten Garderoben al>
gebildet sind. Er deutet auf die einzelnen Gestalten und neiH^^
sie alle „baba".
410. Tag. Kurt hat auf die Aufforderung hin: Ruf 4^"
Papa! stets sein ,,baba** hören lassen. Nun sage ich ihrti*
Ruf dem „Bibi'M (Das Lallwort „bibi" konnte er nachahmet^)
Als ich kaxmi das Wörtchen „Ruf" ausgesprochen habe, ertc>^^
auch schon das „baba". (Mechanische Auslösung durch as^^'
ziative Suggestion; wurde jedoch nur einige Tage bemerk^'
411. Tag. Ich spiele auf dem Pianino. Kurt, der Mu^*
sehr gern hört und selbst gern „spielt", kommt zu mir, häng^
sich auf meine Knie und bittet in einem fort „baba", „bal>^ •
Erst als ich ihn auf den Schoß nehme, so daß er auf 4^^
Instrument henimhämmem kann, ist er ruhig.
Hauptprobleme der kindlidi^H Spreichentwidüung. 265
412. Tag. I. Kurt steht auf dem Balkon neben seinem
hieben. Er möchte ein Streichhölzchen unter dem letzteren
vorholen (und weiterhin dann, wie auch sonst, wahrschein-
i hinxmter in den Hof werfen). Er kann dasselbe aber nicht
issen, fängt an zu schreien und ruft immerzu „baba". (Papa
*s ihm holen.)
2. Er spricht „baba", als er beim Kaffeetrinken Brot haben
, desgleichen, als er die Tischschublade geöffnet haben
hte.
3. Als ich ihm am Abend, nachdem ihn seine Mama zu
: gebracht hat, „gute Nacht" sage und das Schlafzimmer
asse, sagt er: „baba, adda" (Papa geht forti).
414. Tag. Indem er beim Mittagessen aui meinen Teller
t, spricht er die genannte Reduplikation. Er nimmt keine
ise mehr von seiner Mama, bis sie aus meinem Teller ge-
ipft hat. Sein „baba** bedeutete also lediglich den Wunsch :
will von Papas Teller essen I Dieser Vorgang wiederholt
in der Folgezeit noch gar häufig.
422. Tag. Meine Frau, welche Kurt auf dem Arm hält,
t diesen, auf mich zeigend: Wer ist das? Kurts Ant-
t: baba.
430. Tag. Ich verabschiede mich von Kurt, um auszu-
en. Als ich die Vorplatztüre zuklappe, sagt er: da, baba
Papa hat die Türe zugemacht, „da** [kurz] sprach er näm-
allemal, wenn eine Türe geschlossen wurde).
434. Tag. I. Als er morgens wach wird, hört er Papas
te im Nebenzimmer. Sofort spricht er, zu seiner Mama
eödet, „baba** (das ist der Papa).
2. Kurt will auf das Sofa gehoben werden und spricht
ba, obba".
448. Tag. Kurt sieht Papas Hosen am Haken hängen, zeigt
auf und spricht „baba**.
450. Tag. „Baba** wird als Ausdruck eines jeden Wunsches
raucht, dessen Erfüllung er von seinem Papa erwartet.
7. ada.
390. Tag. I . Kurt spricht mehreremal „ada**, als ihn seine
k^r zum Ausfahren angezogen hat; desgleichen, als ich,
Itrf dem Arm, die Vorplatztüre bei der Rückkehr aufsehUefie.
394. Tag. Er zeigt nach der Türe und ^gt „adÄ** (Wunsch,
266 Heinrich Idelherger.
fortzugehen); ebenso, als ich, den Überzieher angezogen, <ias
Zimmer verlasse.
397. Tag. Ich ziehe Weste und Rock an; Kurt sieht dies
xmd spricht „ada**.
403. Tag. Wenn man ihn fragt: Wo warst du hin? oder:
Wo gehen wir denn hin? antwortet er mit seinem ,,ada".
412. Tag. Als ich am Abend nach Hause komme, sitzt
Kurt in seinem Stühlchen am Tisch in der Wohnstube. Er sielit
mich und spricht: „baba ada". (Sollte wohl heißen: Paj>^
war fort. Man vergleiche hierzu auch 6. baba, 412. Tag. 13-^
421. Ta g. Als ich fortgehe und die Türe zuklappe, sprici^"*
er: „ada, baba".
431. Tag. Kurt ist in der letzten Zeit angehalten worde:-^^^^-^'
allen Besuchern beim Weggehen ein Händchen zu geben. Da^^^^^
aufgefordert, tut er dies auch heute, als sich Frau N. v(
abschiedet, und sagt zugleich „ada".
446. Tag. I . Als ich ausgehe, kommt mir Kurt bis an (
Vorplatztüre nach und ruft in bittendem Ton mehreremal „adj
2. Eine Freundin meiner Frau ist mit ihrem kleinen Jung
bei uns zu Besuch. Nachdem dieselbe weggegangen und Ki
gefragt wird: Wohin ist das Kindchen? antwortet er: „a
le
8. obba.
391. Tag. I. Kurt sitzt auf dem Boden; er reckt c3
Ärmcheu nach mir (möchte aufgehoben werden) und spri( — n^ Tit
in einem fort „obba", bis ich seine Bitte erfülle.
2. Er hebt den Schürhaken — nebenbei gesagt, eines seil ^ gr
liebsten Spieldinge — vom Boden auf und sagt ebenso.
396. Tag. K. will vom Arm der Mutter auf den BoA^^^n,
um zu laufen; er gibt diesen Wunsch durch die angegeb^^=nc
sprachliche Äußerung und gleichzeitiges Recken nut den Tk^m — ui*
chen kund.
397. Tag. „obba" spricht er, wenn er aus seinem Stm— 5ihl-
chen will.
404. Tag. Kurt spricht allemal „obba", sobald er ^^^^^
niederhockelt (Kniebeuge).
406. Tag. Wenn er einen Gegenstand (Löffel, ^^ ^^"^^^
Schürhaken etc.) auf den Boden wirft, so begleitet er cü^se
Tätigkeit durch „obba". Ebenso läßt er dasselbe hören, so^t^*^^
er einen solchen zum Hinwerfen bereit hält. Z. B.: Er '^^
i
l^cmptpj^Mems der kth^icken Sprackentt^kinni^,
267
eioen Löffel auf den Boden werfen. Ich habe ihm dies des
äf t>eren untersagt. Er sieht mich mit fragendem Blick an und
410. Tag. Kurt sitzt im Stiihlchen. Sein Schürhaken ist
luf den Boden gefallen. Er sieht mich an undj auf das Eisen
i^igend, spricht er in einem fort: „obba**, bis ich dasselbe
iu fliehe und ihm gebe.
423, Tag. Er hat verschiedene kleine Gegenstände vom
^^.llcon in den Hof hinabgeworfen. Indem er mich ansieht
iricl mit seinem Finger in den Hof zeigt, spricht er: „obba".
I^h soll sie heraufholen,)
424* Tag. I* Kurt hat Brot aus dem Küchenschrank ent-
loroTOen und wirft es auf den Boden, Ich hebe es auf und lege
es wieder an seinen Platz. Mein Junge reicht nach dem Schrank
BTKi spricht: „obba".
2* Kurt will aus dem Bettchen aufgehoben werden und spricht
abivechselnd a — a und „obba**, (VergL hierzu 2. a — a, 423. Tag!)
3, Er sitzt in seinem Stühlchen am Tisch und wirft einen
Apfel auf denselben. Nun möchte er denselben wieder haben
i^^«i sagt: ,,obba'^
4, Dasselbe wiederholt sich, als er ein entfernt von ihm
liegendes Streichhölzchen nehmen möchte.
425. Tag. I. Kurt sitzt in seinem Stühlchen am Kaffee^
tisch. Er zeigt nach der offenstehenden Türe und ruft im
bittenden Tone: „obba*\
2. Er ist in der ,,guten Stube'* und will hinausschreiten,
lieht die Zinmiertüre auf und begleitet diese Tätigkeit mit
( 3. Seine Mama öffnet die Balkoniüre und Kurt laßt dasselbe
Wt hören.
427* Tag: K Kurt spricht es, als er eine auf dem Stuhl
^^^gende Streichholzschachtel ergreift. Desgleichen sagt er
>iOhija**, als er die Kartoffelschalen, die er vorher auf den Boden
S^w-orfen, wieder aufhebt und in einen nebenstehenden Korb
legt.
^^H 429, Tag. Kurt hat seit einigen Tagen gelernt, sich ohne
^'^'^mde Hilfe aus dem Sitzen zu erheben. Dies macht ihm solche
^ude, daß er sich in einem fort hinset^st und wieder aufsteht,
*^%s Hinsetzen sowohl, als auch das Aufstehen begleitet er stets
^it „obba"\
268 Htinrich IcUlherger.
9. hich-hich.
394. Tag. Sobald Kurt sein Schaukelpferd bewegt, aruit
er voll Freude hich— hieb. (Wird nur einige Tage geh&art.)
IG. B-B.
397. Tag. Kurt ist in der Schlafstube, reckt seine ä^a jlü-
chen nach dem Fenster derselben und spricht in bittendem
Tone abwechsehid „wowo" und „ß— ß— ß". (Er will suis
Fenster gehoben werden und Hund oder Katze sehen, c3üe
gewöhnlich im Hofe sind. Seit einigen Tagen ruft er nämlich
allemal, sobald er die letztere im Hofe sieht, voll Freude: ß ü;
— Nachahmung des Lockrufes der Katze — ).
II. du-du.
397. Tag. Ich habe seit längerer Zeit, wenn Kurt s^in
Schaukelpferd bewegte, stets: Raragäulchen, ju — ju! ge-
sprochen. Heute spricht er nun bei dieser Betätigung, d^
„ju — ju" nachahmend, „du — du"; dabei jauchzt er gerad^^u
vor Freude; je ärger das Pferdchen schaukelt, desto vc%&^
freut er sich.
405. Tag. Kurt sprach die Reduplikation als er auf seii^^^
Spazierfahrt laufende Pferde sah. Auf seinem Gesicht ist gro-^^
Freude zu lesen.
411. Tag. In der „guten Stube" hängt das Bild eÜ»-^
Pferdes (Ölgemälde); beim Anblick desselben wird ebenf3-^^^
das „du — du" ausgelöst.
417. Tag. I. Sobald er das Rollen, eines Wagens h<>^'
sieht und zeigt er unaufhörlich nach dem Fenster und spriol^^;
„du — du", desgleichen beim Sausen des Windes (glaubt es ^^^
ein Wagen). Hebt man ihn nicht hoch, damit er das Geit^^^^^^
sehen kann, so fängt er an zu weinen.
2. Kurt gewahrt im Spiegelschrank der „guten Stube" ^^^^
Spiegelbild des Ölgemäldes vom Pferde und sagt: „dudu**-
418. Tag. Meine Frau hat Kurt auf dem Arm und näl^^
sich dem Fenster des Wohnzimmers. Auch ohne daß Wag^^^'
gerassei vernehmbar ist, ruft er „du — du". (Freut sich sch^^^
in dem Gedanken, daß er jetzt „du — du" sehen werde.)
419. Tag. Wir sitzen am Kaffeetisch. Auf einmal set^
Kurt ein außerordentlich wichtiges Gesicht auf und ruft ga^^
unvermittelt mehreremal „du — du" xmd „wauwau" (wowa).
HauptprohUnte der kindlichen Sprachentwicklung. 269
420. Tag. Dasselbe Schauspiel wiederholt sich heute früh
als ich ihm beim Aufwachen begrüßen will, nur mit dem Unter-
schied, daß jetzt auch die „ß — ß** (Katze) noch in der Gesell-
sctkaft seiner Lieblingstiere „du — du" und „wauwau** erscheint.
IVIit: dem Ausdruck der größten Freude wiederholt er diese
W<3rte mehreremal in der verschiedensten Aufeinanderfolge.
429. Tag. Kurt besitzt neben einem großen Schaukelpferd
riocz:h zwei, kleine Holzpf erdchen. Als er nun heute in seinem
Stüllchen sitzt und seine Spielsachen vor sich hat, nimmt er
dsLS» eine dieser Holzpferdchen in die linke Hand, reicht es
mir- hin und spricht dazu immerfort mit dem Ausdruck der
größten Wichtigkeit „du — du". Darauf nimmt er das andere
in <3ie rechte Hand und tut wie zuvor. Um sein Unterscheidungs-
veinnögen zu prüfen, nehme ich sein kleines Tuchhundchen,
>v^lches in der Größe dem kleineren Holzpferdchen gleich-
^oxumt, und halte es ihm vor; sofort sagt er „wowa" (wau — wau).
431. Tag. Kurt sitzt in seinem Stühlchen am Mittagstisch
^rid neben ihm meine Frau imd ich. Plötzlich gerät er in
freudige Erregung und ruft „dudu", „bibi", „wauwau", „ß— ß**
"^ bunten Wechsel durcheinander. In seiner Erregung über-
^stet er sich oft, so daß Wortbildungen, wie „bi— dudu",
»w-a-u — dudu", „du — wauwau", „wau — bibi" etc. erzeugt werden.
v^ine Lieblingstiere „gehen ihm sehr im Kopfe herum", sie
?^h^n mit ihm zu Bett und stehen mit ihm auf 1)
436. Tag. Er hört Pferdegetrappel auf der Straßb und
^^^t „dudu".
12. bibi.
406. Tag. Kurt spricht „bibi". Trotzdem er die „bibi"
^f- ^-Viben und Hühner, die er tagtäglich im nebenanliegenden
^^^ff-e eines Bäckers sieht) schon lange kennt und die Frage:
^2!/^ sind die bibi? prompt mit der Blickrichtung und durch
^^>.2eigen beantwortet, ist es doch zweifelhaft, ob er mit der
^%r"^gebenen gesprochenen Reduplikation einen geistigen Inhalt
^^^^Dindet. Er ahmt dieselbe in der Wohnstube auf Vorsagen
^^^ nach. Wahrscheinlich haben wir es noch mit einem inhalt-
^^cn Lallwort zu tun.
421. Tag. H^ute spricht Kurt spontan das Wort „bibi",
^ « Tauben im angrenzenden Hofe auffliegen sieht. (Vergl.
^ - dudu, 431. Tagl)
270 Hein f ich Idelberger.
13. da.
406. Tag. Sobald eine Türe, besonders die des Vor-
platzes, zuklappt, spricht er „da".
426. Tag. Kurt will einen Schlüssel aus der obersten Schut>-
lade einer Kommode, die auf dem Vorplatz steht, ziehen. DaihtX^
dies nicht gelingt, kommt er zu mir in die Küche, sieht mic^^
an imd spricht, auf die Kommode zeigend, in weinerlichem Toi»^ '•
ö — ö. Ich nehme daraufhin den Schlüssel mit der rechte:^
Hand aus der Schublade; Kurt greift sofort danach. Statt ihr^Äi
denselben zu geben, lege ich ihn, beide Hände auf dem Rücke "»1
haltend, aus der rechten in die linke Hand und halte ihir:aci
nun die leere Rechte hin. Kurt sieht dieselbe erstaunt an m^ '<1
spricht ;,da**.
430. Tag. Er sagt „da, baba", als ich beim Fortgehen
die Türe zumache. (Vergl. hierzu 6. baba, 430. Tag.)
14. mama.
418. Tag. Heute gelingt ihm öfters die Nachahmimg A-es
Wortes „Mama**.
419. T a g. Er übt fortgesetzt das „mama**. Seine Leistung:
scheint ihm große Freude zu bereiten.
423. Tag. Er gewahrt meine Frau in der Küche und rtx£t
mit freudiger Miene „mama**. Von jetzt ab konmit es wiederholt
vor, daß der Anblick der Mama das genannte Wort auslöst.
Er spricht dasselbe stets sehr langsam. Die Produktion scheixit
ihm noch schwer zu fallen. „Baba** wendet er nicht mehr a-'t-if
meine Frau an. (Vergl. hierzu die Bemerkung bei 6. bal>^>
403. Tagl)
438. Tag. Fräulein B. im Hause vis-a-vis steht im Fenster
imd spricht mit mir. Ich sage zu Kurt, den ich auf dem A.:^"t^
halte, indem ich hinüberzeige : Ruf I Sofort spricht K. „mam^"-
449. Tag. „Mama** ist Ausdruck eines jeden WunsclB^^s,
dessen Erfüllung er von der Mama erwartet.
15. mimi.
422. Tag. Spricht „mimi**. (Wahrscheinlich noch l^^I-
wort.)
431. Tag. Seine Mama hält ihm eine Tasse Milch "^^^^
ohne ein Wort zu sprechen. Kurt spricht, indem er nach ^^^
Tasse reicht, verschiedenemal in dringendem Tone „miocii".
i
Hauptprobleme der kindlichen Sprachentwicklung, 271
i6. bitte (beite-beute).
.. Tag. Kurt ahmt das ihm vorgesprochene „bitte, bitte"
tte, beite und beute" nach (Lallwort).
. Tag. Er wirft seinen Gummiball mehreremal auf
den und begleitet jedes Hinwerfen mit „bitte" oder
. Dabei freut er sich ungemein.
. Tag. Holzblättchen, Schürhakto und Ball wirft er
:r Wucht auf den Boden und spricht jedesmal, indem
„Mund recht voll packt", „bitte" oder „beute".
17. na- na (übergehend nach nein-nein).
.Tag. Kurt schüttelt, als er essen soll, verneinend
jfchen und spricht „nana". (Nachahmxmg von „nein —
vomit jedes Verbot der Eltern seit langer Zeit seinen
iß findet.)
.Tag. Ich frage ihn: WUlst du „lulu" (Schläfchen)
. Kurt schüttelt das Köpfchen und sagt „nana".
.Tag. I. Als ich meinen Morgenkaffee trinke, reicht
ich meinem Brot und spricht „nana".
Curt fährt das Rädergäulchen durchs Wohnzimmer. Als
1 ein Hindernis in den Weg stellt, spricht er unwillig
«<
.Tag. Kurt bleibt mit dem Schürhaken an einem Gegen-
Lngen und spricht na — na (Ausdruck des Mißbehagens).
18. beu-dododo.
. Tag. Heute verspricht er beim Hinwerfen seines
erschiedenemal : beu — dododo. (Entstanden aus „beute"
: 16 — und dudu — Wort ii.)
19. didi.
Tag. Kurt spricht dasselbe allemal, wenn er sich freut,
nicht weniger als 438 Mal gebraucht.)*)
\nschluß an die MitteUung der sprachlichen Äußenmgen
eigenen Kindes gebe ich auch die an anderen* in den
Jprachanfängen stehenden Kindern gemachten Beob-
en wieder, soweit sie geeignet erscheinen, ein helleres
)ie Fortsetzung dieser Aufzeichnungen siehe in dem „Nachtrag'',
272 Heinrich Idelberger,
Licht auf die bei der Bildung der ersten Wortbedeutungen s^tsitt-
findenden psychischen Prozesse 201 werfen.
L Qertrude Stahl.
15. Lebensmonat. Das Wort ^^mania*' wird von ihr
allemal gebraucht, sobald sie etwas Eßbares sieht und dass4Bll)e
haben möchte. Demselben Wunsch dient auch die Rcdi-»pli-
kation „nam — nam".
16. Monat, „popo" (Nachahmung des Wortes „ICar-
toffeln") spricht sie in oftmaliger Wiederholung, wenn sie vx)n
den auf dem Tisch stehenden Kartoffeln haben will. (VerS^-
hierzu meine hierauf bezüglichen Ausführungen bei der Be-
handlung des Problems der Worterfindung.) Jei (Brei) ^wrird
hervorgebracht, wenn die Mama den Brei bringt. Hi — hi i^^
Ausdruck der Freude.
„di — di** spricht sie, wenn sie irgend einen Gegenstand
haben möchte.
Durch „mimi** gibt sie den Wimsch nach Milch zu erkenn^^-
Durch „hu** drückt sie ihr Verlangen nach Suppe aus.
Sonne und Mond nennt sie „mmo**. „Opa** sagt sie, sob^^
sie auf das Sofa oder auf einen Stuhl gesetzt werden vriJ^-
Gegen Ende des 16. Monats wird „hm** (dringend &^'
sprochen) als Ausdruck eines Begehrens gebraucht.
„mü — mü** spricht sie voll Freude, wenn sie einer Fli^^^
ansichtig wird („mü — mü** Nachahmung von Mücke).
Die Worte „bubo**, „bi**, „ab**, verbunden mit Gr^^'
bewegungen, werden gesprochen, sobald sie ein Butterb^"^'
eine Birne, oder Äpfel haben möchte.
17. Monat. Mit „mimi** bezeichnet sie jetzt alles Eßb^--^ "
(Milch verlangt sie jetzt durch „mich**.) Gleichzeitig dient:
als Ausdruck bezw. Mitteilung des Begehrens.
„Mama** gebraucht G. St. jetzt bei allen möglic
Wünschen. (Mama soll ihr die betr. Gegenstände ihres
gehrens geben.)
Herrn E. empfängt sie mit dem Wort „baba**. (T:^^
einen Schnurrbart und Spitzbart, wie Herr Stahl.) ,
Indem sie die Hände zum Abputzen hinhält, spricht sie „a-^^^^
(Wunsch.)
18. Monat, „hei** wird als Ausdruck der Freude
braucht.
Hauptprobleme der kindlichen Sprachentwicklung. 273
G. spricht „a — a**, sobald sie auf das Töpfchen will. Sie
erzeugt dieselbe sprachliche Äußerung, sobald sie das Töpfchen
sieht und kein Bedürfnis verspürt.
Ihi- zwei Monate altes kleines Schwesterchen nennt sie
„bobch**, sobald dasselbe weint, teilt sie dies ihrer Mama mit
den Worten mit: „bobch a** (langgezogen).
Gertr. nimmt die Tasche, geht der Türe zu xmd sagt „ada"
(soll heißen: ich gehe jetzt fort). Wenn ihr kleines Schwester-
chen gebadet werden soll, kündigt sie dies demselben an mit
den Worten: „bobch, jeich ba**, (eine der Mutter nachgeahmte
Redensart: Schwesterchen, du wirst gleich gebadet. Daß sie
mit dem Wörtchen „jeich" eine Zeitvorstellung verbindet, ist
un^rahrscheinlich.)
Sobald ihre Mama die kleine Marie, ihr Schwesterchen,
aus dem Bettchen aufhebt, sagt sie „auf*.
„ab" spricht sie, wenn Mama die Kleine von den Windeln
entblößt.
Wenn Frau St. damit beginnt, die entblößte Marie wieder
VI wickeln, reicht sie die Sicherheitsnadeln und sagt „nä"
(d. h.: hier hast du das Nädelchen).
Der Anblick des Häubchens, welches die Mama dem
Schwesterchen beim Ausgehen aufsetzt, entlockt ihr das be-
^nnte „ada".
Ich (der Beobachter) zeige ihr mein Taschenmesser und
fra^e sie: Was ist das? Antwort: „baba" «=» das gehört dem
Sic zeigt auf das Handtuch und spricht „ab", obwohl ihre
"äiide weder schmutzig noch naß sind. (Soll wohl heißen:
^^s dient zimi Abtrocknen.)
Ihr Schuhchen nennt sie „hu", ebenso meine Tuch-
P^ixtoffehi.
Während Mama die Hände abtrocknet, sagt sie „ab" (soll
*^^ißen: Mama trocknet die Hände ab.)
19. Monat. Ei und Eierschalen nennt sie „Gackei". Das-
^^be Wort gebraucht sie, sobald Mama die Suppe anrichtet,
^ welche gewöhnlich ein Ei kommt.
„a — a böbch" heißt : Ich fühle ein Bedürfnis imd will das
Töpfchen haben.
l 20. M o n a t. Sobald sie vom Trottoir heruntergeht, spricht
1 Zeitschrift für pfidagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 3
274 Htinrich ItUlbtrger.
sie : „ab — dei** (absteigen) ; den umgekehrten Vorgang begleitet
sie mit „opa".
„ada häs" = ich will zu den Häschen (Stallhasen) gehen.
Als Mama Gertrude das Waschbecken abnimmt, spricht
diese weinend „wa" = ich will mich waschen.
„u — wa" (zumachen) sagt sie, indem sie die Türe bchHeßt.
Gertr. sieht die Zwiebacksdose und spricht in oftmaliger - —
Wiederholung „wiewat".
IL Rose Bartscher.
15. Lebensmonat. Rose hält der Mutter ein Stüc^^L*^
Brot hin und sagt : „beis" = Mutter soll beißen.
Sie spricht „uch** (Kuchen) reduplizierend, d. h. ich wifc^ 13
Kuchen haben.
„hisch" ist der Ausdruck ihres Verlangens nach Wur^^^.
16. Monat. Rosel sieht das Bild, welches ein Kind da^i-.
stellt. Sie ruft mit größter Freude, indem sie danach greiÄ't: :
„didi, didi". Sieht sie Feuer, so entfernt sie sich xmd rm.-a£t
abwehrend: „heis — heis**.
„dudde auf" bedeutet: Ich will am Fenster gucken, macrlit
es aufl
„beisch" == Bleistift kann je nach der Betonung Wunsch
oder Benennung sein. Will sie ihrer Puppe den Schuh 3x1-
ziehen oder selbst angezogen werden, so spricht sie „az".
„nein" soll heißen: ich stecke die Hand hinein (in das
Töpfchen).
Die Mutter holt den Hut; Rosel weiß sofort, daß diesell^e
ausgehen will. Sie ruft im Ton der Mitteilung: „ada" « sie
geht fort.
„se bopp az" bedeutet: (ich will) die Puppe anziehen.
„wadder" (Wasser) wird heischend sowie mitteilend ^^'
braucht.
„huf* (Hut), „deich" (Fleisch), „dul" (Stuhl) und „gaff"^"
(Uhr) werden ebenso in dieser zweifachen Weise verwenA«^-
17. Monat. „Sie stellt sich vor Papa, reckt die Armcl^^^
und sagt „hopp", d. h.: ich will aufs Sofa gehoben werd^^-
„laula pat" (Lauras Pack) spricht sie, als sie Lauras, des
Dienstmädchens, Kleider sieht.
„bepp zu" dient als Ausdruck ihres Wunsches: Macht SX^
die Knöpfe zul
yy*
Hauptprobleme der kindlichen Sprachentwicklung, 275
,laula batt ada'* » Laura ist fortgegangen.
i8. Monat, „opa gisch aus" bedeutet: Großvater hat
etw^a^s geschickt, packt es aus.
Rose bringt ein Töpfchen, in dem ein Kuchenstückchen
"lieg^, und spricht: „kuche is drin".
Sie sieht einen Wagen vorüberfahren und nrft voll Freude :
„rara.** (Pferd).
Beim Spiel stößt sie sich an einem Schränkchen ; sie kommt
weinend und sagt: „stos — stos".
^,bums mama unna" «= Mama, der Ball liegt unten.
III. Ernst Witebsky.
i8. Lebensmonat. „mama" ist Bezeichnung für
Miatt-er, „papa" für Vater und „ahmama" für Großmutter;
,Alij>apa" nennt er den Großonkel, überhaupt jede ältere Person,
aucl:i eine auf einem Bilde oder einer Münze dargestellte.
Mit „dat" bezeichnet er Soldaten, Briefträger, Schutzleute,
^t>^rliaupt uniformierte Leute.
„ti" ist Benennung für Tee und jede Kanne mit oder ohne
Inhalt.
,,adda" spricht er reduplizierend, sobald er den Wunsch
"^&t, fortzugehen, oder als Antwort auf die Frage, wo er
S^'^esen sei.
,,wauwau** ist Ausdruck der Freude beim Anblick eines
^'^indes oder einer großen Katze.
„happ" ist speziell der Name für einen Hund der Nach-
•^^J-schaft.
„lala", übergehend nach „rara" nennt er sein Pferdchen
^^^ jedes große Pferd.
„appel" ist Bezeichnimg für Apfel, Birne, Apfelsine, über-
^^pt für jede rundliche Frucht.
„laden" ist Benennung für Schokolade, braunes Bröt-
^^^ft etc., überhaupt alles, was eine braune Farbe hat und
^^-^^rtig klein ist, daß es in den Mund eingeführt werden kann ;
T^istens wird es in oftmaliger Wiederholung als Ausdruck
^^*^^i3 Verlangens gebraucht.
19. Monat, „papa licht" » Wimsch, daß Licht gemacht
^^^c. „ah" ist Ausdruck der Verwunderung imd des Staunens.
„da, da" verbunden mit hinweisender Gebärde, spricht er,
276 Heinrich Idelberger.
sobald irgend etwas sein Interesse erregt und er darauf
weisen will.
,^ahnst" (Ernst) wird in folgendem Sinne von ihm
braucht: Ernst will dieses oder jenes haben.
„tisch** nennt er den Tisch imd jede erhöhte Platte, ^mL^^mji
der etwas steht oder stehen soll.
„bah, böh" ist Ausdruck des Widerwillens, verbimden imi lit
abweisender Gebärde.
^„aiß** spricht er allemal, wenn durch Berührung mit eint=^— =m
Gegenstand in ihm ein Gefühl der Unlust erzeugt wird, als^^so,
sobald er etwas als heiß, kalt oder rauh empfindet.
Mit „marsch dadda", sehr energisch gesprochen, weist er
etwas ab.
„lappele" ist Bezeichnung für Wasser, Urin etc., überha«Lj:^pt
für jede klare Flüssigkeit.
„hoppa" benennt er den Ball; es ist auch Ausruf der Frei.^» <le
beim Ballspiel.
IV. Helmut Rauch.
14. Lebensmonat. Die erste sprachliche Äußerung^ '^
dieser Zeit ist „iu** (französisch gesprochen). Dieselbe di^^-^^
als Ausdruck eines jeden Wunsches.
„ada" spricht das Kind, wenn es fortgehen möchte o^^^^
eine andere Person die Wohnung verläßt.
Im 15. und 16. Monat traten keine neuen Worte auf, ^^
das Kind in dieser Zeit schwer krank war.
17. Monat. „ram — ram— ram" (Nachahmung %r^^^
„haben") spricht er, sobald er irgend eine Speise si^^^^'
(Wunsch.) Den Vater faßt er dabei am Arm, danüt er \t%^^
dieselbe reiche.
„mama** spricht das Kind immer, wenn es weint oder *^^^,
übler Laune ist. Das Wort „gau** (Gaul) wird durch den Anbli^^
seines Schaukelpferdes tmd eines sich auf der Straße beweg^^^^
den Pferdes ausgelöst und dient als Ausdruck des Wunsch-^
aufs erstere gesetzt zu werden, imd der Freude.
Durch „papa" gibt er seine Freude über das Koma»:^^
des Papas oder auch den Wunsch, von ihm getragen zu werd^^'
zu erkennen.
18. Monat. Wenn er Kakes oder die Kakesdose siel»^
Haupiprehlim* tUr HnMiek^n S^mthfnhffükhmg.
277
hüpft er vor Freude und spricht „ke— ke", zum Zeichen, daß
er davon haben wüh
Sobald irgendwelche Gegenstände sein Interesse in hohem
Grade erregen, deutet er mit den Worten ,,papa da** darauf hin*
,^bibi" spricht er, sobald er Hühner oder auch andere Vögel
od«jr fliegende Insekten sieht,
,,u** (langgezogen) = Ausdruck des Staunens.
j^heiß'* sagt er, sobald er etwas Glänzendes sieht, z. B,
Metallbetten, Lampe^ Kaffeekanne, Ofen; ursprünglich wurde
di^s durch den glänzenden Ofen und die glänzende
Kaffeekanne hervorgerufen; „heiß" spricht er später ferner
beim Berühren eines heißen Gegenstandes oder auch beim
^Väschen mit kaltem Wasser.
,jau" ist der Ausdruck jeden Unbehagens, (gehört von der
Sch-wester, welche „au" ruft, wenn sie gekämmt wird),
V. Albrecht Herzog*
22. Monat. Pferd und Kuh nennt er j.muh*',
,,gech — gech" ^ ich will die Kegei
Federhalter und Bleistift nennt er beide ,,beibif*\
Er bezeichnet die Tinte der Reihe nach als Wasser, Kaffee,
Mach.
Regenschirm und Stock nennt er beide „dock",
23, Monat, „gauch'* = Rauch und Zigarre.
,,on'* (Uhr) ist die Bezeichnung für Taschenuhr^ Wanduhr
^d Wecker,
Milchkanne und Flasche nennt er beide „michgann*'.
Vf» Johanna Zorbach*
19. Monat. Nach einem kleinen Verwandten, Otto, der
öocli nicht laufen kann, nennt sie alle Kinder, die noch auf dem
^^Tiü getragen werden, „oddo",
2K Monat. ,,näus ich bubf, noß da is*' heißt: ich will
^^^ Stube hinaus, weil Herr Noß da ist,
22. Monat, „des äser man'* = Das ist ein böser Mann.
J^H^nna sieht ein Pferd vor einen Wagen gespannt und glaubt,
^^ Sei eine Kuh. Sie ruft ^^muh da'* (das ist eine Kuh),
23. Monat, „utz dach duch'* -- schmutzig ist das
^^chentnch-
,,han5 hese hott** ^ ganz böser Kurtl
278 Hemrick Idelberger.
,,nein osen nas" »> nein, die Hosen sind nicht naß.
,,haum" ist die Bezeichnung für Bäume und Sträucher.
24. Monat, „jeder olzer heinz" — lieber, goldiger Heinz t
„da deht" (da steht) wird auch gebraucht, wenn sie einen
Gegenstand hängend oder liegend wahrnimmt.
Was lehren uns nun diese Aufzeichnungen
über die Entstehung der ersten Wortbedeu-
tungen?
Das Kind gebraucht seine ersten wenigen Worte beim
Anblick der allerverschiedenartigsten Dinge.
So spricht mein Sohn Kurt z. B. das Wort „wauwau", wenn er
das kleine Porzellanhündchen, das Bild ^es Nähtischchens,
Bild der Großeltern, sein Schaukelpferd, die Wanduhr, dei
Pelzboa, Mamas goldene Brosche, die Knöpfe am Jackett, di<
gekräuselte Binde imd einen Hund auf der Straße sieht. (Verg^l^ ^
Kurt Li. wauwau.) Preyer imd Lindner würden mm vielleicfc::^^
in diesem Falle sagen, das Kind habe einen Begriff von groß^^^
Allgemeinheit gebildet. Diese Interpretation erweist sich ab^L^y
als durchaus falsch und zwar aus folgenden Gründen. V^ ±r
haben oben in der Einleitung gesehen, daß die Dauer uktt^c]
Energie der kindlichen Aufmerksamkeit absolut ungenügexnL<j
ist zur vollständigen Auffassung der Analyse der Wahm^lm-
mungsobjekte. Dies bedingt sodann femer, daß eine V^ir-
gleichung der Wahrnehmungen, sowie die zu jeder Begriffs-
bildung notwendigen Tätigkeiten der Abstraktion und Deter-
mination bei dem einjährigen Kinde ausgeschlossen sind. Solc^he
logischen Leisttmgen, wie die der Begriffsbildung, treten na-ot-
weislich erst in einem sehr viel höheren Alter auf. Wie sch'wr^r
dem Kinde die Unterordnungen von Wahmehmimgsobjekt^n
und der allgemeinen Begriffe wird, davon kann man sich l>^
Kindern im schulpflichtigen Alter genugsam überzeugen. Da-^
kommt noch, daß ein und dasselbe Wort durc^h
die allerverschiedenartigsten Dinge ausgelö st
wird, Dinge für die ein gemeinsamer Oberbegriff überhatB-]>t
nicht oder doch nur sehr künstlich auffindbar ist (vergl. ob^n
„wauwau"). Während so einesteUs die geistige Unreife di^^
einjährigen Kindes, die retrospektive Deutung der p^X*
chischen Leistungen von Kindern in spätem EntwickeluafF^'
Stadien und die große Verschiedenartigkeit der DüslSS^
auf welche das Kind seine ersten sprachlichen Äuße-
ffttu/^pr&Uem^ der kmälkhen Sprack^niwieM^mg*
279
■j-uii^en bezieht, die Annahme einer Begriff sbildung im
rSio^ne des Erwachsenen in diesem Alter verbieten, so läßt uns
atidcmteils die unmittelbare Beobachtung klar und deuthch
erlcennen, welcher Art der geistige Inhalt dieser ersten Kindes-
^ t>irte nun wirklich ist* Aus den ihren Gebrauch be-
g: leitenden mimischenundpantomi mischen Aus-
<i rucksbewegungenj aus dem Klang der Stimme
und der Reduplikation der Worte ersieht man,
ti^ß dieselben lediglich dem Ausdruck von Ge*
f ülilen und Begehrungen dienen, also Wunsch-
^' Ö r t e r s i n d* Es ist die Freude an den Gegenständen, die
I^x-^\ide an dem Wiedererkennen bestimmter Objekte tmd das
V^^rlangen nach denselben, welche das Kind mit seinen ersten
^V"c*rten ausdrückt. Die Funktion der Sprache ist nämlich eine
clt-^ifache, sie dient dem Ausdruck, der Mitteilung und der
ß'^^eichnung psychischer Inhalte. Beim Erwachsenen fallt diese
^^^ifache Funktion normalerweise immer zusammen; wenn er ein
»rtn^res Erlebnis zum Ausdruck bringt, will er dies z^igleich
t>^zeichnen oder benennen und anderen Personen mitteilen. Bei
^€^rn Kinde dagegen trennen sich anfänglich diese drei Funk-
^-looen der Sprache; seine ersten Worte werden von ihm, wie
s^crtion gesa^» lediglich zum Ausdruck von Gefühlen und Be-
lehrungen verwendet, ohne daß es sich dabei dessen bewußt ist,
*^^ß hiermit zugleich eine Mitteilung an seine Umgebung oder eine
^^^eichnung verbunden ist ; die Bedeutungen der ersten sprach-
^'otien Äußerungen des Kindes sind ausschließlich emotioneller
^^*^«r volitionaler Art. Wenn z. B. Kurt mit freudiger Miene
^^ch dem Lichte zeigt imd dabei redupHzierend den Laut ,,ch*'
^visstößt, so dient derselbe lediglich als Ausdruck der Freude,
*^^ineswegs aber zur Bezeichnung des Lichtes (vergL Kurt L
3* „ch"). Oder wenn Kurt, indem er nach dem Fenster reicht^
^^ dringendem, bittenden Tone in oftmaliger Wiederholung
*^ii Laut „ö** spricht, so gibt er damit seinen Wunsch zu
^''Icennen, an dasselbe gehoben zu werden (vergL Kurt L 4. „ö")-
^o ist sein , .wauwau" anfänglich zumeist Ausdruck der Freude
^i^id des Staunens; durch ,,a — a" drückt er ebenfalls seine Ver-
^^^^*^^denmg oder sein Interesse für die Gegenstände seiner Um-
e^bung aus usw. Ein Rückblick auf die obigen Aufzeichnungen
^i«'d diese Auffassung von der Entstehung der ersten Wort-
fi^^^mmag bestätigen. Dadurch nun, daß sich die Wünsche
22^) HexKTxJt Uti^atr^^r,
f\0:s Kindes auf dk alleTverschiedaiaitigstcn Dinge richten,
^utMii:ht jener Schein einer großen Allgenieinheit (Pieycr) oder
V^erallgemeinerung <Ament^ seiner ersten Worte. —
Die psychologische Begründung dessen, daß die ersten.
Worte durchaus emotioneller und volitionaler Art sind, liegt:
in dem in der Einleitung dargelegten Verhältnis des Gefühls-
und Willenslebens zum intellektueUen Leben. Wir sahen dort-
»elbst, daß das Gefühls- und Willensleben das e!f Monate alt^
Kind vollständig beherrscht. Ich habe an dieser Stelle schon be-
merkt, daß sich dieses gekennzeichnete Verhältnis natürlich nicl^^
plötzlich umkehrt, sondern erst mit wachsender Aufmerksamkeit
und Konzentrationsfähigkeit änden sich dasselbe allmählich zix-
gunsten des Vorstellungslebens. Eine Prävalenz desf Ge-
fühls- und Willenslebens liegt darum auch noch in der
Z<!it vor, in welcher das Kind seine ersten Worte sprictxt
und muß notwendigerweise in diesen zum Ausdruck konunen-
iJic Nichtbeachtung, oder zum wenigsten doch die ungenügend^
Würdigung dieser psychologischen Tatsache hat bei Preyeri
Lindner u. a, die falsche Auffassung über die Entstehung der
ernten Wortbedeutungen verschuldet.
Die Gefühle (Affekte) und Begehrungen sind nun bei dena
einjährigen Kinde in solcher Stärke vorhanden, daß sie nict^^
durch einen einmaligen, sondern erst durch einen meb.^'
rnaligcn Gebrauch eines Wortes vollständig ausgelöst werdet^-
Deshalb ist auch gerade die Reduplikation seiner spracl^'
liehen Äußerungen neben dem Klang der kindlichen Stimit*^
und der ihre Verwendung begleitenden Gebärden, d^^
sicherste äußere Kennzeichen ihres emotionell-volitionalen G^'
brauchs. Diese Beobachtung halte ich für eine der wertvollste^»
die ich bei der Beschäftigung mit dieser Frage gemacht hat>^'
weil sie uns einesteils tatsächlich ein unfehlbares Mittel an dt^
Hand Kil>^> ^1^^ Wunsch oder affektionellen Charakter d«""
Kindesworte zu erkennen, andererseits auch die Entstehux"*?
virirr Reduplikationen psychologisch begründet.
Wenn nun das Kind bei weiterer geistigen Entwickelung
dir Personen seiner Umgebung als etwas von sich Verschiedenes
•luffasHcn lernt» wenn ihm \x)r allen Dingen zum Bewußtsein
konunt. daß dieselben imstande sind, seine Wünsche zu ^^'
liillrn. oder auf seine Gefühlserregungen einzugehen, so v«r-
M^Ti\drt rs dirsr rnu>ti^'>nol^^x>litional gebrauchten Wörter, außer
Hüupipp^hltm^ d^r hn4ikhtn S^^hmht}4€k(uf9g,
281
usdruck auch zur Mitteilung seiner Begehmngen und
Uile. Dies ist z. B. der Fal], wenn Kurt die ihm gereichte
te Milch wegstößt, nach dem Schaukelpferd zeigt und „ö — ö"
dit, arum Zeichen, daß dieses auch trinken soll (vergl Kurt,
und „ö"), oder wenn er, mich ansehend, beim Kaffee -
ren ,jbaba** ruft, indem er nach dem Brot reicht, um mir
brch seinen Wunsch nach demselben mitzuteilen (vergh Kurt,
>aba*% oder wenn er auf der Landstraße ein Gefährt sieht,
fcchselnd nach diesem und mir hinsieht und dabei den
: „a** reduplizierend ausstößt, um mich auf dasselbe auf-
tsam zu machen (vergl. Kurt, 2. „a— a") usw.
Neben diesen nur emotionell gebrauchten Wörtern treten
\ solche auf, die schon ein Minimum von Bezeichnung
alten. Wenn sich Kurt am 396, Lebenstage vor mich hin*
; und mit vergnügter Miene mehrere Male j,baba'* spricht,
tt dies zunächst ein Ausdruck seiner Freude darüber, daß
fen Papa sieht ; sodann will er denselben aber auch offenbar
it benennen (vergL auch Kurt, 11. ,>dudu'*, 429. Tag).
Aus dem Wunschcharakter der ersten Worte erklärt sich
^ daß das Kind für logische Correlate verschiedenfach das-
i Wort verwendet. So gebraucht Kurt das Wort „obba**
ittendem Tone und reduplizierend, sobald er vom Arm
Mutter auf den Boden will und umgekehrt (vergL Kurt,
bbba). Es ist sein „obba** eben nur Mitteilung eines
isches (vergl auch Helmut Rauch, 18- Monat: „heiß** und
it Witebsky, 19. Monat: „aiß**).
Ihrer grammatischen Bedeutung nach sind die Affektworte
Cindes als Interjektionen bezw, als Interjektionalsätze, die
Ischwörter als Verbalsätze aufj^ufassen. Wenn Kurt sein
chen nach mir reckt und j,obba" spricht, so bedeutet das :
•will auf deinen Arm gehoben werden. Die ersten Worte
Kindes sind also eben ihres emotionell-volitionalen Charak-
wegen durchweg Satzworte, ,,die Wortfunktion des Wortes
Rekelt sich erst aus seiner Satzfunktion durch einen ein-
inkenden Prozeß/* (Meumann L Seite 6,) —
Bei fortschreitender geistigen Ent Wickelung wächst ins-
ndere das Vorstellungsleben des Kindes. Das schon früher
hnte Verhältnis des emotionell-volitionalen Lebens zum
lektuellen Leben ändert sich allmählich zugunsten des
treu. Wenn ich für diese Behauptung auch keine exakten
282 Heinrich Idelberger.
Beobachtungen beigebracht habe, so wird dieselbe doch wohl
allgemein als richtig hingenommen und durch bisherige Beob-
achtungen einigermaßen beglaubigt. Natürlich handelt es sLcrli
bei der angedeuteten Ändenmg dieses erwähnten psychisdi.^11
Verhältnisses um einen sehr langsam verlaufenden geistig^^n
Prozeß. Die unverhältnismäßig stärkere Entwickelimg des kicxcl-
liehen Intellekts hat ihren Grund in der wiederholten Beot-
achtung der Gegenstände und Vorgänge seitens des Kindes,
wodurch fortgesetzt neue Vorstellungsdispositionen geschaffen
werden und der d^nit im Zusammenhange stehenden Steigenxn.^
der kindlichen Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit.
Aufmerksamkeit und Vorstellungstätigkeit Isind aber in gewissem
Maße antagonistisch gegen das Gefühlsleben. Diese Wande-
lung des angedeuteten psychischen Verhältnisses! macht sioh
selbstverständlich auch wieder in dem vornehmsten Ausdrucl^al-
mittel des Kindes^ in seiner Sprache geltend. Die kindlichen
Wortbedeutungen erhalten allmählich auch gegenstänci-
liehen Charakter. Die Worte werden zur Bezeichnung vc^^
Gegenständen und Vorgängen verwendet, sie werden „intelle^'
tualisiert'* (Meumann).
Als ein erster Schritt zu dieser Intellektualisierung der kinC^'
liehen Sprache ist schon die oben mitgeteilte Beobachtung^,
anzusehen, daß manche Worte neben ihrem Gefühls- ^Mi^^^
Wunschcharakter schon ein Minimum von gegenständliche^^
Bedeutung enthalten. Einen weiteren Fortschritt ii^^^
dieser sprachlichen Entwickelung stellt sodann die Tatsache
dar, daß die meisten der ersten Worte des Kindes lange Zeit
hindurch abwechselnd sowohl emotionell-volitional als
auch als Bezeichnung verwendet werden. Eine große Anzahl
derartiger Beispiele habe ich in den obigen Aufzeichnungen
mitgeteilt (vergl. II. Rosa Bartscher, 16. Monat: „beisch",
„wadder", „hut", „deich", „dul", „gaga; III. Ernst Witebsk>',
18. Monat: „laden**, „hoppa**; IV. Helmut Rauch, 14. Monat:
„ada** u. a. m.). Äußerlich unterscheidet sich der emotionelle
von dem intellektuellen Gebrauch in diesen Fällen allemal
durch die Reduplikation des Wortes verbunden mit einer dem
Wunsch und Gefühlscharakter angemessenen Wortbetonung
und mit entsprechender Gebärde. Auf dieser Stufe sprachlicher
Entwickelung stehen, wie aus den Aufzeichnungen zu ersehen ist,
die meisten der von mir in Bezug auf die Frage der Entstehimg
f^mpfpmbUmt J£r Jhn^bJtem Spmchentisftckfmig,
ix^r ersten Wortbedeutungen beobachteten oben angeführten
ICiuder- Bei meinem Sohne Kurt hat die Intellektualisienm^
d^r Sprache ebenfalls bereits begonnen ; denn dadurch, daß er
P3.pa und Mama durch „baba'' und ,,mama**^ eben&o Hund imd
Pf^rd durch ,, wauwau und „dudu*' unterscheidet, zeigt er an,
cia.13 diese Wortbedeutungen gegenständhcher Art sein müssen.
(Eine weitere sprachliche Emwickelungsstufe würde sodann die
sein: die emotionelle Wortbedeutung tritt ganz oder fast gani
X uir ück, nignnsten der rein intellektuellen,)
Was bezeichnet denn nun das Kind mit seinen
ersten Worten, oder welcher Art sind seine
£C^ gen ständlichen Wortbedeutungen und wie
Icommen sie zustande? Hierüber gibt uns unsere Auf-
zeichnung unter Zuhilfenahme der eingangs angeführten drei
i^^^thodischen Grundsätze mm Teil wichtige Aufschlüsse^ und
Tt\it diesen Fragen wollen wir uns nunmehr noch etwas näher
l^^fassen.
Der Charakter der ersten Wortbedeutungen läßt sich ledig-
lich aus der Verwendung der ersten Worte erschließen. Nun
^^t aber die Deutung dieser Verwendung gerade sehr schwierig.
^Vir sahen schon, daß die unter dem Einfluß einer logischen
Psychologie stehenden Erforscher der Sprache des Kindes seine
^ lösten Worte als Begriffe im Sinne des Erwachsenen auffassen*
Oa-ß der ein- bis Eweijährige Erdenbürger zur Bildung solcher
geistig nicht imstande sein kann, habe ich im Anschluß daran
Schon dargetan. Auch der erste der drei oben aufgestellten
^K?ilK>dischen Grundsätze, daß man sich, wie dies überall in
^r rxakten Natur forschung seit langem und neuerdings auch
^ der Psychologie mit großem Nutzen geschieht, auch bei der
'^t^rpretation der ersten kindlichen Worte möglichst einfacher
Erl^lärungsgründe bedienen müsse, ist für uns ein lureichender
Cri^nd, uns dieser ähem Auffassung nicht anzuschließen, zumal
-H die Entstehung der ersten Wortbedeutung auf eine viel
i fächere Weise dartun läßt, wie wir später ^ehcn w^erden.
Die kindlichen Wortbedeutungen und ihre Entstehung sind,
^%et wir aus der Wortverwendtmg ersehen können, ganz eigen-
g, so daß die Übertragung eines vom Erwachsenen ent-
^»itiienen Schemas auf das Kind absolut unzulässig ist. Ich
^ill versuchen, dies an einem Beispiel zu zeigen.
Helmut Rauch benennt mit dem Worte ,,h€iß" den Ofen,
^^^^^^^^i^^ift
284 Heinrich Idelherger,
die Kaffeekanne, die Lampe, die Metallbetten, überhaupt alle
glänzenden Gegenstände. „Heiß" ist ihm zuerst imter Hinweis
auf den heißen Ofen vorgesprochen worden. In dem kindlichen
Geiste ist durch den Anblick des Ofens eine Vorstellung ent-
standen, die sich nun mit der Wortvorstellung verbindet. Daß
es sich bei der ersteren nur um ein wenig oder gar nicHt
analysiertes intellektuelles Gebilde handeln kann, ist schon von
vornherein anzunehmen, wenn man das Ergebnis meiner eir^-
leitenden Ausführungen über die Energie der Aufmerksamkeit
in Betracht zieht. Von welcher genaueren Beschaffenheit die^e
Vorstellung nun ist, welches ihr wesentlicher Bestandteil ist,
dieses erkennen wir aus der weitern Verwendimg des von dem
Kinde angezeigten Worte „heiß". Daraus eben, daß H.R.mit
demselben auch die glänzende Lampe, die Metallbetten, die
Kaffeekanne, überhaupt alle glänzenden Gegenstände bezeichnet,
geht klar hervor, daß das eine Merkmal (Merkmal nicht im
Sinne eines logisch bearbeiteten Vorstellungselementes auf-
gefaßt) oder besser gesagt, die eine Teilvorstellung des Ofeas
„glänzend" einzig und allein seine Wortbedeutung ausmacl^t
(und nicht etwa die Teilvorstellung „heiß") ; nur sie hat gelegeat-
lieh des Aktes der Benennung im Blickpimkt des Bewußtsein.^
gestanden. (Erst ungefähr drei Wochen nach der Gewinnung
dieser Wortbedeutung wurde, nachdem das Kind durch Be-
rührung der heißen Kaffeekanne die Temperaturempfinduaß
,,heiß" — als etwas Unangenehmes — kennen gelernt hatt^»
die Teilvorstellung „unangenehm" in den Wortinhalt aaf •
genommen. Vergl. Seite 36, die zweite Bedeutung v<^i^
„heiß" I) Wenn das Kind nun diese Teilvorstellimg an irgem^
einem anderen Gegenstande wieder wahrnimmt, so wird d^^
mit ihr assoziierte Name reproduziert, und zwar handelt es sich
dabei um eine ganz mechanische Auslösung desselben. Dah^'
kommt es, daß das eine Wort „heiß" Bezeichnung für so ver-
schiedenartige Dinge wie Ofen, Lampe, Metallbetten, Kaffee-
kanne etc. werden kann. Das Kind benennt bei all diesen
Gegenständen nicht diese selbst, Isondern nur die Teilvorstellung
„heiß". Dadurch erhält dann das Wort „heiß" in den Augen
der Erwachsenen den Schein einer großen Allgemeinheit (B^
griff: Preyer) oder einer fortschreitenden Verallgemeinerung
(Ament). Dieser schwindet aber sofort, wenn man sich kla^
macht, was das Kind eigentlich mit demselben bezeichnet,
ii^xupiprQhUtUi^ ii^r kindMeken Spmckeniwicklung ^
285
ifi es nicht diese heterogenen Dinge mit der Fülle ihrer
if ferenten Eigenschaften (welche es infolge der Schwäche und
Silität seiner Aufmerksamkeit überhaupt nicht auffassen
h), sondern immer nur die gleiche TeilvorsteUung an diesen
&genständen benennt. Der Wortinhalt ist, wie man hier also
^Itj durchaus konkret« die Einbeziehung der genannten Dinge
Lter denselben sprachlichen Ausdruck zeigt nun die reine
Wirksamkeit der Assoziation, sie folgt dem Gesetz der Berüh-
ngsassoziation* Auf Grund der assoziativen Verknüpftmg
ctes Eindrucks A (Teilvorstelltmg des Ofens „glänzend*') mit
ner Vorstellung B (Wortvorstellung „heiß**) reproduziert auch
cier dem A ähnliche Eindruck (Teilvorstellung ,,glänzend**
L den andern Gegenständen) die Vorstellung B (Wortvor-
ellung „heiß*0.
K Auf ganz dieselbe Weise läßt sich die Entstehung der ersten
^nbedeutungen bei fast sämtlichen oben mitgeteilten Worten,
Le zur Bezeichnung verwendet werden, erklären. Immer ist es
ne gemeinsame Teilvorstellung oder es sind einige derselbn,
dche das Kind an den im übrigen vielfach sehr verschiedenen
^genständen und Vorgängen wieder erkennt, apperzipierend
OTStellt und benennt. Dies ist z. B der Fall, wenn Kurt L alle
rcßeren männlichen Personen, sowie auch deren Abbildungen
baha** und alle größeren weiblichen Personen „mama" nennt,
'der wenn Ernst Witebsky mit ^.diit'* alle uniformierten Leute
Soldaten j Briefträger, Schutzleute) bezeichnet usw. Eine Asso-
iation nach dem Gesetz der Kontiguität ist ferner durch folgen-
i^ Vorgang nachweisbar. Gertrud Stahl spricht beim Anblick
deines Taschenmessers ,,papa*\ die durch den Anblick
deines Messers erzeugte Wahrnehmung ruft die Vorstellung
^% Messers ihres Vaters in ihr wach und diese letztere repro-
^^nert dann weiterhin die mit ihr durch Angrenzung ver*
l^^ödcnc VorsteUung ihres Papas^ durch welche dann ganz
i^echanisch der Name desselben ausgelöst wird (vergL Gertrude
^Eiü Beispiel von assoziativer Übertragung durch Simulta-
^^Wat hegt vor, wenn Ernst Witebsky mit dem Worte „ti** den
Tee und jede Kanne mit oder ohne Inhalt benennt, „Sie folgt
^*in Schema: was bei Gelegenheit des Aktes der Benennung
^ichzeitig in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit fällt, das
286 Heinrich IdeVberger.
assoziiert sich mit der Benennung und wird in die Wor"«^
bedeutung aufgenommen" (Meumann I, Seite 44).
Hiermit würde man, wenn man allenfalls noch hinzufüg'"«
daß das Kind mit seinen ersten Worten vorzugsweise Vooc
gänge (Tätigkeiten, Veränderungen) in geringerem Maße EigcKr:
Schäften imd etwa noch räumliche Beziehungen der Dinge b^
zeichnet, das Wesentlichste dessen angeführt haben, was m» ^
aus den obigen Aufzeichnungen zu schließen berechtigt ist.
Ich fasse das Ergebnis in meiner das Problem der erst^
Wortbedeutungen betreffenden Beobachtungen kurz zusanunei>
Wenn man bedenkt, daß an allen psychischen Vorgang^!
das Vorstellungs-, Gefühls- und Willensleben beteiligt ist urtc
keine dieser drei seelischen Betätigungen isoliert auftritt, sc
läßt sich die Frage nach der Entstehung der ersten Wort-
bedeutung auch so formulieren : In welchem Maße haben Vor-
stellungs-, Gefühls- und Willensleben Anteil an der Bildua^^
derselben und wie verlaufen die bedeutungbildenden Prozesse
im einzelnen? Da muß nun gesagt werden, daß die ersten
Wortbedeutungen durchaus emotionell-volitionaler Art sind, dsLS
Gefühls- und Willensleben in vorherrschendem Maße an ihrei
Bildung beteiligt ist. Die ersten Worte des Kindes dienen
zunächst dem Ausdruck und weiterhin auch der Mitteilwig
seiner Gefühle (Affekte) und Begehrungen. Infolge der rasche-
ren Entwickelung des Vorstellungslebens werden die kindlichen
Worte allmählich intellektualisiert, d. h. zur Bezeichnung ver-
wendet. Die ersten gegenständlichen Wortbedeutungen sin<i
nun keineswegs das Produkt einer logischen Geistestätigkeit,
sondern entstehen nach Maßgabe der Assoziations- und R^
produktionsgesetze auf Gnmd sehr unvollständiger, nur wenig
oder gar nicht analysierter Wahrnehmungen, bei welchen nur
die eine oder andere Seite des Wahmehmimgsobjektes (Teil
Vorstellung), die nicht den Charakter von analysierten oder
abstrahierten Merkmalen trägt, apperzipiert und benannt wird.
Es erscheint daher berechtigt, eine erste e motion eil- voll-
tionale imd eine sich anschließende assoziativ-repro-
duktive Sprachstufe zu tmterscheiden.
I
Hmipiprobltmc der Jh'mdiuk^n Spfioi^henittiü'Jtlun^,
287
r"
IL Das Problem der Worterfindung.
Ein zT^eites Hauptproblem auf dem von mir betretenen
Gebiete, das gegenwärtig im Mittelpunkte der sprachpsycholo-
gischen Diskussion steht, ist das der Worterfindung, Das Kind
t^^zeichnet nämlich vielfach Gegenstande oder Vorgänge mit
Latiien und Laut komplexen, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem
Ciegcnstand haben, also z. B, nicht mit akustischen Merkmalen,
die dem Wahrnehmungsobjekt entlehnt sind, die aber auch
^icht aus der Sprache der Umgebung stammen j ebenso ge-
*> taucht es zum Ausdruck seiner Gefühle und Begehrungen
1-^ut© oder Lautverbindungenj wie solche beim Envachsenen
^^ diesem Zwecke nicht verwendet werden; kurz gesagt: es
t^^^ten bei allen Kindern gelegentliche Wörter auf, die dem
^inde völlig eigentümlich sind und welche deshalb häufig als
Erfindungen des Kindes angesehen werden. Mehrere Beob-
^c::liter der kindlichen Sprachent Wickelung wie Lindner, Ament,
Strümpellj Sully u. a. treten für eine Worterfindung ein und
S'txchen durch eine Reihe von Beispielen ihre Auffassung zu
^^titKen. Auf der andern Seite wird die Richtigkeit derselben
d.iarch Forscher wie Wundt, Preyer, Stumpf und Meumann
t^^striiten. Dies hat mich veranlaßt, das fragliche Problem
^tif Grund einer ad hoc angestellten ausgedehnten Beobachtung
^'^»n neuem eingehend zu untersuchen. Doch nach der alten
logischen Regel: Contra principia negantem disputari non
pcjtest — halte ich es, bevor ich in die Behandlung des Problems
^intrete^ für notwendig, den Sinn desselben festzustellen.
Da ist es nun insbesondere der Terminus ^»Erfindung", der
Anlaß zum Mißverständnis geben kann. Es erscheint derselbe
in Seiner Anwendung auf sprachliche Produktionen des Kindes
*ii den ersten Lebensjahren recht unglücklich gewählt, und er
^*st darum verschiedenfach die Gegner einer Worterfindung
^m Widerspruch herausgefordert. Es wird von aenselben
hervorgehoben, daß ,jXU aller Erfindung ein planmäßiges, ab-
^'<^htlich€s Vorgehen, eine Vorstellung von einem Zwecke, der
^^twirklicht werden soll*' (Meumann II, Seite 3^), gehört und
°^ dies dem Kinde abgesprochen werden muß. Es ist klar,
^ der Mensch, um etwas in diesem Sinne zu erfinden, eine
^hete Stufe geistiger Ausbildung erstiegen haben muß, als
*j|^ das ein- bis rwcijahrige Kind einnimmt
./^mruM f-i^U^r^ay
/r-^r-r. :.rr.r
.:,.., .......a»„n.^™„r,ng«, Wonsinne fe^S^^^^
../•;»»i^ .'.r.^ ^w:H ni^ht in dem Sinne möch h
;^v...r. H.t^«^.iir wu^^n, daß jede absichtliche Url^tr^
;.,r^. l.ur.^^T .\iasriruckft der Erwachsenen seitens der K^^^^
/,^r:f:rfir»rliin^ m bezeichnen sei, wie dies von Stum-vr"^^^
,i.,i,.|,f, Kijfcri;irTige sprachliche Entwickelung ei,?f^^"
Ar^^^f\^u^^ fiir pädagogische Psychologie lU rs ^ ^^^"'^^^
u.,H 4^'^; I^h verstehe unter Worterfindimi W-^ ^
v; |, r> ri r ;i ri f: P: r 2 e u ge n von Wörtern. Der j^ceAT^^V^
knt h;ill)/M- möchte ich darum unser ProblerrT i^ '^ t^'ZI*
kUnlni: Kommt es vor, daß die Kiz-*-^^^-^^
hihirn. welche in keiner Weise a-iT ix * -*-- x l -
M'KtinK zurückzuführen sind? Im Sinne ü«-- "-^-^
\viM<h' u'h (hisselbe im folgenden behandeiii. '^^
liiu ouie einwandfreie Lösung des voriie^Kmid --- rit-r^L^
Uribruuluhieu» hielt ich gerade hierbei die 5^jcüc:ii.--r ^:_-.
hv h^i vielei Kinder für erforderlich. Fj^^j-siec sir VZ- '—
wuuKmi ^evhs bczw, sieben Monate hincur^rfi re^jc-Äcn^-^^
\ \\\-<\W\\\ Schwarzhaupt» 2. Gertruiie icioi. - __—
U ivWvl \ Vlbiwht Henrog, 5. Rosa Bar:sciit;r ? Zj-\ii ^^---
IJv-'-'.v. l\,iuvh. ^ v.t:J o. Kur: und .--^oonnu -T-r^j,,.:::; " ="
W A^vxx^ XV.". Iviel^erger.
\ '» ;i^ Jo'* V!:crv ier^sei-rea H'iir-,:ut!i r.i: j^*- -.
HßuproiphUmt der kindikkm SprQcksntwi^lung^
289
des Wortes ,,Sofakisseii" entsprach. Bekanntlich sind die Kinder
frühzeitig imstande, den Rhythmus in Sprache und Musik auf-
zufassen und nachzuahmen. Daß das 22 Monate alte Kind
Ijei der Nachahmung eines viersilbigen Wortes nur drei Silben
spricht, wird wohl kaum jemand gegen meine Auffassung von
der Entstehung dieser Bezeichnung ins Feld führen können.
Wenn ich nach diesen Bemerkungen davon absehen muß^ das
Wort ,,adda2ee" als von dem betreffenden Kinde spontan er-
zeugt anzusehen, so hat die ad hoc angestellte Suche — bei
aufmerksamster eigener Beobachtung der Kinder Albrecht
Herzog, Gertrude Stahl und Kurt Idelberger — nicht eine
einzige sprachliche Äußerung zu Tage gefördert,
welche man als freie Erfindung der Kinder — Erfindung in dem
oben angedeuteten uneigentlichen Sinne — bezeichnen könnte,
bejsw, sich nicht mehr oder weniger als eine Nachahmung von
^^aturlauten oder als Nachahmung der Sprache der Er
wachsenen qualifizierte. Ich muß darum ein spontanes
ErEeugen von Wörternj eine Wortbildung der
Ki nder ohne äußere Anregung verneinen.
Allgemeine sprachlich-psychologische Erwägungen lassen
di^s Resultat der Beobachtung erklärlich erscheinen. Fragen
wii" lunächst; Wann reden wir von einer wirklichen Wort-
bildung, was macht das Wesen eines Wortes aus?
Drei Momente sind es, welche das Kriterium in dieser Frage
abgeben. Erstens: Jedes gesprochene Wort besteht aus zwei
Elementen. Das eine dieser Elemente verdankt seine Ent-
stehung einem physischen Prozeß; es ist der Laut — selbst-
verständlich der artikulierte — bezw. die Lautverbindung. Das
andere Element ist das Produkt eines psychischen Prozesses;
^s ist der jeweilige geistige Inhalt eines Wortes — Vorstellungen^
Pfühle oder WiUensregimgen — oder die Wortbedeutung.
^ide Elemente assoziieren sich, und dadurch wird der Laut
^^^'it äußeren Zeichen für diesen psychischen Inhalt. Wie diese
^ssoziation zustande kommt, kann uns hier gleichgültig sein-
^w^itens: Das vorhin genannte physische Element — der Laut
^^x die Lautkombination — muß mit der Absicht hervorgebracBt
Und verwendet werden, diesen geistigen Inhalt auszudrücken^
"Mitzuteilen oder m bezeichnen. Dazu kommt noch ein drittes :
^^n einer eigentlichen Wortbildung kann immer nur dann die
RecJe sein, wenn die gekennzeichnete psychophysische Asso-
^^L Zt\U^hüi\ fuf pädagoeischt Ptychologic. Pathologie tind Hygiene. 4
290 HeinriOi Idelberger,
ziation wiederholt derart zustande kommt, daß ein Laut oA^r
eine Lautverbindung dieselbe Wortbedeutung erhält. Erst die
Konstanz dieser Verbindung, welche dieselbe zu einem zeit-
weisen oder dauernden Bestandteile der Sprache macht, gibt
derselben die Bedeutung eines Wortes.
Unter Berücksichtigung dieser angeführten drei Momente,
welche die Frage, ob diese oder jene lautliche Äußerung des
Kindes als eine wirkliche Wortbildung aufzufassen ist, zu ent-
scheiden haben, werden nun aus dem Rahmen der Erörterung
imsers Problems zunächst alle die von dem Kinde im ersten
Lebensjahre gebildeten Lalllautverbindungen, sodann die
Wörter, die durch Assoziation eines psychischen Inhaltes mit
einem längst geläufigen Lallwort entstehen, ausgeschieden. Das
Wort muß sich als die spontane Assoziation einer noch nicht
geübten Lautverbindung mit einem Bedeutungsinhalt erweisen,
wenn es als vom Kinde im Sinne unsers Problems erfund^'^
gelten soll. So sind die so gern als Erfindungen der Kind^^
hingestellten Bezeichnungen „papa" (= Vater), „mam^-
(= Mutter), „deta, dada** (= Tante) u. a. keineswegs als solct^^
anzusehen; es sind einfach nur assoziativ übertragene LaJ^^'
Wörter. Weiterhin scheiden nach der Wesensbestimmung d^^^
Wortes auch alle die lautlichen Äußerungen des Kindes au^^
der Behandlung unsers Problems aus, die sich als „Entladungen^
der kindlichen Affekte kennzeichnen und der Wiederholung
in derselben lautlichen Zusammensetzung ermangeln. —
Fragen wir sodann: Ist die Assoziation einer bis dahi^
noch nicht geübten Lautkombination mit demselben geistige^
Inhalt beim Kinde psychologisch denkbar? Nehmen wir einm^-l
an, das Kind habe auf Grund seiner Sprachdisposition ein ^
gegenständliche Bezeichnung spontan gebildet, also eine bi^
dahin noch nicht eingeübte, spontan erzeugte Lautverbindun ^
als Bezeichnung einer neu auftretenden Sachvorstellung aT"^'
gewandt, und es würde nun dem Kinde nach einiger Zeit da*- ^
bezeichnete Objekt gezeigt, um die Reproduktion der selbsttäti ^^
erzeugten Lautverbindung zu veranlassen. In diesem Falle i^^^
es sicher, daß die letztere unterbleibt. Es fehlen dem Kind ^
eben die notwendigen Dispositionen zur Wiederholung deg^
früheren Prozesses der Lauterzeugung; diese werden erst durc^^
wiederholtes Vorsagen der Lautverbindung von Seiten der Eii^^'
wachsenen und Nachsprechen derselben seitens des Kinde ^^
Hmi^prxfhUme der MmäiüAem SpwackeniwüMung*
291
tiatten; erst dadurch wird der kleine SprachschiUer all-
lilich in stand gesetit, sich der akustischen und motorischen
ijrtvorstellung wieder zu erinnern. Wie schwach das Wort-
lächtnis des sprechenlemenden Kindes ist, beweist folgende
^bachtung: Albrecht Herzog wird am 19. XL 02, also am
'* Lebenstage, ein Tintenglas mit Inhalt vorgehahen. Nach
■ letzteren befragt» weiß er keine Antwort zu geben, und
laufhin sage ich ihm das Wort „Tinte'* vor* AJbrecht spricht
iselbe nach, .^dinde**» Bei meiner Anwesenheit in der eiter-
igen Wohnung am 20., 24., 26., 28. und 29. November frage
Bpr Prüfung seines Wortgedächtnisses allemalj indem ich ihm
WGIas zeige, nach dem Inhalt desselben. Niemals weiß er den
sprechenden Namen anzugeben, obwohl ihm derselbe bei
Kn Besuche mehreremal vorgesprochen worden ist und er
n auch jedesmal ebenso oft nachgesprochen
i Erst bei meinem Besuch am 3. Dezember 02 kommt ihm
B AnbUck des Tintenglases sofort das Wort 5,dinde** von
1 Lippen. Durch vielmaliges V^orsprechen des Wortes an den
^n bezeichneten Tagen und Nachsprechen desselben von
ten des Kindes vermochte also die Sachvorstellung erst die
tihr assoziierte Wort Vorstellung zu reproduzieren. Obgleich
Ich in dem obigen Beispiel um ein nachgesprochenes Wort
idek, so zeigt sich dabei doch eine so geringe Fähigkeit,
» einmal Gesprochene festzuhahen und zu wiederholen, so
& mau hieraus mit aller Wahrscheinlichkeit schließen kann,
3 das Kind nicht imstande ist, eine etwa erfundene gegen-
^düche Bezeichnung auch nur einmal zu wiederholen, ge-
ftieige denn konstant derart zu gebrauchen, daß dieselbe
SRnem zeitweisen oder dauernden Bestandteil seiner Sprache
■Penau so steht es mit der Erfindung der emotionell ge-
Reh ten Wörter, der VerbaMnterjektionen. Wenn das Kind
br häufig eine gewisse Beharrlichkeit im Gebrauche einzelner
irselben zeigt, &o liegt d«r Grund eben darin, daß es längst
-übte und geläufige Lallworte zum Ausdruck seiner Gefühle
ftd Begehrungen benutzt. Die Laute und Lautverbindungen
^d da; sie erhalten vom Ende des ersten Lebensjahres an
*i irgend welchen Emotionen insofern einen psychischen
K als sie als Ausdruck derselben dienen. So gebrauchte
Sohn Kurt vom 10. bis 12. Lebensmonat nacheinander die
4*
292 Heinrich Idelberger,
Laute bezw. Lautverbindungen : „ch" (in der Aussprache etwas
dem englischen th zuneigend), „dada", „deide" als Ausdruck der
Freude, „a" (kurz gesprochen) als Ausdruck der Verwundening,
des Staunens, „ä" (nasal, wie französisch' in) und „ö" (kun ge-
sprochen, mit hinzeigender Gebärde) als Ausdruck eines
Wunsches usw. — alles ihm längst geläufige Lalllaute bezw.
Lallwörter.
Wenn ich nun auf Grund eingehender Beobachtung und
sprachpsychologischer Erwägungen eine Wortbildung der
Kinder ohne äußere Anregung verneinen muß, so drängt sich
mir die Frage auf: Wie ist die Entstehung der in
der einschlägigen Literatur auftretenden Bei-
spiele einer angeblichen Worterfindung zu er-
klären? Solche Beispiele sind mitgeteilt von Darwin, Taine, ^
Sully, Strümpell, Lindner, Ament u. a. (Zum Teil zusanunen-
gestellt bei E. Rzesnitzek, Zur Frage der psychischen El^^*
Wickelung der Kindersprache, Breslau 1899, Seite 17 ff. uO^
W. Ament, die Entwickelung von Sprechen und Denken beixti
Kinde, Leipzig 1899, Seite 63.) Es ist mir nachträglich natiirli^l^
nicht möglich, festzustellen, welchen näheren Umständen di^'
selben im einzelnen ihr Dasein verdanken. Einige der n»i^'
geteilten Beispiele freier Worterfindung stellen sich \tAo<^
augenscheinlich als mit einem psychischen Inhalt assbria^i'^
verbundene Lallwörter dar, so Darwins „mxmi" und Tain^^^
„ham" (Bezeichnung für Nahrung), Preyers „da", „nda", „nt^^*
(Bezeichnimg für „da"), „atta" (für „fort"), Sullys „ma— m»*
(Zeichen von Unlust), „dada" (Zeichen der Freude), Lindnd^
„j-j-j" (angeblich Bezeichnung für Zucker), „papp" (BezeichnuDß
alles Eßbaren), „mem" oder „möm" (Bezeichnimg für all^^
Trinkbare), „wewe" (Mitteilung der erfolgten Hamaussdi^^'
düng) (G. Lindner, Aus dem Naturgarten der Kinderspracb^^
Leipzig 1898; Seite 34 und 36), Aments „adi" (Bezeichnung f^
Kuchen) (W. Ament, a. a. O., Seite 99) usw. Andere derselben
sind offenbar onomatopoetischen Ursprungs, so die von Lind-
ners Knabe mitgeteilten BezeicTmungen „pip" (für Vogel) uöd
„mm" (für Annäherung eines Wagens) (G. Lindner, a. a. Ov
Seite 36 und 24), femer das von Stumpfs Knabe gebrauchte
„tap" für öffnen der Flasche (Stumpf, Eigenartige sprachlich^
Entwickelung eines Kindes. Zeitschrift für pädagogische Psy*
chologie III., 6. Seite 427) usw. Im allgemeinen scheinen
Hattpfpröbi€fH€ iUr hindiuk^n Sprach'ml;wkkltmg*
2Q3
iir nach meinen Beobachtungen die Hauptentstehungsursachen
der Beispiele einer angeblichen Worterfindung folgende zu sein :
1. Selbst bei aufmerksamster Beobachtung eines sprechen*
lernenden Kindes ist es doch fast unmöglich^ alle die äußeren,
insbesondere die von der Sprache der Erwachsenen ausgehenden
Entwickelungsreize und deren tatsächlichen Einfluß auf die
Uindlicbc Sprachentwicklung zu überwachen. Dieser Einfluß
ist ein sehr großer und frühzeitiger; er beginnt nahezu vom
ersten Augenblicke der extra-uterinen Existenz des Kindes an.
Wie oft kommt es gegen Ende des ersten Lebensmonats vor,
daß der kleine Erdenbürger plötzlich sein Schreien unterbrich t,
wena sich Erwachsene in seiner Nähe unterhalten, um nach
E^^-^digung des Gesprächs sofort wieder in die frühere ,jTonart*'
verfallen. Dieser offenlaindige Einfluß steigert sich mit
ehmender Verfeinerung des Gehörs und wachsender Übung
deir Sprachorgane. Er zeigt sich nicht bloß in den sprach-
lichen Produktionen des Kindes, welche das Resultat absieht*
li eher Einwirkung der Erwachsenen sind, sondern wird auch
durch die Tatsache bestätigt^ daß die Kleinen die Erwachsenen
in. ihrer Sprache auch dann nachahmen, wenn nachweislich eine
sprachliche Einwirkung nicht beabsichtigt war oder sein
konnte. Wie häufig müssen die letzteren (Erwachsenen) —
manchmal in recht unliebsamer Weise — erfahren, daß sie in
ihreii Unterhaltungen von Kindern belauscht worden sind. „Wie
<*ft mag das Kind an den Gesprächen der Erwachsenen in
zitier Weise Anteil nehmen, aber wie selten ist die Gelegen-
^itj eine solche sich meist unvermerkt vollziehende Anteil-
nahme zu beobachten/* (G. Lindner, a. a. O.j Seite So,) Diese
Tatsache fällt bei Beantwortung der Frage nach der Entstehung
^^ „erfundenen** Wörter schwer ins Gewicht und gewinnt die
£fÖßt€ Bedeutung in unsrer Erörterung, wenn man bedenkt,
^^ das Kind seine Nachahmungen sehr häufig bis zur
völligen Unkenntlichkeit verstümmelt. Bei ab-
sichtlicher Einwirkung der Erwachsenen auf die Sprachent-
^^ickelung des Kindes, also beim Vorsprechen irgendwelcher
prter zum Zwecke der Nachahmung, kann man sich davon
erzeugen, wie dieselben gar oft bei sofortiger Wiedergabe
Ittli das Kind in einem solchen lautlichen Gewände erscheinen,
eine Älinlichkcit der vorgesprochenen und nachgeahmten
roner kaum noch oder gar nicht mehr lu erkennen ist. Die
294 Heinrich Idelberger,
\
Einsicht in die in der Literatur mitgeteilten kindlichen Vok^^'
biüarien bestätigt uns dies. Wie bei beabsichtigter Spract»--
beeinflussung, so macht sich diese Wortverstümmelung selbs'^ —
verständlich auch bei der unbeabsichtigten^ unvermerkten Ei
Wirkung geltend, und zwar vielfach in noch höherem Gradi
Dazu kommt noch ein Drittes. Die Kontrolle darüber, weichte-
Entwickelimgsreizen die kindlichen Sprachproduktionen ihr^
Ursprung verdanken, wird nicht unwesentlich durch den Ue
stand erschwert, daß das Kind nicht allemal sofort am =^l
diese Reize vernehmbar reagiert. Gelegentlich der Versuch- ^^s,
welche ich zwecks Beantwortung der später zu erörternd^^^ :3i
Frage, ob dasselbe vom 7. bis 13. Monat die Lippenbewegungi jh
der Erwachsenen beim Sprechen beobachtet, vomahm> koDn^'^t=:e
ich feststellen, daß es sehr häufig erst geraume Zeit lautl-
dieselben nachahmte und dann — in einem Zeitraum von 1 5-
Sekimden nach dem Vorsprechen — einen dem vorgesprochen«
JLaut mehr oder weniger ähnlichen hervorbrachte. Diesdl
Erfahrung habe ich auch bei ein- bis zweijährigen Kinde 1
gemacht. Wenn dies bei beabsichtigter Einwirkung stattfind ^.^ — ^>
so kann dasselbe natürlich auch bei der unbeabsichtigten ^'-^•
schehen. Klingen dann nachträglich unvermittelt solche dur^::r^ 1
unvermerkte Beeinflussung entstandenen, vollständig v^^ ^■'•
stümmelten Lautgebilde an des Erwachsenen Ohr, so kann ^^^
sich meist ihren Ursprung nicht erklären imd ist nun geneij
dieselben als vom Kinde „erfunden**, d. h. selbsttätig erzeimi
anzusehen. Durch Zufall wird es hin und wieder möglich,
Entstehung eines auf die dargelegte Weise gebildeten Worir^^^
später — vielleicht nach Tagen und Wochen — nachzuweis^^^-
Einen Beleg dafür gibt folgende Beobachtung : Gertrude St»-*^'
sprach am 14. Oktober 02, also an ihrem 444. Lebenstage, d-^*^
Wort „popo**, ohne daß die Eltern und ich uns die Entstehu«^^^ -^
und die Bedeutung desselben hätten erklären können. V-^c:^^
Popo = Gesäß konnte es nicht herrühren, da diese Bezeic^^*
nung in der Familie St. niemals angewandt wurde. Ebenso y^^^^
es ausgeschlossen, daß hier ein inhaltleeres Lallwort vorl^,^'
da es allemal in auffällig dringendem, bittendem Tone mehre^'^'
mal hintereinander gesprochen ward. Ich war daher anfar»^^
geneigt, dasselbe als eine schlechte Aussprache des Wor€^^
„Papa** zu betrachten, doch mußte ich sehr bald von dies^^ i
Auffassung zurückkommen, da G. St. das Wort >,papa'' danebet»
Hmiptprohl^m^ dfir Mnäiick^n Sßr&chff^hpüHungM
295
btojaiichte und lautrichtig aussprach. So verging geraume
Bit, ohne daß wir uns über Ursprung und Bedeutung dieser
o^^itkombination Klarheit hätten verschaffen können. Als ani
5, Tag€ nach Feststellung der erstmaligen Anwendung (also am
3. Oktober 02} die Familie St. am Mittagstisch saß und unter
rxci-erem auch ein Gericht Kartoffeln aufgetragen v^nirde, schrie
r^^trude mit Hinweis auf das letztere : popo, popo ! Auf die Frage
ex- Mutter : Willst du Kartoffeln ? antwortete sie ; Ja, popo, popo 1
„Js** gebrauchte sie zu der Zeit sinnrichtig.) Hiermit war das
Lätsei gelöst* G, St. bediente sich der Laut Verbindung ,spopo** zur
li^eilung ihres Verlangens nach Kartoffeln, In lautlichem
leziehung qualifiziert sich dieselbe als eine durch SubstimtiDn
mci regressive Assimilation veränderte Nachahmung* (Den
-a.vit ,,k** sprach das Kind damals noch nicht. Albrecht Herzog
khtnte dieselbe Beieichnung durch „popcf*' nach.) Als ein
^sc^ziativ übertragenes Lall wort glaube ich dieselbe deshalb
rtidt auffassen zu können, weil einesteils die Lalllautverbindung
p,FM>po** nicht allzuhäufig auftritt (tonloses, „hartes" p verbunden
TBit 0), andemteils war die Anregung zur Nachahmung ja auch
durch den öfteren Gebrauch des Wortes >, Kartoffeln" seitens
der Eltern gegeben.
^B Was bis dahin von den Anregungen, welche von den Er-
(Bchsenen ausgehen, gesagt v^iirde, gilt auch von den sprach-
bildenden Einflüssen der Naturlaute. „Die Kinder greifen nicht
selten, ohne daß die mit ihnen verkehrenden Personen den
böSionderen Anlaß konstatieren können, beliebige Laute oder
Geräusche aufj ahmen sie mit ihren Mitteln nach und erheben
sie dann rur Bezeichnung für irgend ein Objekt ihrer Umgebung,
äuf welches der Laut bezogen wurde," (Metmiann IL, Seite 24.}
Daß tatsächlich die große Schwierigkeit, alle die die sprach-
liche Entwickelung des Kindes beeinflussenden Entwickelungs-
^^lie zu kontrollieren, und die daraus entspringende Ungenauig-
kcit der Beobachtungen die Hauptentstchungsursachc der in
^cr Literatur auftretenden Beispiele angeblicher Worterfin-
dungeti ist, wird mir durch folgende Erfahrung bestätigt. Als
ich Zwecks Sammlung des Materials zur Behandlung unseres
^soblems bei den Ehern der obengenannten Kinder vorsprach,
Wußte mir dieses und jenes Eltern paar von solchen ,,er-
^detien*' Wörtern seiner Kinder zu berichten. Die „Er*
iüTigen** verschwanden aber von dem Tage an, von welchem
206 Heinrich IMberger,
dieselben dieser Frage auf meine Veranlassung hin ihre Au:
merksamkeit zuwandten.
2. Der Schein einer Worterfindung wird gar häufig dadurc'
hervorgerufen, daß das Kind seine mehr oder weniger ve
stümmelten Nachahmungen auf ganz andere Dinge anwende
als dies von seiten der Erwachsenen zu geschehen pflegt. Die
kommt einesteils daher, daß es infolge seiner unvoUkonunenefl
Beobachtung nicht erkennt, auf welche Objekte der Erwachsen
seine Bezeichnungen richtet. Andemteils hat das seine^
Grund darin, daß es alles, was mit einem Worte durch Korr
tiguität oder Simultaneität assoziiert werden kann, in den Wor"
inhalt aufnimmt. Nun kann der Fall eintreten, daß die primär-*
richtige Wortverwendung so frühzeitig verschwindet und hint«
der sekundären Anwendung, der Anwendung auf solche durcrr ^
Kontiguität und Simultaneität verbundene Objektsvorstellungfe ^ ^
derart zurücktritt, daß sie von der Umgebimg nicht bemenT=-^
worden ist. Zum dritten kann die Ursache dieser Erscheinusrm. ^
darin liegen, daß sich bei den Benennungen des Kindes as^-^iD-
ziative Analogie geltend macht. Jedes unter normalen Ver-
hältnissen aufwachsende Kind hat vom ersten Aufdänunem d^^
Sprach Verständnisses an vielfältig bemerkt, daß die Erwachsen, ^n
Wörter zur Bezeichnung von Gegenständen und Vorgängen
verwenden. Wenn es dies später nachahmend auch tut tir^d
dabei seine Sprachprodukte auf andere als von den Erwachsenen
benannte Dinge anwendet,, so handelt es nur analog der Tätigkeit
derselben. Von Worterfindung im Sinne unsers Problems karm
in diesem Falle natürlich nicht die Rede sein.
3. Eine besonders mächtige Stütze aber erhält die Annahnr3.e
einer selbsttätigen Erzeugung gegenständlicher Bezeicl^
nungen durch den Umstand, daß die Erwachsenen irgend welche
reflektorisch oder affektionell vom Kinde ausgestoßenen Lau«^
oder Lautverbindungen auffangen, ihnen eine gegenständliche
Bedeutung unterschieben und dieselben auf diese Weise selb^
zu Objektsbezeichnungen erheben. Folgendes Beispiel mög
dies zeigen. Die Mutter steht mit ihrem kleinen Liebling ai
dem Arm am Fenster und läßt diesen hinaus auf die Straf
schauen. Da kommt eine Droschke angefahren. Das Kii
gewahrt dieselbe und gerät durch den Anblick des sich I
wegenden Gefährtes derartig in psychische Erregung, daß
ganz impulsiv irgend eine vielleicht bis dahin noch nicht '
Hauptprobleme der kindlichen Sprachentwicklung, 2Q7
endete Lautverbindung hervorstößt. Die wegen dieser Leistung
r'^s Lieblings ganz entzückte Mutter greift dieselbe auf und
tlxauptet nun, das Kind habe hiermit die Droschke oder das
F-^Td — oder auch beide zugleich — bezeichnet, also ein neues
'"•ort gebildet. Erscheint wieder ein solches Vehikel, so nennt
^ dasselbe mit jener Lautverbindung und weist ihr Kind xmter
oxsprechen derselben auf dieses hin. Auf diese Weise wird
^ betreffende Lautkombination allerdings bei oftmaliger
Wiederholung zur Gegenstandsbezeichnung. Hierzu ist erstens
L l)emerken, daß diese Lautverbindung bei ihrem erstmaligen
ia.£treten nicht etwa eine Benennung des Objektes sein sollte;
^x-« erste Anwendung ist rein emotioneller Art. Zweitens würde
^s Kind ohne die Helferdienste der Mutter dieselbe beim
>chmaligen Sehen des Gefährtes wahrscheinlich nicht hervor-
ringen ; wenn es geschähe, so wäre das wenigstens nur zufällig
ti-ci durch die Tatsache zu erklären, daß zeitweise gewisse Lall-
örter dominieren. Die Mutter, welche dieser emotionell ge-
ra.uchten Lautverbindung einen gegenständlichen Inhalt gibt
i:i.<i die fortgesetzte Anwendung in einem sich gleichbleibenden
iiruie ermöglicht, ist somit die eigentliche Schöpferin dieses
Vortes, nicht aber das Kind.
(Fortsetzung folgt.)
Zur Gesundheitspflege des Nervensystems.^
Von
Leo Hirschlaff.
Man hat das gegenwärtige Zeitalter nicht mit Unrecht a'
das Zeitalter der Nervosität bezeichnet.
Statistische Untersuchungen haben gelehrt, daß die Za
der Nerven- und Geisteskranken in stetigem Wachstum
griffen ist ; schwarzseherische Gemüter gefallen sich sogar :S^ i
der Weissagung einer unaufhaltsam fortschreitenden Er"^ n
artung des Menschengeschlechtes. Als Ursachen für diese EZ. :a
scheinung werden angeführt : die Zunahme der BevölkeruKr^M. ^
und die dadurch erschwerten Lebensbedingungen in wirtscha^ Et-
licher Beziehung, die gewaltige Ausdehnung des Verkehrs ujcä^cJ
ihre Folgewirkungen, die Entstehung der modernen GroßstädLtz«,
die immer steigenden Anforderungen der einzelnen BermJPs-
zweige in bezug auf körperliche und geistige Tüchtigkeit, <i.ie
verkehrte, teils verweichlichende, teils überanstrengende EIt-
Ziehung der Jugend u. s. f.
In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß alle diese sozial^^o
Faktoren geeignet sind, den Kampf ums Dasein zu erschweren
und die Entstehung von Nervenkrankheiten zu begünstigen.
Indessen wäre es verfehlt, hieraus den Schluß zu ziehen, da.ß
die mühsam errungenen Kulturfortschritte wieder aufgegeben
und die Lebensbedingungen der Menschen wieder vereinfad^^
werden müßten. Es wäre eine traurige Verkennung der &^"
scheinungen, wenn man glauben wollte, das geistige und si*^^*
liehe Niveau der Menschheit ließe sich nicht weiter erhöhe ^^
ohne daß die Nervenkraft der einzelnen und des Volkes Einbu-i3'
erlitte. Im Gegenteil: je höher die Fortschritte der Kultur, J
verbreiteter die geistige und sittliche Bildung der Mensch^-
desto eher sind die Bedingungen gegeben für die Erhaltu*
und Förderung der Nervengesundheit.
Allerdings legt der Fortschritt der Zivilisation dem ^■
zelnen Aufgaben und Pflichten in hygienischer Beziehung a-'
**) Dieser Aufsatz erscheint gleichzeitig separatim im Vorlage «^
Wirts*», Berlin SW., Lindenstr. 69.
Zur Gesundheitspflege des Nervensystems. 299
früher nicht oder wenigstens nicht allgemein bekannt und
-htet waren. Je mehr deshalb gerade die Allgemeinheit an
Errungenschaften der modernen Kultur teilzunehmen be-
it, um so mehr übernimmt sie auch die Verpflichtung, sich
:\ibereiten und zu stählen für diese Mitarbeit an den Fort-
ritten und Zielen der Menschheitsentwicklung.
Die Gesundheitspflege des Nervensystems ist eine unerläß-
e Vorbedingung für das erfolgreiche Streben nach den
demen Lebenszielen: neben den sozialen Bedingungen
Lebens müssen die Grundsätze der persönlichen Ge-
idheitspflege heute mehr denn je von jedermann beachtet
3 befolgt werden. Den gesteigerten Aufgaben und Hoff-
igen des Lebens muß eine gesteigerte Pflege der persön-
len Leistungsfähigkeit gegenüberstehen.
Wir wollen im folgenden die Gesichtspunkte besprechen,
I für die persönliche Gesundheitspflege des Nervensystems
uptsächlich in Betracht kommen; die rein sozialen Faktoren,
ren Bedeutung in der gleichen Hinsicht nicht leicht unter-
lätzt werden kann, sollen aus Mangel an Raum an dieser
iUe unerörtert bleiben. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit
terscheiden wir unter den Einflüssen, die unser Nerven-
»tem treffen können, diejenigen Einflüsse, welche das Nerven-
dem selbst angreifen und verändern, von denjenigen, welche
f seine Tätigkeit, seine Funktion beeinträchtigen ; wir nennen
ersteren organische, die letzteren funktionelle Einflüsse.
fade ebenso unterscheiden wir ja die organischen Nerven-
nkheiten, wie die Rückenmarkschwindsucht und die Gehirn-
'^eichung, von den funktionellen Nervenkrankheiten, die sich
Nervenschwäche, Hysterie, Hypochondrie etc. in mannig-
hen Formen äußern.
Als einer der wichtigsten organischen Einflüsse auf unser
fVensystem gilt die Macht der Vererbung. Wissenschaft
l Kunst haben lange Zeit gewetteifert, die Rolle der Ver-
Uxig bei der Entstehung von Nervenkrankheiten in möglichst
Sser Weise zu schildern. Das Schreckgespenst der Ver-
Ung ist dadurch auch im großen Publikum allseitig bekannt
l gefürchtet geworden. Indessen, es läßt sich leicht nach-
ten, daß man in der Furcht vor der Vererbung häufig zu
t gegangen ist. Auf der Grundlage der Darwinschen
^oricen, in deren Beurteilung die moderne Wissenschaft
300 ^o Hirschlaff.
\
auch in manchen anderen Punkten von der ursprüngliche^ "^
kritiklosen Begeisterung zurückgekommen ist, hat sich (L^^
Meinung verbreitet, als sei die Vererbimg der Krankheite:^ÄV,
besonders der Nerven- und Geisteskrankheiten, ein unentrinrnrna-
bares Verhängnis, dem gegenüber jeder Kampf aussichtslc=^MS
sei. In Wirklichkeit wissen wir jedoch, daß die Natur in d^ _er
Mehrzahl der Fälle die Schädigimgen, an denen die Vorf ahr^^ en
zugrunde gingen, bei den Nachkommen auszugleichen verstehzÄlit,
Es ist erwiesen, daß eine direkte Vererbung von Nervenkran^Kruk-
heiten nur in sehr geringem Umfange stattfindet. IdiotE^nie,
Epilepsie, Hysterie, Migräne zählen vielleicht zu den wenig* '^en
Nervenkrankheiten, bei denen die erbliche Belastung eb Jiie
gewisse Rolle spielt. Gerade die meistgefürchteten organisch^^^en
Nerven- und Geisteskrankheiten aber, wie die Rückenmair:^rk-
schwindsucht, die Gehirnerweichung etc., lassen einen solch^^en
Einfluß nicht in bemerkenswertem Maße erkennen. Auch ^^«iie
einfache Nervenschwäche, Neurasthenie, ist gewiß nicht dui rch
Veredlung von den Eltern auf die Kinder direkt übertragb ar.
Nimmt man als erwiesen an, was kaum zu bezweifeln ist, ds — aß
die Nervenschwäche durch ungünstige Existenzbedingung^^^,
unvernünftige Lebensweise und Erziehung, Vernachlässigt»- ng
der persönlichen Gesundheitspflege etc. erworben werden ka^^nn,
so muß man zugeben, daß diese Schädigfimgen auch bei ^■en
Nachkommen einwirken imd auch bei ihnen die gleichen F o^
gen werden hervorrufen können. Es vererbt sich nach die -^ser
Auffassung nicht die Krankheit als solche, sondern die sch-^^^*
liehen Gewohnheiten etc., die die Krankheit auch bei den V' er-
fahren erzeugt haben; und es steht in der Macht der Na. -^*^'
kommen, dagegen anzukämpfen und den vermeintlichen h — ^"^'
fluß der Vererbung unschädlich zu machen. Die Tatsac ^^>
daß eine bestimmte Krankheit in mehreren Generationen <^Ä^^"
selben Familie vorgekommen ist, berechtigt denmach nicht ^
dem Schlüsse, daß sie von der vorangehenden auf die folger^ ^"^
Generation erblich übertragen sei. Durch genaue Un*^*^'"'
suchungen ist sogar neuerdings festgestellt worden, daß s^ ^^
eine erbliche Belastung speziell bei Nerven- und Geis"^^"
kranken nicht in merklich höherem Grade findet, als bei v<>1^^S
Gesunden, deren Nervensystem zeitlebens normal bleibt. XI?/^
übertriebene Furcht vor der Vererbung sollte daher bekäirijpA
werden. Sie verleitet in vielen Fällen die davon Betroffenen,
i
Zur Gesundheitspflege des Nervensystems, 301
die X-Iände in den Schoß zu legen anstatt den Geboten der Ge-
suTxdlieitspflege zu folgen und sieh für den Kampf ums Dasein
zu ^wappnen.
Diese Auffassung erleidet nur in wenigen Fällen eine Aus-
nalirxie: und zwar in denjenigen Fällen, in denen das Nerven-
systiem der Eltern durdh Syphilis, durch Alkohol oder
älxxxliche Gifte ruiniert worden ist. Diese Schädigungen über-
trag-en sich tatsächlich vielfach auf die Kinder, wenn auch
niclit in der Weise, daß das kindliche Nervensystem genau
dieselben Krankheitserscheinungen zeigt wie das der Eltern.
Al>er eine Schädigung in der Anlage und Entwicklung des
Keimes läßt sich hier mit Bestimmtheit nachweisen. Es kommt
iirfolge dieser Gifte zu einer Entartung des Keimes und zu einer
da-xiemden Verändenmg des kindlichen Nervensystems, auf
deren Grundlage sich die schwersten Krankheitsformen ent-
w'iclceln. Um so mehr Ursache haben wir, vor den Gefahren, mit
denen diese Gifte unser Nervensystem bedrohen, eindringlichst
2^ ^^-arnen.
In erster Reihe gilt dies für den Alkohol, den man
^^J^vun nur zu treffend als den Erbfeind des Menschengeschlech-
tes l>ezeichnet hat. Jeder Mißbrauch alkoholischer Getränke —
^^^^ hierzu zählen jede Art von Schnaps, Wein und Bier — be-
^^'^tet ein Attentat auf unser Nervensystem ; und eine häufigere
^Wiederholung solcher Mißbräuche führt, von anderen Schädi-
^^^-^^^gen abgesehen, zu dem unausbleiblichen Ruin unseres
^^Kenen Nervensystems und desjenigen unserer Nachkommen.
^^3 ist eine imumstößliche Tatsache; und es ist eine überaus
^^Xirige Erscheinung, daß trotz dieser wissenschaftlichen Er-
*^eixntnis der Mißbrauch geistiger Getränke noch immer zu den
Selxeiligten Einrichtungen unseres Volkslebens zu gehören
^^Ixeint. Was haben wir hierbei unter Mißbrauch zu verstehen ?
^ xxschädlich für erwachsene Gesunde ist nach den exakten
"^ ^3tstellimgen der neuesten Zeit der einmalige Genuß kleiner
jcViantitäten alkoholischer Getränke, wie z. B. eines halben Liter
"*^i«Tcs, eines Viertelliter Weines, eines kleinen Gläschen fusel-
^^ien Schnapses; vorausgesetzt, daß dieser Genuß nicht zur
^^Slichen Gewohnheit wird. Relativ unschädlich für er-
^^chsene Gesunde ist femer der einmalige Genuß einer etwa
^^^ifachen Menge der genannten Quantitäten bei besonderen
^^Icgenheiten; vorausgesetzt, daß nach solchen Gelagen eine
,02 "^ Hirscklaff.
völlige Enthaltsamkeit von 4 — 8 Tagen die hervorgerufea^^^c^
Schädigungen wieder ausgleicht. Unbedingt schädlicJ^*
auch für schwer arbeitende, kräftige, gesunde Männer, ist (^"^^
regelmäßige, tägliche Gewohnheit, sogar kleinste Mengen alle ^^
holischer Getränke zu sich zu nehmen ; femer auch jedes eL:^ri
malige Überschreiten der angegebenen Höchstdosis, selbst wer
es in längeren Zwischenräumen geschieht. V o n verderblicl
stem Einflüsse und daher völlig zu verwerfen ist endlic — :
selbst die kleinste Menge alkoholhaltiger Getränke für jede A_ -ä
von Nervenschwachen oder Nervenkranken, ebenso wie f tSLj
schwangere und stillende Frauen und besonders für Kind^^- -
Wie häufig wird gegen diese Gebote gesündigt I Wie unheilv-^ir^
zeigt sich die Wirkung des Mißbrauches, der sooft unbewußt itx^
gedankenlos von den Menschen in dieser Beziehung getriet>^j
wird! Scheint es doch, als wenn dieser Mißbrauch in unser ^xti
Volksleben so tief Wurzel geschlagen hätte, daß wir uns d^^^.
selbe ohne ihn kaum vorzustellen vermögen. Herrscht docrj
in weiten Kreisen sogar noch der Aberglaube, daß der AlkoHc/
sogar nützliche Eigenschaften habe, daß er die Verdauung;
die Ernährung fördere, die Wärmebildung steigere, die Blur-
bildung anrege, die körperliche und geistige Arbeitsfähigkeit
erhöhe! In Wahrheit ist das gerade Gegenteil der Fall. Ab-
gesehen von der ärztlichen Verordnung alkoholischer Flüssig-
keiten, die sich in einer verschwindenden Minderzahl von Fällen
als nützlich erweist, besitzt der Alkohol keine einzige der ge-
rühmten Eigenschaften. Er hemmt die Verdauung und Er-
nährung, besonders bei regelmäßigem Alkoholgenusse. Das
durch ihn hervorgerufene Gefühl der Wärme und der erhöhten
Leistungsfähigkeit ist nichts als eine vorübergehende Selbst-
täuschung, welche die Einsicht in die wahren Kräfte des Or-
ganismus zu schädigen geeignet ist; und die Blutbildung ha^
mit dem vielgepriesenen Rotwein gerade so viel zu tun, wi'
etwa mit dem Kartenspiel oder dem Erlernen der chinesische
Sprache. Alle diese Tatsachen sind längst auf dem Wege d
Experimentes unbestreitbar festgestellt. Auf der anderen Sc
steht es ebenso unumstößlich fest, das der Mißbrauch alkoh
scher Getränke die schwersten Nerven- und Geisteskrankbe
erzeugt, wie z. B. das Delirium tremens, Nervenentzündiü
und Nervenlähmungen, Epilepsie, Schwachsinn, organisch
himkrankheiten u. s. f. Ebenso sicher ist es, daß das Fan
Zur Gesundheitspflege des Nervensystems, 303
^en und die wirtschaftliche Lage der Trinker durch den
kohol zerrüttet wird, sowie daß die Mehrzahl aller Verbrechen
m Einflüsse des Alkohols zu danken ist. Dazu kommt, daß
B diese Wirkungen sich nicht auf die Person des Trinkers
schränken, sondern auch seine Nachkommenschaft treffen
d den Fluch der Vererbung und Entartung auf die Kinder
d Kindeskinder heraufbeschwören. Wann wird diesem Un-
Ll endgültig gesteuert werden? Wann wird es gelingen, die
sichgültigkeit des großen Publikums gegenüber der Alkohol-
f^e zu erschüttern?
Neben dem Alkohol ist es die Syphilis, die in zweiter
ihe genannt werden muß, wenn es gilt, die Schrecken der
inschheit und die Zerstörer des Nervensystems aufzuzählen,
id es doch gerade die schwersten organischen Nervenleiden
d Geisteskrankheiten, die durch die Syphilis hervorgerufen
rden. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen worden, daß die
ickenmarkschwindsucht und die Gehirnerweichung in fast
»tlichen Fällen auf vorausgegangene Syphilis zurückzuführen
.d ; und zwar insbesondere bei denjenigen syphilitisdh erkrank-
1 Personen, die entweder gar keine oder nur eine ungenügende
Handlung ihres Geschlechtsleidens durchgemacht haben. Wer
weiß, welch unsägliches Unheil eine solche Erkrankung
F die gesamte Familie des Erkrankten heraufbeschwört, wie
i Patienten in der Blüte der Jahre dahingerafft werden,
mdem Siechtum verfallen oder der Irrenanstalt zugeführt
rden müssen, der wird die Bedeutung dieses Faktors nicht
unterschätzen geneigt sein. Dazu kommt, daß auch hier
i Nachkommen, ja sogar häufig auch die Frauen durch die
philitische Erkrankung des Mannes angesteckt und in der
-ichen Weise gefährdet werden. Ein großer Teil aller Fehl-
burten, die Mehrzahl der Fälle von Unfruchtbarkeit in der
^, ein erheblicher Prozentsatz der idiotischen und blöd-
migen Kinder sind auf die Syphilis der Eltern zurückzu-
iren. Es ist daher außerordentlich berechtigt, daß man in
uester Zeit begonnen hat, auch gegen diese Geißel der
'Hschheit den öffentlichen Kampf aufzunehmen. Die Quelle
^ syphilitischen Ansteckung ist in den meisten Fällen der
ierehehche Geschlechtsverkehr, wie er durch die öffentliche
-r geheime Prostitution ermöglicht wird. Denn trotz aller
etlichen Kontrolle sind unter den öffentlichen sowohl wie
304 Leo Hirschlaff.
unter den geheimen Prostituierten die Geschlechtskrankheiten
dermaßen verbreitet, daß völlig gesunde Prostituierte zu den
allerseltensten Ausnahmen gehören. Es wäre demnach er-
wünscht, daß jeder außereheliche Geschlechtsverkehr wegen
der allzu großen Gefahr der Ansteckung aus Gesundheitsrück-
sichten unterbliebe; denn die geschlechtliche Enthalt-
samkeit bringt keinerlei Schaden an Leib und
Seele hervor, wie vielfach angenommen wird. Da indessen
hierzu, so wie die Verhältnisse liegen, zunächst keine Aussicht
besteht, müssen wir uns notgedrungen nach anderen Maß-
nahmen umsehen, um der Gefahr der geschlechtlichen An-
steckung zu begegnen. Nach meiner Überzeugung gibt es ru
diesem Zwecke nur ein brauchbares Mittel: die Benutzung
zweckmäßig konstruierter Praeservatifs von Seiten der Männer
in jedem Falle außerehelichen Geschlechtsverkehres. Es ist
daher notwendig, zumal die jungen Leute darauf aufmerksam
zu machen: i) daß sie in der genannten Schutzmaßregelein
zuverlässiges Mittel besitzen, um geschlechtlichen Ansteckungen
zu entgehen; 2) daß sie im Falle einer geschlechtlichen An-
steckung imter keinen Umständen dem weiteren Geschlechts-
verkehr huldigen dürfen, bevor ihre Erkrankung nicht laut
ärztlichem Ausspruch geheilt und nicht mehr übertragungs-
fähig ist. Denn wer das Unglück gehabt hat, sich geschlecht-
lich anzustecken, soll nicht in der Verborgenheit darüber
trauern und durch Quacksalbereien seinen Organismus rui-
nieren, sondern er soll einen Arzt aufsuchen und durch gewissen-
hafte Befolgung der ärztlichen Anordnungen seine Gesui^^'
heit wiederherstellen lassen. Wenn man mit einer solche^
offenen, wissenschaftlich begründeten Darstellung an das P^'
blikum herantritt, dürften die Erfolge bessere sein, als wex^
man sich auf fromme oder moralische Wünsche beschränk^»
die noch wenigen Menschen Nutzen gebracht haben. Es g^^
nicht länger an, die Angelegenheiten des Geschlechtslebens
zu verheimlichen und mit dem Makel des Unanständigen ux*
Unmoralischen zu behaften. Solange jeder Mensch mit eii^^
natürlichen Geschlechtsanlage versehen auf die Welt kona^^
und solange die heutigen sozialen Verhältnisse und gesellsch^^*
liehen Einrichtungen einer großen Zahl von geschlechtsreif^^
Männern und Frauen die rechtzeitige Eheschließung ^^'
schweren, haben wir mit dem außerehelichen Geschlechtsv^' ,
Zur Gesu^dkeiis^pß^gt ih% NerventYstenis,
305
mit einer Tatsache 7x\ rechnen, die durch schöne
cht aus der Welt geschafft wird.
le Schädigungen des Nervensystems durch das G^-
chtsleben sind mit der Syphilis nicht erschöpft* Neben
r schweren Erkrankung, die indes durch sorgfältige ärzt-
Behandlung fast ausnahmslos in längerer oder kürzerer
geheilt werden kann, ist es vornehmlich der Tripper,
geeignet ist, die Entstehung nervöser Erkrankungen xu be-
igen. Wenn auch das IVippergift nicht direkt wie das
ihsgift am Nervensystem haftet, so entstehen doch da-
I namentlich bei Frauen eine grosse Reihe von Organ-
Enkungen des Unterleibes, die eine dauernde Quelle von
Ziagen, Schmerzen und anderweitigen körperlichen und
chen Beeinträchtigungen darstellen. Ein grosser Teil aller
ichen Unterleibserkrankungen, die so außerordentlich ver-
St und hartnäckig sind, ist auf die (j bertragung des Trippers
Manne auf die Frau zurückzuführen. Daß aber die Unter-
crankheiten der Frauen mit allen ihren Beschwerden und
inehmlichkeiten eine der häufigsten Ursachen von
Chondrischen Verstimm jngen und nerv^ösen Zuständen
>An sind, dürfte hinlänglich bekannt sein. Daher gelten
für die Verhütung dieser, viel au wenig beachteten Gefahr
ben als Schutz gegen die Syphilis geschilderten Gesichts
Endlich muß noch eines Umstandes gedacht werden, der
Jeiten des Geschlechtslebens aus zu einer Schädigung des
pnsystems führen kann^ ich meine die übermäßige
riedigung des Geschlechtstriebes, die freilich,
t genommen, erst unter den sogenannten funktionellen
ligungen des Nervensystems ihre Besprechung finden
. Wenn auch von den Gefahren, die nach dieser Richtung
Gestehen, im Volke vielfach übertriebene Vorstellungen
chen, so mulA doch daran festgehalten werden, daß die
I häufige Ausübung des Geschlechtsgenusses ebenso wie
vorzeitige Befriedigung unter allen Umständen schädlich
Die Gefahren der leider so sehr verbreiteten Onanie
ICinder und jungen Leute bestehen einmal in der
löpfung der wertvollsten Kräfte des Organismus zu einer
Wo er derselben am dringendsten bedarf, nämlich 2ur Zeit
ginnenden körperlichen und seelischen Reife,- als Folge
ilScHrifl fßr j*iiliffogi«h* P$ycho1ogi«'» Pilhölogic und Hygiene. 5
306 ^ö Hirschlaß.
davon beobachten wir nicht sehen noch beim Erwachsenen
nervöse Schwächezustände, vor allem aber ein vorzeitiges Er-
löschen der Zeugungsfähigkeit mit allen seinen sozialen und
hygienischen Folgeerscheinungen. Sodann ist als häufige Folge
des Onanierens eine seelische Schädigung zu bemerken, die
sich in Form von Schüchternheit, Menschenscheu, kleinmütiger
Selbstverzweiflung und Selbstpeinigung äußert. Um irrtüm-
lichen Verallgemeinerungen vorzubeugen, füge ich sogleich
hinzu, daß diese Schädigungen nur in den Fällen häufigen
und lange Zeit fortgesetzten Onanierens zustande kommen,
meist auch nur bei Personen, deren Nervensystem schon durcb
anderweitige Einflüsse geschwächt ist. Aber auch beim Eic-
wachsenen spielt das Übermaß der geschlechtlichen BefrieA^'
gimg eine gewisse Rolle in der Entstehungsgeschichte nc^*'
vöser Erschöpfungszustände aller Art ; insbeSsbndere, wenn ^ ^
der Häufigkeit der Geschlechtsbefriedigxmg sich eine me^2^
oder minder krankhafte Art ihrer Ausführung hinzugesel^^^-
Hier ist es nicht nur der Säfteverlust, der schädlich auf de^^^
Organismus einwirkt, sondern vor allem die krankhafte ui«=^^
übertriebene Aufregung, die der in irgend einer Richtung ve=-^^*
kehrte Geschlechtsgenuß unweigerlich mit sich bringt, und d — ^^
unfehlbar der nervösen Zerrüttung Vorschub leistet. Schcs=^°
die vielfach aus Furcht vor der Kindererzeugung übliche vo^^r*
zeitige Unterbrechung der Geschlechtsbefriedigung rechnet ^^u
diesen Schädigungen; sie könnte ebenfalls durch die Anwe==:=^'
düng der oben empfohlenen Schutzmaßregel aus der Welt g ^*
schafft werden.
Unter den weiteren organischen Ursachen für die Ei^*^'
stehung von Nervenleiden muß nunmehr der Unfälle g' ^'
dacht werden. In der heutigen Zeit des stark entwickelt^^^
Verkehrs und der treibhausmäßig sich entfaltenden Gro^^^
industrie mit ihrem beschleunigten Arbeitstempo, in einer Ze^^^»
in der die Maschinen immer komplizierter werden und einc^^°
immer größeren Teil der menschlichen Arbeit ersetzen, sin^- ^
auch die Unfallerkrankungen innerhalb der Berufstätigkc:= ^^
immer häufiger geworden. Speziell das Nervensystem wir'
bei Unfällen häufig in Mitleidenschaft gezogen, sei es durc:=^
direkte Gewalteinwirkung auf den Kopf oder Rücken, sei ^^
durch die allgemeine Erschütterung des gesamten Körper^/
sei es endlich indirekt durch die nervösen Folgezustände andef'
\
\
lur ü^sundheitispßige da Ntrv^m^iietm.
307
weniger Verletzungen, die erst später ihren Einfluß auf das
Nerxensystem geltend machen. Zur Verhütung dieser Unfall-
erkrankungen sind in erster Linie gewisse Schutzmaßregcln
berufen, wie sie in jedem Fabrikbetriebe je nach der Lage der
diirc>i ihn bedingten Schädigungen gesetzlich vorzusclireiben
Sind ; 2, B. Schutzgitter, Respiratoren und Schutzbrillen, Be-
schaffenheit der Arbeitskleidung und Arbeitsräume, Ven-
nla.tions- -und Badeeinrichtungen und dergleichen mehr. Leider
vei-ii^rren zuweilen die Angestellten gegenüber diesen Schutzein*
ncrhtungen in einer beklagenswerten Gleichgültigkeit, die schon
^ie^l Unheil verschuldet hat; auch der Alkohol spielt hierbei
t\Tx^ Rolle j wie die gehäufte Zahl der Unfälle am Montag be-
^'^ist. Die Unfallgesetzgebung des Deutschen Reiches hat hier
"^^.nches gute gestiftet, dadurch daß sie den Arbeitgeber ver-
^^laßt, die L^nfallverhütung in seinem Betriebe mehr als zuvor
^'^ -zustreben, sowie dadurch, daß sie dem verletzten Arbeiter
^iJXea Rechtsanspruch sichert, der ihn wenigstens einigermaßen
f*iT- die erlittene Einbuße an Gesundheit und Erwerbsfähigkeit
ci^trschädigt. Andererseits freilich darf auch nicht verschwiegen
^"^-Tden, daß diese Unfallgesetzgebung nach ärztlichen Erfahr-
ui^^en auch ihrerseits wiederum in nicht ganz seltenen Fällen
V'^CManlassung t\x nervösen Schädigungen der Arbeiter geworden
»si:- Wenigstens erleben wir es mitunter, daß anscheinend nur
laicht Verletzte, bei denen der Unfall keine ärztlich nachweis-
V^.Te oder nur geringfügige Folgen hinterlassen hat, sich mehr
^Tid mehr in die Vorstellung einleben, daß ihre Gesundheit
d^rch den Unfall dauernden Schaden genommen habe und daß
sicli aus dieser Vorstellung heraus in Verbindung mit den wieder-
holten ärztlichen Untersuchungen, Attesten, Verhandlungen und
'Zurückweisungen vor Gericht ein krankhaft nervöser Seelen-
^ Island entwickelt. Es konunt in solchen Fällen zu einer tiefen
^^«emden Verstimmung, zu völliger Verzagtheit und Verzweif-
mng^ selbst bis zum Lebensüberdruß, mit anderen Worten zu
^iner krankhaften Gemütsverfassung, die nicht sowohl durch den
Unfall selbst als vielmehr durch den Kampf um die Unfall-
^^nte erzeugt worden ist. Daher muß vor aussichtslosen und
^ürch die Lage der Sache nicht genügend gerechtfertigten
^chriuen inbezug auf die Erlangung einer Unfallrente im eige-
^^^ Interesse der Kranken gewarnt werden: nur die im 2u-
e mit dem erlittenen Unfälle ärztlich nachweis-
308 ^^ Hinchlaff.
baren Schädigungen können von der Unfallgesetzgebung be-
rücksichtigt werden.
Zu den organischen Einflüssen, die unter Umständen ge-
eignet sind, das Nervensystem zu schädigen, gehört auch eine
unzweckmäßige Ernährung. Obwohl die Wissenschaft
längst gelehrt hat, daß eine zweckmäßige Ernährung in be-
stimmten Verhältnissen aus Eiweiß, Fett, Kohlehydraten (Mehl-
stoffen), Salzen und Wasser zusammengesetzt sein muß, wird
doch häufig gegen diese Regel gefehlt, sei es aus Unkenntnis,
sei es aus Not oder aus Fanatismus. So ist z. B. eine Kost,
die zu wenig Eiweißstoffe enthält, in den meisten Fällen un-
genügend für Personen, die körperlich oder geistig schwer ru
arbeiten haben. Es folgt daraus eine mangelhafte Ernährung
und Blutbildung des Körpers, die auch das Nervensystem
schwächt imd in seinen Leistungen hemmt. Nicht viel seltener
ist allerdings, unter Vernachlässigung der übrigen Nahrungs-
bestandteile, eine übermäßige Zufuhr von Eiweißstoffen, deren
Schädlichkeit für das Nervensystem um so größer ist, als da-
mit zugleich auch die Salze, speziell die Fleischsalze und die
Gewürze in zu großer Menge zugeführt werden. Diese aber
bewirken eine Überreizung des Nervensystems, die sich auf
die Dauer als verderblich erweist, besonders bei einem an und
für sich schon in erhöhtem Maße reizbaren Nervensystem.
Es muß daher darauf hingewiesen werden, daß das Fleisch
und die daraus bereiteten Speisen weder die einzige, noch
auch nur die Hauptnahrung eines gesunden Menschen bilden
dürfen. Eiweißzufuhr beim gesunden Erwachsenen ist nur so-
weit erforderlich, als ein Verbrauch an Zellmaterial im Körper
durch die geleistete Arbeit stattgefunden hat ; auch kann ein
Teil des Eiweißbedarfes durch Eier und pflanzliches Eiweiß
gedeckt werden. Die eigentlichen Nahrungsstoffe im engeren
Sinne sind vielmehr die Fette (Butter, fette Käse, Milch, Speck,
öl etc.), die zum Teil direkt dem Ansätze dienen, und die
Kohlehydrate (Brot, Gemüse, Kartoffeln, Mehlspeisen, Zucker,
Obst etc.), die in der Hauptsache den Kraftbedarf des Körpers
decken. Reizmittel, wie Pfeffer, Senf, Gewürze, geräucherte,
saure und stark gesalzene Speisen sollten stets nur in geringen
Mengen genossen werden; ebenso alle aus vielen Bestandteilen
zusammengesetzten Gerichte.
Von besonderer Bedeutung ist die Wahl einer geeignett^
Ar üemnäketapßegt 4es Xervmsysiem$,
309
Imährung für die Gesundheit der heranwachsenden Genera-
Schon die Säuglingsernährung ist von hervorragender
ichtigkeit für die Nervengesundheit des in der Entwickelung
begriffenen Organismus, insofern die Muttermilch die einzige
Tiatürliche Nahrung für jeden SäugUng bildet und jeder wie
itmner geartete Ersatz dafür stets unvollkommen bleibt. So
unterscheidet sich schon das Brustkind von dem Päppelkind
nicht nur in seinem Ernährungszustande, sondern auch in seiner
Nervengesundheit, seiner Widerstandskraft gegen äußere Ein-
flüsse, seinem ruhigeren V'erhalten und Schlaf u. s. w. Auch
K\r die späteren Lebensjahre der Kinder gilt der Satz, daß die
ahrung möglichst frei von Reizstoffen sein solle, in erhöhtem
aße: Fleisch und Räucherware sind zu beschränken, Gewiiae,
Kaffee, 1 ee^ vor allem aber Alkohol völlig zu meiden. Milch,
Eier, Butter, Gemüse, Mehlspeisen, Obst sollen in jedem Falle
den Grundstock der kindlichen Ernährung bilden.
An letzter Stelle muß noch einiger Gifte gedacht werden,
die unter Umständen eine organische Schädigung des Nerven-
sysienns herbeiführen können. Um mit den mildesten anzu*
fa.ng^en r Kaffee, Tee und Tabak sind dem Nervensystem
'l^s Erwachsenen nur dann schädlich, wenn sie im Übermalie
genossen werden. Von den Giften, die in einreinen Berufs-
arte» auf die darin beschäftigten Arbeiter einwirken, sind zu
ffc^nnen : Blei, Phosphor, S c h w e f e 1 k o h ] e n s t o f f »
^fsen, Quecksilber, Nicotin, Leuchtgas und seine
Verbrennungsprodukte, Kohlenoxyd, Kohlensäure und
f^^ige andere. Alle diese Gifte schädigen das Nervensystem
*** nriehr oder minder hohem Maße, falls nicht von den Arbeitern
diejenigen Schutzmaßregeln angewandt werden, die mr Ver-
nütung der betreffenden Vergiftungen dienen. Hierher gehört
^'^r allem häufiges Baden, Waschen der Hände vor jedem
^^sen, Wechsel der Kleidung nach der Arbeit, überhaupt mög-
lichste Reinlichkeit des ganzen Körpers; bei giftigen Gasen
«a^Uptsächhch Ventilationseinrichtungen uld Respiratoren, die
^^^ giftigen Ausdünstungen von den Lungen fernhalten und
^t* Schädlich machen.
Außer diesen gewerblichen Giften sind es aber noch eine
R'^ihe anderer Gifte, deren verderblicher Einfluß auf das Ner-
^cnsy^iem feststeht: ich meine die arzneilichen Gifte.
^ ist leider im V'olke Sitte geworden, mit den Arzneien Miß
310 ^« Hirschiaff.
brauch zu treiben. Ein Heilmittel, das einem Patienten gegen
eine bestimmte Krankheitsersdheinung einmal vom Arzte ver-
ordnet worden ist, wird häufig nicht nur von demselben Patien-
ten auf eigne Faust unter Umgehung des Arztes immer
und immer wieder genommen, sondern auch allen Bekannten,
xmd Fremden weiter empfohlen. Hierher gehören namentlich
diejenigen Mittel, die gegen Kopfschmerzen imd andere
Schmerzen vielfach empfohlen worden sind, wie z. B. Ant ä-
pyrin, Antifebrin, Phenacetin, Aspirin, Antinervin und imzähligC'^
andere, sowie die Schlaf- imd Beruhigungsmittel, wie Bronrm,
Chloralhydrat, Sulfonal, Trional, Morphium, Opitun etc., vc^^n
den zahllosen Geheinunitteln aller Art ganz abgesehen. Durc=: "i
die Gewissenlosigkeit mancher Apotheker und Drogisten v^sX
es ja leider jedem Patienten möglich, sich alle diese gtstXä\czJ2i
nicht freigegebenen Mittel auch ohne ärztliche Verordnun ^
zu verschaffen. Und die Anregung dazu bieten außer de:= ^
wohlgemeinten Ratschlägen der lieben Bekannten die zalfc^ J-
reichen Reklame-Inserate, -Notizen und -Aufsätze über alle de :^*
artige Präparate, von denen die modernen Tageszeitimgen zxr^-
gefüllt sind. Über den Umfang dieses Mißbrauches ist hml»
sich vielfach im Unklaren ; über seine Schädlichkeit kann eii^
Zweifel nicht obwalten.
Bevor wir zu dem zweiten Teile unserer Erörtenmgen über-
gehen, möchte ich noch kurz einer Ursache gedenken, die niAt
allzu selten eine organische Schädigung des menschlichen Ner-
vensystems verschuldet: ich meine die Hundefinne (Echino-
coccus). Es ist im Volke wenig bekannt, daß jeder Hund ohne
Ausnahme zahlreiche Bandwürmer besitzt, deren Eier durch
Lecken des Hundes an den Menschen oder an Möbeln, Ge-
schirren u. dergl. abgelagert und so unter Umständen dem
Magen des Menschen zugeführt werden können. Daraus ent-
stehen schwere Erkrankungen aller Organe, nicht selten auch
Geschwülste im Gehirn, gegen die es eine Hilfe meist nicht
gibt. Ein Hund im Haushalt bildet daher eine stete Gefahr
für sämtliche Familienmitglieder, besonders aber für die
Kinder, deren Reinlichkeitssinn noch weniger ausgeprägt ^u
sein pflegt als der der Erwachsenen.
Wir kommen nunmehr zu der Besprechung der sogenann-
ten fimktionellen Einwirkungen, die sich im Gegensatze zu den
organischen Schädigungen nur auf die Tätigkeit oder Funktion
\
Zmr GesunJA^rffßßg^e ti^s Ntr^^nsviUrMS^
311
eBsystems beliehen. Hier müssen wir uns zunächst
klar werden^ daß unser ganzes Leben aus den Tätig-
iten unserer einzelnen Organe besteht. Alle noch so kom-
Tten Handlungen, die wir ausführen, welchem Zwecke sie
immer gewidmet sein mögen, setzen sich zusammen :
s den Tätigkeiten des Geistes, der Sinnesorgane und der
rmuskulatur, 2) aus den Verrichtungen der Eingeweide-
e, der Lungen, des Herzens, der Därme, Nieren u. s, f.
diesen Funktionen steht nur ein Teil, nämlich die Tätig-
des Geistes, der Sinnesorgane und der Körpermuskuiatur,
dem direkten Einflüsse unseres Willens. Die übrigen
e können nur indirekt durch unseren Willen beeinflußt
Eden: sie unterstehen einer automatischen Regelung, die im
meinen richtig funktioniert, wenn die vom Willen abhängi-
Organe ihre hygienischen Pflichten erfüllen. Wir werden
daher im folgenden hauptsächlich mit den Tätigkeiten
Geistes, der Sinnesorgane und der Körper*
kulatur zu beschäftigen haben.
Für diese Organe gilt folgendes wichtige Grundgesetz:
rätigkeit dieser Organe ist gesund, solange sie der äugen-
dichen Leistungsfähigkeit des Organismus entspricht; un-
ndj sobald sie diese übersteigt oder dauernd unter ihr
kbleibt. Daraus folgt, daß Labung für jedes Organ
zlich und notwendig ist, daß aber jede Ü heran -
ngung ebenso schädlich ist, wie die dauernde
ätigkeit eines Organes. Eine Überanstrengung
ist jedesmal gegeben, wenn die Leistung, die von einem
beansprucht wrd, über seine augenblickliche normale
ungsfähigkeit hinausgeht; d, h. nicht nur, wenn die Tätig-
an sich zu groß ist, sondern auch, wenn sie an sich gering*
, aber für den ungeübten, momentan geschwächten, er-
*ren oder erschöpften Organismus trotzdem noch xu groß
Mit anderen Worten: jede Tätigkeit, mag sie dem Ver
oder der Arbeit gewidmet sein, kann zur schädlichen
anstrengung werden, wenn die Leistungsfähigkeit des Or-
loius momentan herabgesetzt ist, wie 2. B. im Zustande
Hungers, der Müdigkeit, bei ungeübten oder durch Krank-
geschwächten Individuen. Nur wenn man dieses Gesetz
!der Lebenslage beachtet, wird man imstande sein zu be-
löi, ob eine beliebige Handlung, die man gerade ausführt
312 Leo HirseMaff.
oder ausführen soll, der Gesundheit zuträglich ist oder nicht.
Dabei soll noch einmal betont werden, daß es gesundheitlich
an sich gleichgültig ist, was für einen Zweck die betreffende
Handlung verfolgt ; ob sie der Werte schaffenden Arbeit, der
Vorbereitung zur Arbeit, oder aber dem müßigen Vergnügen
dient, ob sie bewußt, gewohnheitsmäßig oder unbewußt, auto-
matisch ausgeführt wird, wie etwa das An- und Auskleiden,
das Tragen von leichten Gegenständen in den Händen, das
Warten an der Haltestelle der Strassenbahn u. dergl. mehr.
Auch muß daran erinnert werden, daß eine Überanstrengung
nicht nur durch eine einmalige zu schwere Leistung, sondern
häufiger noch durch eine zu lange fortgesetzte, an und für
sich xmbedeutende Leistung hervorgerufen werden kann.
Woran erkennt man aber, daß im gegebenen Falle eine
Überanstrengung vorliegt? Eine gesunde Tätigkeit fällt uns
leicht, sie erhöht unser körperliches und seelisches Wohlbe-
hagen und ruft schließlich eine angenehme Müdigkeit hervor,
die die Vorbedingung des normalen Appetites und des gesunden
Schlafes ist. Eine Überanstrengung dagegen macht uns kör-
perliches imd seelisches Unbehagen, oft sogar Schmerzen, und
hinterläßt eine übermäßige Abspaimung und Erschöpfung, die
bei häufiger Wiederholung unsere Leistungsfähigkeit immer
mehr herabsetzt und schließlich zu nervöser Unruhe, Über-
reiztheit und Mißstimmung führt.
Wie aber schützen wir uns vor Überanstrengun-
gen? Die Antwort lautet: i) durch die hinreichende Aus-
bildung und Übung sämtlicher Organe, die uns in den Stand
setzt, die an dieselben gestellten Anforderungen mit immer
geringerer Mühe zu erfüllen; 2) durch ruhiges, stetiges und
aufmerksames Arbeiten, wobei unsere Gedanken nicht ab-
schweifen, sondern dauernd bei der Sache sind ; 3) durch Ein-
schaltung von Pausen in jede fortlaufende Tätigkeit, so daß
Arbeit und Ruhe in zweckmäßiger Weise einander folgen;
4) durch Abwechslung in der Tätigkeit der verschiedenen
Organe, wodurch eine gleichmäßige Übung und Ermüdung
herbeigeführt wird, während deren ein Teil der Organe sich
immer wieder erholt; 5) endlich durch regelmäßige Unter-
brechungen der Arbeit zum Zwecke der Nahrungsaufnahme,
der Erholung und des Schlafes.
Alle diese Forderungen müssesi innerhalb jeder Berufe-
S^€r CwfimM^pßegg ds$ ^ervmsymfm.
313
tig^keic erfüili werden; sie werden auch innerhalb jeder Be-
tätigkeit bis zu eitlem gewissen Grade voo jedermann er^
Füllt, da die natürlichen Bedürfnisse des Organismus uns dazu
'ingen^ und da bei grober Vernachlässigung dieser Bedio-
gungen der Organismus schnell zugrunde gerichtet werden
Düüüte. Freilich ist die Berücksichtigung dieser Forderungen
l>ei den meisten Menschen eine ungenügende, teils infolge
rOängelnder Einsicht, teils infolge mangehider Zeil, schlechter
'V^erhältnisse oder verkehrter Lebensgewohnheiten* Die Folge
dieser V'emachlässigung ist die steigende Nervosität der Be-
rtifsarbeiter, die wir heute wohl in jedem Berufszweige an*
treffen. Einige Beispiele mögen das Gesagte erläutern: Der
l^iiograph, der den ganzen Tag über seine Arbeit gebückt sitzt
und zu einer Erholung des Abends keine geeignetere Beschäfti-
gung weiß, als zu lesen oder zu zeichnen, wird sich nicht
wundem dürfen, wenn er über kurz oder lang der Nervosität
anhi^imfällt. Er würde diesem Schicksal entgehen, wenn er
seine freie Zeit benutzte, um seine Augen, die sonst stets auf
^^e Nähe eingestellt sind, gelegentlich auch einmal im Fern-
sehen z\x üben, sowie um sich körperlich ausmarbeiten und
durczh genügenden Aufenthalt in frischer Luft die Einwirkung
^^s Stubenhockens auszugleichen. Die junge Buchhalterui,
^^^ geEwungen ist, den Tag mit Correspondenz und Schreib-
'^^^schinenarbeit auszufüllen, sündigt gegen ihr Nervensystem,
^^tin sie jede freie Minute benutzt, um möglichst zahlreiche,
^Pa.tinende Romane zu verschlingen^ die feinsten Handarbeiten
^^s^uführen oder sich anstrengenden Sprachstudien hinzugeben:
^^ch ihr würde eine ausgiebige Bewegung in frischer Luft,
^P^jierengehen, Schwimmen, Schlittschuhlaufen, Turnen oder
^^rgleichen, neben reichlicher Ernährung und genügendem
^^^hlafe dienlicher sein. Der Muskelarbeiter endlich, der die
■^siypizeit seines Lebens mit anstrengender körperlicher Arbeit^
^ft unter der erschwerenden Bedingung ohrenbetäubenden
Tnies und starker Staubentwicklung zubringt, wird nicht gut
^i*an tun, seine freie Zeit zum Radfahren, Kegeln oder zum
Aufenthalt in lärmenden und raucherfüllten Lokalen zu ver-
Ij^erien; er wird vielmehr zweckmäßiger handeln, wenn er zu
'^iner Erholung neben körperlicher Ruhe Zerstreuungen wählt,
^^^ seine geistigen Interessen zu fördern geeignet sind, mögen
*ie nun iq irgend welcher Lektüre, in dem Besuch von Vor-
314 Leo Ifir schlaf,
trägen oder in der Teilnahme an politischen oder gewerkschaft-
lichen Bestrebungen ihren Ausdruck finden. Alle diese hy-
gienischen Forderungen können, nebenbei bemerkt, meist ein-
gehalten werden, ohne daß die eigentliche Berufstätigkeit da-
durch beeinträchtigt würde; im Gegenteil wird ein hygienisch
lebender Arbeiter in seinem Berufe leistungsfähiger, arbeits--
freudiger und ausdauernder sein, als jeder andere.
Zu den oben gegebenen Regeln muß aber als Ergänzung
noch ein wichtiger Grundsatz hinzugefügt werden: man ver
meide nach Möglichkeit jede überflüssige Tätigkeit
die nicht einem bestimmten, wirtschaftlichen oder hygienische
Zwecke dient; oder da dies nicht durchwegs angängig ist, ss
berücksichtige man wenigstens auch diese Form der meist vm
bewußten Tätigkeit bei der Aufstellung eines hygienische
Lebensplanes. Man halte sich gegenwärtig, daß jeder Mensc:X=i
täglich eine große Summe körperlicher Arbeit schafft duro£-:«
die unzähligen, gewöhnlich unbeachteten Körperbewegunger-:»
und Muskelanspannungen, die er beim Gehen, Stehen, Sitzen^^s^i^
Schreiben, beim Tragen von Gegenständen, beim Ankleider^^
und Waschen, sowie bei jeder anderen Gelegenheit voll
zieht; daß unsere Sinnesorgane, besonders Auge und Ohr, —^
während des Wachseins unaufhörlich arbeiten, um alle mög- —
liehen Eindrücke der Außenwelt bewußt oder imbewußt in -^
uns aufzunehmen; daß endlich unser Geist unausgesetzt be- ^^'''
schäftig^ ist, auch wenn er nicht zu bestimmtem Zwecke zu ^^-^
arbeiten gezwungen ist, da uns fortwährend und nebenher '"^
allerlei, meist imnütze und überflüssige Gedanken durch den -^^
Kopf gehen. Wer verständig ist imd die Gebote der Gesund-^ '
heitspflege ernst nimmt, wird auch in diesen mehr oder weniger::^^'
unbeachteten Tätigkeiten Maß halten und sie überall da zu^--^
unterdrücken suchen, wo es gilt, die Leistungsfähigkeit de^^^
Organismus aufs höchste anzuspannen oder zu schonen. So-^^>
bald man einmal gelernt hat, auf diese Dinge zu achten, sc^^*>
ergibt sich die Gewohnheit des hygienischen Handelns in kurze -=r
Zeit von selbst, ohne daß man gezwimgen ist, was völlig veia*'-
kehrt wäre, in jedem Momente darüber nachzudenken, wa^^^
dem Organismus nützlich oder schädlich ist. Vielmehr g^*^
winnt derjenige, der sich solche hygienischen Überlegungc^=^n
zur instinktiven Gewohnheit gemacht hat, eine reiche Men^gp^
Zeit für nützliche und einträgliche Beschäftigungen, die fin
J^r Gesnnäh^4pßegt des Nervemfsitms,
315
erer lui bewußt und zweddos vergeudet. Auch kann die
eit, die wir biTuf lioh leisten müssen, dadurch nur gefördert
3en, da wir mit größerer Sammlung, Aufmerksamkeit und
Ter Ruhe arbeiten, statt der so häufigen nervösen Hast
Zerstreutheit,
Neben der hygienischen Regelung unserer Tätigkeiten ist
i eine Reihe von Gesichtspunkten für die Gesundheits-
fe des Nervensystems von Bedeutung, die wir nunmehr
erörtern wollen.
Eine regelmäßige Verdauung ist für die Nervengesund
dringend erforderlich. Einmal hängt im&er Allgemein-
iden, speziell unsere Stimmung und Laune^ sehr eng mit
era Faktor zusammen, insofern schlechte Verdauung ge-
nlidh Verdrießlichkeit, Mißmut und griesgrämige Laune
orruft. Sodann aber wissen wir heutzutage, daß durch
Zersetzungen, Gärungs- und Fäuhiisvorgänge, die bei Er-
rungs- und Verdauungsstörungen im Magen-Darmkanal ent-
en, eine Art von organischen Giften oder Toxinen sich bilden
len, die zu vielerlei Störungen auch des Nervensystiems
mlassimg geben, Kopfschmerzen, Nervenentzündungen
Neuralgien {%. B, Ischias tmd Gesichtsneuralgie) hängen
■ig mit solchen Störungen zusammen; nicht selten gesellt
dazu als unterstützendes Moment eine Erkältung, die auf
En so beschaffenen Boden leichter Wurzel fassen kann,
onst. Indessen soll die tägliche Stuhlentleening nicht durch
ständigen Gebrauch von Abführmitteln erzielt werden,
lern vielmehr din-ch eine zweckmäßige Lebensweise und
öhnung» insbesondere durch eine geeignete Zusammenset
; der Nahrung, durch reichlichen Brot-, Gemüse und Obst
iß> ev. durch Honig, saure oder Buttermilch, Pfefferkuchen,
kpflaumen und ähnliches mehr.
Einen sehr wichtigen Platz, wie in der persönlichen Ge-
lheitspflege überhaupt, so besonders in der Erhaltung ge-
ler Nerven nimmt die Hautpflege ein. Ist doch die
tj ganz abgesehen von ihrem Nerven reidhtum, schon in-
lg auf den Umfang das ausgedehnteste Organ unseres
E>ers, dessen Tätigkeit die Funktionen aller übrigen Organe,
Lungen, des Hertens, der Nieren, des Darmes etc, in er
Sender Weise beeinflußt und reguliert. Eine tägliche
rdltmg des ganzen Körpers gehört daher zu den selbstver-
316 I^ HirscMaff,
Ständlichen Forderungen der Hygiene. Diese am besten a.H--
morgendlich vorzunehmende Waschung mit frischem» nur \jraOi
strengen Winter etwas versdhlagenen Wasser wird zweckmäfr i^
mit einer Abseifung des ganzen Körpers mittelst einer mild^'KüB
neutralen Seife, z. B. der Marseiller Seife, verbunden. Mind^
stens einmal wöchentlich ist daneben ein lauwarmes VoUb^aa^^
zu nehmen, dessen Temperatur zwischen 26® imd 27^* R^auin. ^«^.s
[32,5^ — 34° Celsius] gelegen sein und dessen Dauer 5 — 6 Mir-Ä.^^
ten nicht überschreiten soll. Sehr empfehlenswert sind au.^=i:l
die neuerdings in Schulen, Fabriken und Badeanstalten ei"Än
gerichteten und viel benutzten Brausebäder, die nach Beea<z51-i
gung der Arbeit die notwendige Reinigung besorgen und dL^is^n
abgespannten Nerven eine außerordentliche Erfrischung ST^*
währen. Audi sollte beim Bau der großen modernen Arbeit ^^t-
häuser darauf geachtet werden, daß mindestens ein gem^imi-
schaftlicher Baderaimi vorgesehen wird, der allen Mietern xjl-kx-
entgeltlich zur Verfügung gestellt wird.
Durch diese Forderungen wird nicht nur der Reinlichk:^ it
genügt und den oben aufgestellten Gesichtspunkten Rechnung
getragen, sondern zugleich eine gewisse Abhärtung gege n
Erkältungen geschaffen, denen der Körper hauptsächlioli
bei feuchter Witterung ausgesetzt ist.
Die Reinlichkeit soll sich übrigens auch auf unsere Woh-
nungen erstrecken. Jede Wohmmg muß, zur Entfernung
der verdorbenen, übelriechenden Luft, täglich stundenlang gr^*
lüftet und täglich einmal naß aufgewischt werden. Besonders
die Schlafräume müssen in dieser Beziehung sorgfältig berück-
sichtigt werden ; bei reiner Luft — die oberen Fensterteile soUe^^
während der Nacht stets mehr oder weniger geöffnet sein -"
ist der Schlaf bei weitem erquickender und gesünder ab in
verdorbener Luft.
Die Kleidung sei der Witterung entsprechend, in den
Übergangs- Jahreszeiten, in denen die Feuchtigkeit der Luft
in unserem Klima überwiegt, stärker und wärmer als in der
trockenen Jahreszeit. Man beachte ferner sorgfältig die Fuß-
bekleidung, die zum Schutze gegen Erkältungen stets wann
und dicht sein soll. Auch sorge man für Reinhaltung der Kleide
und häufigen Wechsel von Ober- und Unterkleidung; di
Kleidungsstücke sollen nicht zu eng am Körper anUegen«
Der Schlaf ist ein wichtiger Faktor in der Gesundbd
ä£ur G^sunähcfitpßegf tUj Mrsmt^tffm,
317
pflege des Nervensystems* Er sollte von den 24 Sttinden des
Tages 8^»o Stunden in Anspruch nehmen, je nach dem Lebens-
alter. Der an einem Tage aus irgend einem Grunde versäumte
Schlaf muß stets am folgenden Tage nachgeholt werden. Das
Schlafzimmer soll hell, luftig, geräumig und möglichst gerausch-
frei sein ; während der Nacht soll es durch Vorhänge etc. ver
dunkelt werden, da das auch durch die geschlossenen Augen-
lider eindringende Licht eine ausgiebige Erholung der Nerven
hinden. Zur Vermeidung des Träumens achte man während
des Einschlafens auf seine eigenen Atemzüge, wodurch das
nutzlose Hin und Herwandem der Gedanken beseitigt wird.
Aufregende Lektüre und geistige Anstrengungen sollen vor
dem Einschlafen unterlassen %\ erden ; ebenso eine Überfüllung
des Magens-
Bei der Auswahl der Erholungen bevorzuge man vor
Üiem anderen den Aufenthah in der freien Natur. Wande-
Tjngen, Bewegungsspiele, Sport aller Art sind Faktoren, die
:iimal dem Großstädter zur Entlastung seines Nervensystems
licht genügend empfohlen werden können. Besonders gilt dies
iir die Sonn- und Festtage^ für die Zeit der Kinderferien und
les Sommerurlaubs der Erwachsenen^ der hoffentlich auch den
Angestellten in nicht allzu ferner Zeit regelmäßig zugänglich
gemacht werden wird. Sehr wertvoll sind in dieser Beziehung
auch die Erholungsstätten, die auf Anregung der Arzte von
Krankenkassen, Versicherungsanstalten etc, in der Umgebung
von Berlin errichtet worden sind, um Rekonvaleszenten, bei
denen eine Fürsorge nach dieser Richtung besonders am Platze
ist, ohne eigene Unkosten den täglichen Aufenthalt in reiner
Waldeslufi zu ermöglichen.
Die im Rahmen der obigen Ausführungen gegebenen Rat-
schläge dürften im allgemeinen genügen, um Gesunden in
jeder Lebenslage einen Fingerzeig ^u geben, wie sie ihr Nerven-
System gesund erhalten können. Auch für manche spezieUe-
ren Verhältnisse, so z. ß. für die gesundheitliche Erziehung
der Kinder durfte das Gesagte ausreichen, insofern man die
mitgeteilten VVmke in passender und verständiger Weise auf
die besonderen Verhältnisse der Kindheit überträgt. Manche
Klagen über Schulüberbürdung und über eine fortschreitende
Entartung des heranwachsenden Geschlechtes würden ver-
iimmen, wenn man zuvor den Versuch machen wollte, alle die
318 ^o Hirschlaff.
aufgeführten Faktoren der Nervengesundheitspflege sorgfältig
zu berücksichtigen und durchzuführen.
Jedoch soll ausdrücklich hervorgehoben werden, daß die
hier gegebene Darstellung sich ausschließlich auf Gesunde
bezieht und nur für Gesunde Geltung hat: in Krankheits-
fällen hat der Arzt zu entscheiden.
Zum Schlüsse mögen nofch ehiige Bemerkungen über
geistige und seelische Gesundheitspflege ihren
Platz finden, die freilich noch weniger ak die vorangehenden
Erörtenmgen auf Vollständigkeit Anspruch erheben können.
Zuerst sollen uns die Gefahren der medizinischen
Halbbildung der Laien beschäftigen. Nach meinem Dafür-
halten bezieht sidh die Pflicht der Laien, sich eine gewisse
medizinische Bildung anzueignen, lediglich auf die Kenntnis
vom Bau und den Leistungen des menschlichen Körpers, sowie
die persönliche Gesundheitspflege und die allgemeine Kranken-
pflege, niemals aber auf das Verständnis oder gar die Behand-
lung der Krankheiten und die Anwendung von Heilmitteln und
Heilmethoden. Leider ist es aber heute Sitte geworden, die me-
dizinische Wissenschaft in der Weise zu popularisieren, daß das
Laien-Publikum durch gemeinverständliche Vorträge, Aufsätze
in Zeitungen, Broschüren und Konyersationslexicis über alle
möglichen medizinischenjAngelegenheiten aufgeklärt werden soll
Was dadurch in Wahrheit geschaffen wird, ist im günstigsten
Falle eine medizinische Halbbildung, die den Laien zu allerlei
Vorurteilen, verkehrten Anschauungen \md unzweckmäßigen
Handlungen führt, so daß er sich berufen glaubt, falls er über-
haupt die Notwendigkeit empfindet einen Arzt zu konsultieren,
die ärztlichen Anordnungen zu kontrollieren, zu kritisieren und
eigenmächtig abziiändem. Nicht nur der Biertisch-Philister,
die in dieser Hinsicht berühmten alten Tanten imd Schwieger-
mütter imd die fanatischen Anhänger der Kneippschen, der
Naturheil-, der Kräutersaft- und ähnlicher Methoden, sondern
fast jeder, auch der gebildetste Laie jeden Standes und Alters
fühlt sich heutzutage berufen, über medizinische Angelegen-
heiten Urteile auszusprechen und Ratschläge zu erteilen; wenn
er sich auch vielleicht im harmlosesten Falle darauf beschränkt,
die Verordmmgen „seines** Arztes auf eigene Faust bei allen
seinen Angehörigen und Bekannten weiter zu empfehlen, obnc
Rücksicht auf die Verschiedenheit der einzelnen Krankheits-
Zur Gesuftdkeitspßgg^c dei 4yert*^n^iiemi.
319
fälle, Daixi kommt das erklärliche Bestreben der modernen
Heilmittelfabrikanten, den Markt und das Publikum mit An-
preisungen ihrer allein selig machenden Mittel zu über-
schwemmen.
Auf diese Weise ist eine heillose Verwirrung in den Köpfen
der Laien eingerissen, deren Folge einmal die Anwendung aller
möglichen verkehrten Maßregeln, sodann häufig eine unnötige
Angstigung des Kranken durch unbegründete Krankheitsvor-
Stellungen^ vor allem aber eine bedauernswerte Untergrabung
des Vertrauens zu den Ärzten beim Publikum ist. Anstatt
wie in früheren Zeiten den Arzt als Freund imd Berater in
allen ärztlichen Dingen zu betrachten und seinen Anordnungen
im Vertrauen auf seinen guten Willen und seine Sachverständig-
keit zu folgen, schwindet mehr und mehr das Vertrauen zu
den Ärzten^ während das Ansehen der Kurpfuscher von Tag
211 Tage steigt. Inwiefern an dieser Sachlage die Ärzte selbst,
inwiefern die Krankenkassen^Gesetzgebung schuld ist, die es
lern kranken Arbeiter ermöglicht, eine beliebige Anzahl von
Ärzten in unglaublich kurzer Zeit zu konsultieren und gegen-
einander auszuspielen, soll hier nicht untersucht werden. Sicher
aber ist, daß das Vertrauen zum Arzte gerade in der
Behandlung der Nervenkrankheiten noch immer eine außer-
ordentlich große Rolle spielt und stets spielen wird. Ein nicht
anerheblicher Teil aller hypochondrischen Ideen und Angst-
t^orstellungen, deren Verbreitung ja ungeheuer groß ist, ent*
sianunt dem geschilderten medizinischen Halbwissen und den
darauf basierten Mißverständnissen und Schädigungen.
Im Anschluß an diese Erwägungen, die ja heute noch
kaum auf allgemeine Zustimmung rechnen dürften, soll auch
Über die richtige Wert Schätzung der Ge SU ndheits-
pflege, der ja auch dieser Aufsatz gewidmet ist, ein
aufklärendes Wort gesagt werden. Wer da glaubt, daß die
Beschäftigung mit der Gesundheitspflege Selbstzweck des
Lebens sein dürfte, geeignet, den uns zur freien Verfügung
stehenden Zeitraum des Lebens allein auszufüllen, der befindet
sich in einem folgenschweren Irrtume. Die Beschäftigung mit
der Gesundheitspflege darf nur als Mittel zum Zwecke betrachtet
werden; nämlich als Mittel zum Zwecke der Erreichung einer
möglichst großen und vielseitigen Leistungsfähigkeit, die uns
m den Stand set^t, unsere Aufgaben im Leben möglichst voll-
320 ^^ Hinchlaf,
kommen zu erfüllen. Es kann daher nur davor gewarnt werden,
die hygienischen Bestrebungen derart lu übertreiben, daß jeder
freie Gedanke und jede freie Minute ihnen gehört. Vielmehr
sollen alle gesundheitlichen Regeln durch gewohnheitsmäßige
Übung so in unser Fleisch und Blut übergehen, daß sie kein
besonderes Nachdenken und möglichst wenig Zeit erfordern,
so daß wir unser Interesse anderen, wichtigeren Gegenständen
zuwenden können.
Denn es gibt sicherlich wichtigere Gegenstände und Lebens-
aufgaben, als die stete Sorge für die bloße, körperliche Gesund-
heit unseres lieben Ich. Es ist eine Verkennung der Tatsachen,
wenn man annimmt, daß das Streben nach körperlicher Gesund-
heit neben der uns durch die Verhältnisse aufgezwungenen
Berufspflicht der Häuptzweck und Hauptinhalt des Lebens sei,
dem alle anderen Bestrebungen untergeordnet werden müßten.
Wie schal und öde wäre ein Leben, das nur der Befriedigung
solcher kleinlichen Interessen gewidmet wäret Um wieviel
größer sind die Aufgaben, die die Ausgestaltung unseres Geistes-
und Seelenlebens, die Fürsorge für unsere Angehörigen und
unsere Mitmenschen, die Teilnahme an den künstlerischen,
wissenschaftlichen \md politischen Bestrebungen und Errungen-
schaften uns auferlegt, als die Befriedigung der körperlichen
Wohlfahrt unseres eigenen Ich! Kann es etwas Unverstän-
digeres geben, als das Leben eines Hypochonders, der die
ganze Zeit seines Daseins mit der ängstlichen Überlegung hin-
bringt, was seinem körperlichen Ich nützen oder schaden
könnte ? Die Abwägung der vielseitigen Interessen des Lebens
ist sogar von großer Bedeutung für ein gesundes Nerven-
leben ; di<* körperliche Gesundheit soll hierzu nur die geeignete
Grundlage, nicht aber den Endzweck abgeben. Geistige
Interessenlosigkeit und geistiger Stumpfsinn sind dem-
nach Mängel, die nicht nur aus idealen, sondern vor allem
aus gesundheitlichen Gründen bekämpft werden sollten.
Eine der häufigsten Schwierigkeiten in dem Kampfe gegen
die Hypochondrie bildet aber neben dem Mangel geeigneter,
höherer Interessen die Übertreibung etwa vorhandener
körperlicher Störungen und Erkrankungen, wie sie bei Ängst-
lichen, Nervösen und Hypochondern die Regel ist. Glaubt
doch fast ein jeder derartige Kranke, der irgend welchen B^
schwerden vorübergehend oder dauernd ausgesetzt ist, — und
wer wäre das nicht ^, sich schon deswegen berechtigt, von
allen anderen Interessen abzusehen und der Pflege und Be*
seitigung dieser Störungen allein zu leben. Dazu kommt dann
nocli di€ Ausschmückung der Phantasie, die den Hypochonder
zu den wirklich vorhandenen Beschwerden die zahllosen Gebilde
seiner eigenen Angst hinzugesellen läßt. Eine nüchterne Selbst-
bc^obachtung, die alle zu starken Ausdrücke bei der Benennung
der Beschwerden vermeidet und alle zu weit gehenden Schluß-
folg^erungen aus den beobachteten Erscheinungen besonnen tmd
kritisch zurückweist, bildet die beste Schutzwehr gegen eine
solclie Gemütsverfassung,
EndHch möge noch im allgemeinen auf die Bedeutung der
Stimmung und der Gemütsbewegungen für die
^*^X"^vengesundheit hingewiesen werden. Es ist noch wenig all-
g^tnein bekannt, daß unsere Stimmung tmd unsere Gemüts-
bewcgungen in direktester Weise auf tmsere Gesundheit ein-
^irlcen und, je nachdem^ zur Förderung oder Verschlechterung
^^r Selben erheblich beitragen können. Schlechte Stimmungen,
Unzufriedenheit, Ärgerj Aufregung, Furcht, Trauer und Ver-
^^'eriflung setzen alle Funktionen des Körpers herab bis zur
^ä^Hmung in extremen Fällen. Sie beeinträchtigen den Appetit
^^d die Verdauung^ hemmen die Blut Zirkulation und Wärme-
*^^ldung und vermindern die körperliöhe und geistige Leistungs-
^^d Widerstandsfähigkeit. Dagegen werden alle diese Funk-
^^nen gesteigert und günstig beeinflußt durch die Wirkung
'^^r entgegengesetzten Ceniütsbewegungen, wie z. B, Heiterkeit
^^d Zufriedenheit, Frohsinn, Hoffnung und Freude, Und zwar
^^l die Einwirkung dieser Faktoren nicht etwa eine geringfügige
^Jid vorübergehende, sondern vielmehr, wie experimentell ge*
leigt worden ist, eine mächtigej tiefgreifende und dauernde.
Um so mehr sollten wir aus hygienischen Gründen danach
Streben, uns in den Besitz dieser heiteren Gemütsverfassung
lu setzen und dauernde Mißstimmungen etc. zu bekämpfen und
auf das notwendigste Mindestmaß einzuschränken. Bei einigem
guten Willen geht das auch, zumal wenn man bedenkt, daß
wir alle ja diese Forderung innerhalb unseres beruflichen Ver-
kehres mit anderen fortgesetzt als etwas Selbstverständliches
zu erfüllen gewohnt sind* Freilich gehört dazu — von äußeren
Umständen zunächst abgesehen — eine gewisse soziale und
sittliche Einsicht, die heute vielleicht noch nicht jedermanns
Zdtschrlfl für piiügogiK-he Psydiotogi^r Palhologie und Hygiene. %
322 I^ HirsMaff.
Sache ist. Wer es vorzieht, mit sich, mit seinem Berufe ur^d
seinen Angehörigen, kurzum mit der ganzen Welt in ewigem
Hader zu leben und für sich ein Glück zu erstreben, das in A ot
Ansammlung von Besitz seine vermeintliche Voraussetzu:»-!^
findet, dem ist in dieser Beziehung nicht zu helfen. Wer ^s
dagegen als seinen Lebensberuf ansieht, möglichst viel Fr€z:>li-
sinn, Zufriedenheit und verständige Freude im Leben zu .^^^-
nießen imd um sich zu verbreiten, der wird gewiß aus eir:Ä.^x
solchen Lebensauffassimg einen Gewinn ziehen, den er ^si^xxi
Abende seines Lebens getrost als „Glück" bezeichnen dsi. Ä'f ,
auch wenn er von der Natur weder einen großen Geldbei.:». ^tel
noch besondere Fähigkeiten und Vorzüge mit auf die \^«^^It
gebracht hat.
Freilich soll diese Lebensanschauung beileibe xr». Je-
manden verleiten, mit den bestehenden Einrichtungen iil::>e''
Gebühr zufrieden zu sein, oder ihn hindern, an dem sozial ^^^»
politischen imd wissenschaftlichen Fortschritt der Menschln^i^
nach seinen Kräften mitzuarbeiten. Aber sie soll uns tir<^>^^
dieser Mitarbeit, die ja zum Teil erst den späteren Generation^ ^^
zu gute kommen kann, anregen, auch an den bescheiden. ^^
Freuden des gegenwärtigen Lebens, die ja doch sicherlich m^l^^
in tins als in der Außenwelt gelegen sind, nicht vorüberzugeb.^^^
und nicht unser Leben in Unzufriedenheit und Verbitteruii^ß^
zuzubringen. Wer sich mit dieser Lebensanschauung befre*^^'
det, wird es sogar relativ leicht finden, den Sorgen und Kiräi^'
kungen des Lebens, ja sogar den körperlichen Leiden ge^^^"
über soviel gute Laune und Lebensmut sich zu wahren, <i^^
er trotz aller Nöte des Schicksals sich mit einigem Humor ^^^
Leben zurechtfindet.
Solange wir leben, sei es unsere höchste Aufgabe, tTO^^
aller Widrigkeiten, denen jeder von uns ausgesetzt ist, in vi^^^
selbst so viel Glück als möglich zu finden. In ims sert>^*'
d. h. in der Ausgestaltung unserer Leistungen, in der "V^^*
tiefung und Vielseitigkeit unserer Interessen und in der V^^"
vollkommnimg und Harmonisierung unseres Inneren. Dei^
wer das Glück in äußeren Dingen sucht, dessen Seelenleb^^
wird sich notgednmgen solange in einem unheilvollen Zwiespai^
befinden, solange die idealen Lebensbedingungen der Menscfr
heit noch nicht verwirklicht sind.
Kinderideale.
Einige experimentelle Beobachtungen von
Marx Lobsien.
I.
Jedes Alter, jedes Gesfchlecht, jede historische Periode,
e Landschaft, jede Zone, jede Benifsart — alle haben ihre
i-ale, die ihnen als typisch eigen sind. So mannigfach ver-
ieden sie im einzelnen sind — in dem einen stimmen sie
t überein: Ideale sind Gebilde schöpf erisicher
i aütasie und zwar Gebilde, die realiter nicht existieren;
schweben über der Wirklichkeit. Dag hindert nicht, daß
reale Welt Farben imd Formen für die Gestaltung der
der hergibt. Darin sind Ideale den Traumgestalten äußer-
:i ähnlich. In einem aber unterscheiden sie sich von diesen
Q2 wesentlich. Im Traume waltet lediglich der physische
'Chanismus, der hier und da zufällig ausgelöst wird, kein
Llle bändigt die umherschweifenden Vorstellungen und
ihengebilde. Daraus erklären sich die zumeist verrenkten,
^aöglichen Schöpfimgen, die der Erwachte als Torheit bei-
•c legt, sie belächelt; denn sie sind ihm wertlos.
Ganz anders jene Gebilde der schöpferischen Phantasie:
der Reifestufe der Entwickelung ist die Distanz zwischen
^ Bilde und der Wirklichkeit niemals — auch in den ein-
ten Zügen nicht — so groß, daß jede Möglichkeit der Reali-
"Ung schlechterdings ausgeschlossen ist. Ich meine, der Zu-
^^enschluß der einzelnen Züge des Bildes» zum Ganzen (die
324 Marx Lobsien,
äußeren Formen, die treibenden Motive, die Kräfte und Zu-
stände) — gibt kein verrenktes Weltbild, sondern — voraus-
gesetzt die Möglichkeit, daß diese einzelnen Momente in realita^
steigerbar sind wie es das Bild will, entsteht immer noch ein
gesundes, wenngleich vergrößertes Gemälde. Eben das scheint
mir ein sehr wesentliches Charakteristikum des Ideals zu sein,
daß es immer ein harmonisches, reines, aber skioptikonartig
vergrößertes Bild der Wirklichkeit bietet. Simson z. B. er-
scheint als Ideal: wir haben in ihm die Verkörperung d^r
Kraft in Wille und Tat im Gegensatze zur Ohnmacht ur^d
Zwiespältigkeit des israelitischen Volkes — wo aber ist in d^r
ganzen Darstellung ein Zug, der da störend wirkt auf die
harmonische Geschlossenheit der Persönlichkeit, der ihre Schön-
heit stört? Wir haben ein stark vergrößertes, aber kein düs-
harmonisches Bild. Genau so ist es, wenn man vom IdeaJ
des menschlichen Leibes, eines Gartens u. a. redet — überall
sind reale Einzelzüge zu einem harmonischen Ganzen zuslamniei]-
geordnet.
Man könnte dem entgegenhalten Baal, Ibis, Triglaw seien
unharmonische, in Wirklichkeit unmögliche Gebilde, die aber
trotzdem göttliche \'erehrung genossen. Man darf aber nie
vergessen, daß diese Bilder einer weit zurückliegenden Eat-
wickelungsperiode angehören, sie sind Gebilde schweifende^
Phantasie, gehören einer Periode an, die, einem gewissfei^
Kindesalter gleich, an Unmöglichkeiten nur geringen Anstoß
nimmt. Endlich sind derartige Gebilde zumeist VerkSrpeniÄÄ
der Furcht, des Bösen, \>rzemmgen aber befördern hier i^^
Moment, worauf es ankommt, den Schrecken. Dem TeuP^
gibt man ein widerliches Aussehen, der Gestank darf nicÄ^t
fehlen — aber \ou Idealen kann man hier schon deshalb nicÄ*
reden, i»^il die Bilder häßlich xmd abstoßend wirken, höchstc^^
kann man von imaginären Autoritäten der Furcht und Abke^^^r
reden. Das Ideal ist immer Station auf dem Wege zum I^«^'
radiese. — Man könnte temer hinweisen auf die kühnen Bild^'»
c:e das Kind enra-lrtt. Ein \"ierTähriger Bub" ruft seinen S{Ä^
genossen r- Komm: schnell herauf! Ich habe ein gioßartiff«^
Kaus ^e'rau:. Oben :s: ein Dach mit einem Turm, ein groö^
Fenster ™i i-ei Tore sind darin, hunden Menschen kfimicD
dirm s—en AZes snirmt hinauf, das Wunder zu bcschöir
vcH SDci TTjri es ^ezei^ und der Effekt: aBgemdiie ^
Kmderidsnie.
325
täiischting. Auf zwei Stuhllehnen hängt ein Regenschirm, dessen
Tuch einen großen Riß zeige l Der kleine Baumeister hatte
ein Luftschloß gebaut^ zu dem die unbarmherzige reale Welt
das Material in keiner Weise bot. Die Genossen hatten die
Reise mit dem Siebenmeilenschirm nicht gemacht und ver-
mochten nun nicht zu folgen, — Ob der Puppe ein Bein fehlt,
ein Arm^ hat selbst der Kopf dran glauben müssen, ja besteht
sie gar nur aus einem Etwas, das einem Ungetüm genau so
gleicht wie einem Menschen, einem Fisch und einem Affen —
sie bleibt doch die schönste, wird gespeist, gepflegt, unter-
halten wie eine Prinzessin. — Hier sollte man doch billig von
Idealen reden dürfen. Das Kind bedarf nur ganz geringer
Mittel» um ein kühnes Idealbild zu zeichnen. Das kindliche
Spiel besteht mm größten Teile aus Fhantasieschöpfungenj
schon dann, wenn es noch außerstande ist, sie in Worten m
äußern, — Ein Umstand unterscheidet die Ideale des kleineren
ivindes von denen des älteren. Dort sind sie Gebilde schwei-
fender Phantasie, es fehlt ihnen jede Dauer, hier aber haben
sie sich zusammengeschlossen zu einem Bilde, das zwar dem
Wandel, aber nur in größeren Zeiträumen unterworfen ist.
Die eben angedeuteten allgemeineren Züge gehen gleich-
Sana die äußere Form des Ideals an, ein zweiter Umstand,
durch den das Ideal vom Traum gebilde sich wesentlich unter*
scheidet, ist das Wertgefühl, welches es mit der Person-
Hctikeit verbindet. Das Wertgefühl ist recht eigentlich das
schöpferische Moment, Es vereinigt die Fäden und hält das
Bild in seinen Formen zusammen. Das Ideal ist ein Stück
Selbst, ja die erlebende Persönlichkeit selbst, nur in eine
reinere, freiere Luft^ in eine größere, lichtere Höhe geworfen.
Das Wertgefühl treibt an zur Auswahl unter den Personen
^i^d Dingen. Es ergreift immer diejenige Persönlichkeit, die
^ ihren wesentlichen Zügen dem Individuum am meisten ent-
spricht oder durch die es sich am wünschenswertesten er-
gänzt fühlt. Der Bramarbas in Gryphius „Horribilikribrifax"
^^ ^\n vollendeter Hasenfuß, er fühlt sich aber vollkommen in
^^'A männermordenden Helden hinein. Er will nicht auf-
schneiden, er täusche sich selbst hinein, klettert am Seile des
^'^laginären Heldentums hinauf ins Kuckucksheim und vergißt>
^*i seine Zuhörer diesen Weg nicht mitmachen, sondern die
D
^^tanz zwischen Bild und Wirklichkeit spottend sich ver-
326 Marx Lobsien.
\
größern sehen. — Rätselhafte Freundschaften entgegengesetztet
Cliaraktere, wie sie nicht sehen begegnen, kommen so zustande,
daß sich die eine PersönUchkeit in einzelnen aber wertbetoatea
Zügen ergänzt fühlt. — Andere Ideale bilden sich, nicht ^v^il
eine einzelne Eigenschaft, Tugend, Kraft ergänzt wird in d^t
anderen wirklichen oder nichtrealen Persönlichkeit, sondern iät^I
hier das Verhältnis: Groß:Klein durchweg besteht. Die Cü-e-
Samtpersönlichkeit erfährt gleichsam eine Addition in ein.'cr
Autorität (man vergleiche die bekannten Schulautoritäten suiif
dem Spielplatze oder in der Klasse).
Eine besondere Färbung der Wertgefühle ermögliczrlit
eine Einteilung der Ideale in zwei große Gruppen. Die ei»e
Gruppe umfaßt die Ich-will-Ideale, die andere die Ich-möcl».^e-
Ideale. Beide sind zwar über das Reale hinausprojiziert, ^^äJi-
rend aber jene charakterisiert sind durch ein kraftvolles oder
auch naives Vergessen des Tatsächlichen xmd der Mögli<^"
keiten, sind diese Resignationsideale; das Wertgefühl hat e;i»e
mehr oder minder starke elegische Färbimg.
Kinderideale, sofern sie gesund sind, gehören fast 3.'«JS-
schließlich der ersten Gruppe an. Das gesimde Kind ist du^"^^
und durch realistisch. Es^ lebt in der Gegenwart. Die V^^^*
gangenheit — und sei die Entfernung noch so groß — wirft ^^
ohne Bedenken in die Gegenwart hinein; die Zukunft rei^*^
höchstens bis morgen, nicht weit darüber hinaus liegen it>^
Geburts- und Weihnachtstag, erst gegen Ende der Schul^^
erweitem sich die Distanzen. Dennoch gibt esl für das KS'^
Gelegenheit genug, wo sich AnläsJste zur Entfaltung von Re3^^'
nationsidealen bilden; nur beziehen sich diese fast nur ^-'^
Sachen. Ich denke dabei an die „Wunschideale**, wie ich ^^
nennen möchte. Die Wünsche wachsen zimächst aus den '^^^
dürfnissen heraus: je mehr Bedürfnisse, desto mehr WünscJ^*'
desto mehr Wunschideale. Hier richtet sich alles Sehnen ^'^
eine Schachtel Bleisoldaten, dort weckt leider die Not cJ^^
Lebens Wunschideale wie: Gut esisen, neue Schuhe usw.
Wir wollen also für die vorliegenden Untersuchungen, d^^
sich auf die Zeit vom 9. bis 14. Lebensjahre beziehen, a/^
Kinderideale betrachten: harmonische Schö-
pfungen der kindlichen Phantasie auf dem Weg^
KmdericUaU, 327
am Vollkommeneren hin, die eine gewisse Dauer
aben und durch starke Wertgefühle sich cha-
akterisieren, als aktive und Resignat ions-,
ezw. Wunsch ideale. Sie sind dem Wandel in bestimmten
eiträumen unterworfen, deren Länge sich nicht bestimmt an-
;eben läßt. Daß sie dem Wandel imterworfen sind, folgt not-
wendig daraus, daß das Kind selbst als Ganzes oder in ein-
einen Zügen sich in den Bildern widerspiegelt. Trotzdem
errscht hier nicht ein Spiel ohne Sinn und Regel. Auch die
3m Winde leicht bewegte Welle gehorcht mechanischen Ge-
tzen, wenn auch manche Schaumflocke acht- und ziellos hin-
werfen scheint. So auch folgt die Entwicklung des Kindes
stimmten psychophysischen Gesetzen, die eben weil sie psy-
^physischer Natur sind, sich uns schwer erschließen. In der
^t^ickelung der Kinderideale gibt es gewiß manche Eintags-
-^e, manches, von dem man nicht zu sagen weiß, von wannen
Iconmit. Damit aber ist nicht gesagt, daß keine irgendwie
^«tzmäßigen Zusammenhänge im Grunde wirksam sind, nur
^ sie unseren Augen verborgen sind. Reichere Beobach-
t^en und Mitteilungen, nicht zuletzt von Müttern, die zu beob-
xten verstehen, werden uns weitere Aufschlüsse bringen über
' Natur des Kindes.
'Xufgabe der vorliegenden Untersuchungen.
Sie kann in einigen kurzen Zügen gezeigt werden. Die Be-
achtungen wollen den Dingen nachgehen, welche die Rinder
tne Zwang als solche bezeichnen, die ihnen am wertvollsten
td, mit denen sie sich am längsten und liebsten beschäftigen.
^ wollen diese Ideale womöglich gruppieren, um etwa vorhan-
ne Typen aufzuweisen. Sie wollen Unterschiede beider Ge-
tilechter aufsuchen und auch die Frage erwägen, ob die Ideale
-h wandeln und in welchen Durchschnittszeiträumen das etwa
-schiebt für diese oder jene Gruppe. Sie wollen aber auch auf
dividuelle Besonderheiten eingehen und erwägen, ob etwa die
^eale durch den Gedächtnis- und Reproduktionstypus beein-
^ßt werden, ob etwa der Motoriker in der Art und Dauer-
iftigkeit der Ideale sich wesentlich vom Akus^tiker unter-
^cidet. Sie wollen diese Resultate ergänzen in einer letzten
"^ppe von Untersuchungen, da das Kind womöglich noch
328 ^^^* Lobsitn,
xingebundener ist und auch darüber Auskunft gibt, was ^s
verwirft. Denn das eben ist das Charakteristische an den
vorliegenden Beobachtungen, daß sie vollkommen freie Mit-
teilungen der Kinder verwerten. Es waltete in keiner Weise
äußerer Zwang durch den Unterricht. Es wurden lediglic\i
die Ecken geboten, im übrigen schalteten die Kinder frei.
Ein eingehendes Examinieren übt immer einen Zwang st\is.
Suggestionen spielen hierbei eine größere Rolle als vielf a.cli
angenommen wird. Ist das Kind weiter geübt, so folgt es ge-
horsam den leisesten Intensionen und der Fragekünstler lat
nachher herausgezaubert, was nimmer drinnen war. T>sihtx
auch die Überraschungen bei den Damen und Herren^ die
so liebenswürdig waren, mir ihre Dienste zu leihen imd ilre
häufigen Versicherungen: Wir lernen unsere Kinder ja ^on
einer ganz neuen Seite kennen. — Die Untersuchungen w^<i>llen
endlich die pädagogische Bedeutung der Kinderideale auf-
weisen, etwa ob und wo allgemeines Interesse für Märc^l^en.
also eine wirkliche Märchenstufe vorhanden sei, wo Voirlicbe
besteht für das Heroische, die Person Jesu usw.
Methode.
a) Zahl der Versuchspersonen. Es kamen, in
Frage
5 X 50 Knaben,
5 X 50 Mädchen,
insgesamt 10 x 50 = 500 Kinder.
b) Art derselben. Es waren sämtlich Volksscb^^''
der wachsenden Großstadt. Kein Zweifel, daß die Stadt taus^'^"
flüchtige Wimschideale weckt gegenüber dem einsamen Dox^^*
dafür hat der Dorfbube aber einen wesentlichen Gewinn ^'
züghch der Intensität der Beobachtimg und des intimeren V'c^*
kehrs mit den Dingen. Ferner, es handelt sich ^^^^
um Kinder niederer Stände, zumeist von Werftarbeitern,
kleinen Kaufleuten und Beamten. So ist wenigstens die Mög-
lichkeit da, daß Wunschideale, auch solche, die auf elemen-
tare Lebensbedürfnisse sich beziehen, wuchern werden. Endlich
konnten nur solche Kinder sich beteiligen, die das Ge-
forderte niederzuschreiben vermochten.
Kinderideale, 329
c) Fragen.
Folgende i8 Aufgaben wurden gestellt:
1. Welche Unterrichtsstunde ist dir die liebste?
2. Welche Persönlichkeit der heiligen Geschichte?
3. Welche Persönlichkeit der Weltgeschichte?
4. Welches Gebäude unserer Stadt?
5. Welches Spiel ist dir das liebste?
6. Welche Beschäftigung außer der Schule?
7. Welches Buch ist dir das liebste?
8. Wieviele (etwa) hast du gelesen?
9. Was willst du werden?
10. Wie heißt deine Lieblingsbliune ?
11. Welches Tier hast du besonders gern?
12. Wer lernt zu Hause laut?
13. Wer lernt zu Hause leise?
14. Wer denkt beim Lernen an die Stelle (Seite) des
iches ?
15. Was ist dir angenehm?
16. Was ist dir unangenehm?
17. Was ist dir lächerlich?
18. Was ist dir wunderbar?
d) Weise. Um Ermüdung, Überdruß usw. pi vermeiden,
X gestattet worden, sobald deutliche Symptome dieser oder
ler Art sich irgend äußerten, den Versuch abzubrechen und
j Fortsetzimg desselben auf einen andern Tag zu verschieben,
ch mußte hierfür eine gleichgelegene Tageszeit ausgewählt
rden. Ich bemerke femer, daß der Versuch unternommen
rde in den Monaten Januar und Februar, einer Periode
igender psychischer Kapazität.'*') Erwogen wurde femer auch,
die Kinder genau nach dem Monatsalter zu ordnen seien,
•rauf in seinen Untersuchungen über die Muskelkraft Prof.
huyten-Antwerpen immer wieder drängt. Ich entschied in
»sem Falle : nein I und aus folgenden Gründen : i . Es handelt
:h um Einbeziehen des geringen Prozentsatzes der Sitzen-
bliebenen. 2. Wenn auch alle Mängel unseres Versetzungs-
stems zugegeben werden sollen, so ist doch nicht zu leugnen.
*) YerRl. d. Verf.: Sdiwankimgen psychifldier Kapazität, SammL von
ihiller n. Ziehen AbhandL lieft V, Bd. VlI. Reuther u. Reichard, Berlin.
330 -War* Lobsien,
daß es diejenigen Schüler, die annähernd auf gleicher Bildung"
stufe stehen, in eine Klasse zusammenführt. 3. und besonderes
die Bildung der Ideale wird nicht lediglich durch die Alteizr-
stufe bedingt, sondern mehr durch Erfahrungen und Erlebnis^.
Das ganze Schulleben aber wirkt so einschneidend auf die Ide
gestaltung ein, daß es ein arger Fehler sein würde, wenn
nach dem Alter ordnen und so die Kinder verschiedener TJntg=»^ x-
richts- und Erfahrungskreise zusammenwürfeln würde.
e) Alter. Die Schüler und Schülerinnen verteilen sL^zzrh
auf fünf Altersstufen im durchschnittlichen Alter von I.= 13/:^ -^,
II. = 12, III. = II, IV. = 10, V. = 9 Jahren.
f) Äußere Ordnung. Eine gute Disziplin ist bei aU^n
solchen Untersuchungen die conditio sine qua non ; wo in eiiTÄ^^r
Klasse die Disziplin mangelhaft ist, wo der eine Nachbar "fc^ci
dem andern Anleihen macht oder gar die hintere Bank "l=:>-^i
der vorderen, da ist jedes Experimentieren wertlos, unmögli^:^!^-
Derjenige, der die Aufgabe hat, hernach das ganze Matexrial
zu verarbeiten, erkennt allerdings den Schaden mit ger'm^^^^
Mühe, denn, das sei nebenher angemerkt, das Experiment ^^^
zugleich der tadelloseste Prüfstein für die Klassendisziplin. ^11^^^
kann man dem Übel des Abschreibens auch auf anderem W«^^^
begegnen. Unsere Schulen, besonders die höheren, arbei't^'^^
viel zu sehr unter dem Zwange des nervösen Wettbeweir^^^»
die leidige Agonistik verdirbt leider viel zu oft die Arbc^i*^*
freudigkeit. Auch bei diesen Versuchen bemächtigt sich ^i^^
Schüler nur zu leicht der Gedanke : du mußt es deinem Na^^^^
bar zuvortun, du mußt mehr, mindestens aber ebenso '%ri^^
schreiben wie der. Hier nun empfiehlt es sich, den Kind-^^^
zu sagen, daß es keineswegs auf einen Wettbewerb ankomxxx^^
daß das beste immer der leiste, der sich gänzlich auf 31^^
selbst verläßt, daß wer abschreibe, nur verderbe.
g) Vorläufige Bedenken. Einige sollen nicht ver-
schwiegen bleiben. Suggestionen durch Lehrerpersönlichkeiten
sind, zumal bei dem Fachlehrersystem, bei den vorliegenden
Versuchen nicht ganz zu vermeiden und es wäre vielleicht
empfehlenswerter gewesen, wenn ich selber das Experiment
geleitet hätte. Besonders sind Mädchen geneigt, persönlich^
Einflüsse des Lehrers wirken zu lassen, einem Unterrichtsfach
>
Kmderidsale,
331
Vorzug zu geben, das durch eine besonders liebe Persön-
it vertreten wird. Doch glaube ich berechtigt zu sein,
i Fehler nicht sonderUch hoch zu werten, weil an den
Iten das Fachlehrersystem nicht besteht; andererseits
eine völlig fremde Persönlichkeit Quelle mancherlei Stö-
n sein. Viel schwerer wiegt aber die Lehrbefähigimg des
richtenden. Diese ist keineswegs über alle Unterrichts-
5 gleichgradig verteilt, vermag aber auch das sonst ödeste
richtsgebiet interessant und zum Lieblingsfache zu
jn. Diesen Fehler auszugleichen bedarf es eines noch
eiteren Beobachtungsmaterials, das vor allen Dingen auch
ingabe des Lehrers darüber enthält, welches Unterrichts-
hm besonders, welches ihm gar nicht lieb sei.
IL
Ergebnisse
Welches Unterrichtsfach ist dir das liebste?
Knaben.
Stnfe
Sa.
iine
I
n
HI
IV
V
ion
1
1
2
nen
11
3
6
7
9
36
ilehre
1
1
lichte
8
5
11
24
raphie
3
1
1
1
6
rbeschr.
rlehre
6
6
ich
its
1
1
2
inen
14
19
12
4
7
56
m
1
7
3
14
25
en
7
13
11
5
15
51
L
2
3
10
4
2
21
liben
2
10
12
332
Marx Lobsien,
Mädchen.
Name
Stufe
8 1
I
n
\W
IV
V
Sa.
EeÜgion
1
5
3
1
10
Beclmen
14
2
10
2
7
35
EAmnlehre
Geschiclite
8
1
8
17
Geographie
1
5
1
7
Naturbesohr.
1
4
3
8
Natnrlehre
1
Deutsch
1
7
' \
Aufsatz
4
1
5 JS
Zeichnen
3
2
3
6
2
16
Singen
1 1
1
13
7
22
Turnen
2
18
3
23
Lesen
2
2
8
12
Schreiben
1
3
3
' ^
Handarbeit
13
13
3
1
20
50 1^
Bei diesen Beobachtxingen ist vielleicht bedenklich, daß
die Aufgabe eine Entscheidung in Bausch und Bogen forderte,
während doch zumeist einzelne Partien mehr interessieren, doch
möchte ich aus eigenen mehrfachen Beobachtungen behaupten,
daß das Unterrichtsfach durch diese Lieblingsepisoden oder
bevorzugten Sonderstücke bezeichnet wird.
Auffällig ist zunächst das Ergebnis für den Religionsunter-
richt. Es kommen zehn verschiedene Lehrerpersönlichkeiten
in Frage, darunter mehrere, die mit besonderer Wärme und
Liebe diesen Unterricht erteilen. Trotzdem läßt sich nur kon-
statieren, daß er unter 500 Entscheidimgen nur zwölfmal als
Lieblingsfach bezeichnet und zwar bei den Knaben unter 250
nur zweimal, bei den empfänglicheren Mädchen unter 250
Äußerungen nur zehnmal. Dabei ist zu bedenken, daß auf kei-
nen Unterrichtsgegenstand soviel Zeit und Kraft verwendet wir(
in der Volksschule, wie gerade auf den Religionsunterricht, di<
Biblische Geschichte mit ihren Nebenzweigen. Woher denn
KimUndä^,
333
e Lobn für die^ Arbeit? Die Frage drängt sich unbe^
E auf. Ich denke wir haben hier den zahlenmäßigen Be-
dafür, daß in dem Unterrichtsbetriebe etwas faul ist, wir
ssen in diesen Daten eine schwere Anklage erbhcken. Die
t^ die dem Kinde eine nahe und hebe sein sollte, die Welt
Wunders, des Mysteriums, für die die kindliche Phantasie
iufnahmefähig ist, die ist ihm fremd, es fühlt sich darinnen
it heimisch. Ich möchte ein dreifaches dafür verantworte
machen: k die kindliche Phantasie und deren Entwicke-
wird vom Unterricht nicht genügend berücksichtigt; man
ickt in dem Kinde den Erwachsenen, ja den Erwachsenen
reifer Lebenserfahrung und bringt an denselben Stoffe
uij die weit über seiner Welt liegen, in denen es nicht gern
reilt, 2, Die Behandlung geschieht in der Form der Kate-
e, jenem Erbstück aus den Tagen des Rationalismus, der
Heinte durch Hebamrnenkunst die im Bewußtsein des Kindes
ummemden Begriffe und V^arstellungen wecken zu können.
nd besonders: Die gewaltige, vielfach imverstandene Stoff-
ige, die zu memorieren vorgeschrieben ist, verleidet dem
de den Unterricht in der Religion. Wieviel Pein im Hause,
riel Strafe in Wort und Tat knüpft sich an diese Stoff*
Ige — und da soll es sich wohl fühlen, da soll es sich dieser
den der Qual mit Vergnügen erinnern? Es kann keinen
eren Widerspruch geben. Daß doch der alte Rationalis-
uns noch so tief im Fleische sitzt; daß wir immer noch
t den grundfalschen Glauben des Commenius an die Wunder-
ht des Stoffes beiseite getan haben, immer noch glauben,
\ des Gleichnisses vom mancherlei Acker, es komme nur
.uf an Stoff zu säen^ seine Keimkraft überwinde auch den
g unvorbereiteten Boden, Religion ist nicht Sache des
chtnisses und Verstandes, sondern wie Baumgarten mit
fem Rechte in seinen Neuen Bahnen ausführt, der Phan-
» und zwar entsprechend dem jeweiligen Stande der Ent*
:elimg des Kindes, 4, Der Unterricht wird bei den hier in
je kommenden Anstalten in konzentrischen Kreisen erteilt,
notwendig das Interesse abtöten müssen. Das gesunde
d ist stoffhungrig und man muß dem Rechnung tragen.
Der wieder denselben Stoff mjir mit neuen Anhängseln und
kleisterungen bieten, ist impsychologisch, weil es die kind-
Entwickelimg ignoriert.
334
Marx Lohsien.
Diese Deutungen kann ich zwar nur herstellen unter Vorbe
halt. Neue Versuche wie die vorliegenden an verschiedenen Untei
richtsanstalten, die nicht unter gleichen Hemmnissen arbeit&i
müssen hinzukommen; sie sind unschwer zu machen und i^
wünsche dringend, daß sie angestellt werden. Ich bin fe
davon überzeugt, daß dort andere Werte konstatiert werdoi
und wir werden so in Zahlen ein vernichtendes Urteil über ^
eben gerügten Mängel erfahren. Unerwähnt will ich jedoc
nicht lassen, daß die religiös indifferente breite Volksmasse
der Großstadt, also auch das Haus, nicht die Schule allein ^^t
Schuld an dem Ergebnis trägt.
Ich fasse die Gesamtergebnisse ins Auge imd berechne
die Werte für die einzelnen Fächer in Prozenten. Die Ergeb-
nisse für Knaben und Mädchen sind getrennt.
Unterrichtsfach
Knaben
%
M&dchen
%
Eeligion
0,8
3,6
Eechnen
14
14,0
Raiunlehre
0,4
0
Geschichte
10
0
Geographie
2,4
2,8
Naturbeschreibung
0
3,2
Naturlehre
1,2
0
Deutsch
0
3,2
Aufsatz
0,8
2,0
Lesen
8,2
4,4
iSeichnen
22,4
4,8
Singen
10,0
8,8
Turnen
20,4
4,2
Schreiben
8,4
2,8
Handarbeit
—
20,0
Übereinstinunund für beide Geschlechter ergibt sich c^
Vorliebe für den Rechenunterricht. Wirft man einen Bl*^
Kinderideale, 335
: auf die vorige Tabelle, so gewahrt man, trotz der durch
rpersönlichkeit und Verschiedenartigkeit der Klassen-
1 bedingten Unterschiede ein Wachsen des Interesses von
iteren nach den oberen Klassen hin. Man darf diese Er-
ung wohl damit in Verbindung bringen^^ daß der Unter-
;toff der unteren Stufen mehr die mechanische Seite des
nunterrichts berücksichtigt, der auf der Oberstufe die
i-praktische. Auffallend ist sowohl für Knaben wie
len das geringe Interesse für Rechnen um das 12. Lebens-
erum. Doch muß man hier größte Vorsicht beobachten,
>erhaupt bei dieser Tabelle, weil der Einfluß der Lehrer-
ilichkeit nicht nachweisbar ist und ein Urteil in Bausch
ogen verlangt wird über das ganze Unterrichtsfach, das in
einzelnen Abschnitten nicht gleichmäßig interesßiert.
:h aber ist, daß hernaöh die Wunschideale dieser Alters-
sinen Schlüssel an die Hand geben zur Deutung dieser
2inung. Für die an die Abstraktionskraft große Anforde-
1 stellenden Gebiete Raumlehre und Physik ist aus ein-
i psychologischen Gründen kein Interesse nachweis-
infach weil diese Kraft nur in ganz geringem Maße
iden ist. Erst auf der Oberstufe der Knaben er-
1 mehrere Schüler in der Physik ihr Idealfach. Auf-
l ist, daß starke Neigung für die technischen Fächer
iden ist. Addiere ich sämtliche Werte einerseits für die
n Unterrichtsgegenstände, diese Daten je durch die Zahl
nterrichtsfächer der betreffenden Gruppe dividierend,
ergibt sich
Knaben Mädchen
Bchn. Fach : techn. Fach : nicht techn. Fach : techn. Fach :
3,7 13,7 3,7 8,2
ithin liegt die doppelte und dreifache Anzahl der Ideale
ichnischem Gebiete. — Die Deutung dazu liegt nicht
rn. Die technischen Fächer sind den wissenschaftlichen
über dadurch charakterisiert, daß sie nicht einseitig
je, sondern vorwiegend leibliche Fertigkeiten ausbilden,
•ewegungen sind dem Kinde ein Bedürfnis, insonderheit
üngeren. Weiter ist den Fächern eigentümlich, daß sie
arstellen, zumeist ein sichtbares, verlangen. Nichts aber
xa Kinde lieber als solches Darstellen. So sehen wir
336 Marx Lohsien,
Zeichnen, Turnen und Singen am höchsten gewertet, bei den
Mädchen auch die weiblichen Handarbeiten.
Auffallend ist, daß die Naturbeschreibung so gering im
Werte steht, zumal bei den Knaben. Trotzdem der Unter-
richt den modernen Forderungen entsprechend, unterstützt
durch vorzügliche Lehrmittel, erteilt wird, folgt bei den Knaben
überall ein blankes Ablehnen. Das gibt zweifelsohne zu denken,
doch müssen wir Ergebnisse von Nachprüfungen abwarten,
bevor weitere Schlüsse gewagt werden dürfen.
Es mögen noch einige Unterschiede zwischen Knaben und
Mädchen angedeutet werden. Die Zahl der Mädchen, welche
in der Rehgion ihr Idealfach erblicken, ist viermal so groß
als die der Knaben. Trotz der oben berührten ungünstigen
Verhältnisse bestätigt sich auch hier eine landläufige Erfahnmg.
Im Rechenunterrichte halten sich beide die Wage, doch zeigen
die verschiedenen Altersstufen bedeutende Schwankungen. In
der Raumlehre versagen die Mädchen ganz. Eigentümlich ist,
daß die Mädchen in der Geschichte ihr Idealfach nicht erblicken,
wohl aber sind die Knaben mit einem nicht unbedeutenden
Prozentsatze vertreten. Für die Helden- und Kriegsdarstel-
limgen hat das Mädchen keinen Sinn, wohl aber der Knabe.
Doch ist das Interesse am weitesten verbreitet um das zehnte
Lebensjahr herum. In der Geographie zeigen sich beide gleich-
wertig. In den technischen Fächern sehen im Turnen die
doppelte, im Zeichnen gar die fünffache Zahl der Knaben gegen-
über den Mädchen ihr liebstes Unterrichtsfach.
Überhaupt kulminiert im Alter von 9 — 10 Jahren bei:
Mädchen das Interesse für Handarbeit,
Knaben „ „ „ Turnen,
im Alter von 10 — 11 Jahren:
Mädchen das Interesse für Singen,
Knaben „ „ „ Geschichte,
im Alter von 11 — 12 Jahren:
Mädchen das Interesse für Rechnen,
Knaben „ „ „ Zeichnen,
im Alter von 12 — 13 Jahren:
Mädchen das Interesse für Turnen,
Knaben „ „ „ Zeichnen,
KinderideaU,
337
im Alter von 13 — 14 Jahren:
Mädchen das Interesse für Rechnen und Handarbeit,
Kjiaben „ „ „ Zeichnen und Rechnen.
Das Beobachtungsmaterial ist zu gering und durch zu-
ile Imponderabilien mitbestimmt. Es ist somit bedenklich,
iitere Schlüsse zu ziehen und Erklärungsversuche zu wagen,
h begnüge mich, eine Vermutung auszusprechen. Ich glaube,
. allgemeinen für den Wandel im Interesse für ein Idealfach
den aufsteigenden Stufen die Ursache^ in der verschiedenen
dächtnisentwicklimg dieser Stufen erblicken zu dürfen. Ich
5e diese Vermutung mit allem Vorbehalt und begnüge mich
' einem Beleg. In meinen Untersuchungen über die Ge-
rhtnisentwickelung bei Schulkindern*) fand ich ani absoluten
igerungswerten des Gedächtnisses für Zahlen folgende
irte: (Ich stelle die Daten für die Idealfächer gleich daneben,
einen Vergleich zu ermöglichen.)
Stufe
Knaben
Mädchen
OedAchtnis-
entwickelong
IdeaUach
OedAchtnis-
entwickelong
Idealfach
I: n
8
+ 8
36
+ 12
n :m
2
— 8
24
— 8
in : IV
20
— 1
23
+ 8
IV : V
0,2
- 2
12
— 5
Die Gedächtnisuntersuchimgen, soweit sie bis jetzt vor-
jen, bedürfen noch einer wesentlichen Ergänzung, die Ent-
ielung der einzelnen Gedächtnistypen, des akustischen, mo-
ischen, visuellen Typs und deren Mischformen muß genauer
orscht werden, auch der Einfluß des Typus auf die Aus-
W des Idealfaches, erst dann wird sich ein genaueres Über-
istiminen ermöglichen lassen. Für die letztere Angelegen-
*) Ztsclir. f. Psychol. xmd Physiol. der Sinnesorgane. Hg. v. Ebbing-
» und König. Bd. 27, 8. 34 ff.
Zeitschrift ffir pädago^sche Psychologie, Pathologie und Hygiene. 7
338
Mmrx LobsieH,
heit hoffe ich hernach noch einiges Material beibringen zu
können.
Die ideale biblische Persönlichkeit.
Ifame
Knaben
1
M B d c b e a
' Stafe
Sa.
Stafe
U
r
n
m
IV
I
H
lU
IV
Gott
1
1
1
1
Jesu«
21
37
7
10
75
25
39
33
21
IIB
Dftvid
3
3
4
5
15
4
4
JoiQft
5
1
4
10
8
I
4
Abrftham
1
1
15
1
18
6
2
3
n
Euth
1
1
7
9
2
1
1
4
Samnet
1
8
9
2
l
Petras
1
X
1
\
Moses
2
1
6
9
1
l
2
\
Simson
4
Gideon
1
Salomo
2
3
J&kob
1
2
1
3
4
Steph&nus
1
2
Goliath
1
1
Maria
1
1
3
2
&
10
Sarah
1
1
Saul
4
4
Elias
2
2
1
1
Martha
1
1
Eiaa
1
I
Benjamin
1
1
Nach dem in den voraufgegangenen Tabellen gezeigt^*'
geringen Interesse für Religion erwartete ich hier nur eirve
schwache Auslese. Ich wurde überrascht durch die große Za-fc*
Kmä€rideaU. 330
der ausgewählten Idealpersönlichkeiten und dadurch, daß nur
wenig Schüler gan» versagten. Die Tabelle auf Seite 338 ist
unvollständig, es fehlen etwa sieben Namen, weil sie aber nur
einmal vorkamen imd, wie mir schien, am Bilde nichts ändern
konnten, ließ ich sie weg. Lassen wir alle beiseite, die fünf-
mal und weniger als Ideal bezeichnet wurden, so läßt sich
folgende Ordnung konstatieren:
Mädchen:
Jesus 118
Abraham 11
Maria 10
Knaben:
Jesns
75
Abraham
18
David
15
Josua
10
Knth
9
9
Moses
9
Die inkonkrete Vorstellung Gott wurde nur je einmal auf
den beiden Oberstufen als Idealpersönlichkeit bezeichnet, sonst
halten sich die Angaben durchaus an konkrete historische Per-
sonen. Unter sich erfahren sie allerdings eine sehr verschiedene
Wertung. Weitaus allen voran steht das Bild des Gottessohnes,
zumal bei den Mädchen, Darin liegt zweifelsohne ein deut-
licher Wink in der Richtung jener neueren Forderungen, die
das Leben Jesu weit mehr in den Vordergrund des Unterrichts
stellen wollen gegenüber der alttestamentlichen Geschichte. —
EigentümUch ist, daß von allen übrigen Idealgestalten nur zwei,
nämlich Petrus und Stephanus der neutestamentlichen Ge-
schichte, alle übrigen dem alten Bunde angehören. Ob dort
die andern Gestalten neben der des Herrn ganz in den Hinter-
grund gedrängt werden? Richtig ist ja, daß sie Wert und
Bedeutung erst durch ihren Meister erhalten, im alten Bunde
hing^en löst eine Person die andere ab. An Frauengestalten
wird von den Knaben nur vorgezogen Ruth, von den Mädchen
Ruth, Sarah, Maria (Mutter des Herrn) und Martha. Nicht
die Frauen elegisch-sentimentalen Charakters, sondern die
rüstigen, geschäftigen, tapfer handelnden Gestalten interessieren.
Das Kind selbst, das gesunde, ist nicht weichlich-sentimental.
340 Marx Lohsien,
Jeder Schmerz ist schnell vergessen und man greift tapfer und
tätig in die Lebensfreude ein. Die Mädchen der Oberstufe
sind es, die vielfach im Hause Gelegenheit haben, sich zu
betätigen, die 3ich für die genannten Frauengestalten inter-
essieren; es handelt sich dabei nicht um sentimentale Wunsch-
ideale, sondern um ein naives Hineinwachsen in das Ideal.
Dagegen ziehen die Knaben der oberen Stufen keine einzige
Frauengestalt vor, nur das Alter von lo — ii Jahren erblickt
häufig in der Ruth naiv seine Idealgestalt. Für die Helden-
gestalten eines Moses, Josua und David haben die Mädchen
keinen Sinn, desto mehr aber die Knaben.
Abgesehen von der Person Jesu dominieren auf den ein-
zelnen Altersstufen:
Knaben: Mädchen:
I. Josna L Abraham
n. Simson U. —
III. Abraham m. Maria
IV. Samuel IV. David
Leider umfassen diese Namen zu vielerlei verschiedene
Momente als daß sich charakteristische Unterschiede für die
beiden Geschlechter sowohl wie für die aufeinanderfolgenden
Altersstufen innerhalb derselben aufweisen ließen. Für eine
Nachprüfung der vorliegenden Versuche wäre die Frage:
Warum? von recht großer Bedeutung.
Die ideale profanhistorische Person.
Hier mußte die fünfte Altersstufe der Knaben und die
vierte und fünfte der Mädchen außen vor bleiben, weil dort
Unterricht in der Weltgeschichte nicht in wünschenswertem
Umfange erteilt wurde ; ein Versuch, der versehentlich angestellt
ward, ergab als ideale welthistorische Personen Detlev von
Liliencron und den großen Klaus aus der bekannten Erzählimgl
KinderideaU,
341
Knaben:
Name
St
afe
Sa.
I
n
in
IV
WÜhelm L
15
8
7
2
32
Wilhelm H.
6
7
3
5
21
Karl der Große
6
4
7
17
Friedrich H.
5
13
1
1
20
Friedrich HI.
1
2
3
Hermann der Befireier
1
1
9
11
Alarich
3
1
9
13
Großer Kurfürst
6
1
11
18
Zietiien
1
1
Tentobad
2
2
Kurzhagen
1
1
Napoleon L
1
1
2
Friedrich Wilhehn I.
3
3
Heinrich der Löwe
1
1
Friedrich Wilhehn n.
6
6
Kolombus
Barbarossa
AttUa
2
2
Luther
1
1
Blücher
17
17
Königin Luise
3
3
Huß
342
Marx Lohsien,
Mädche n:
Name
Stufe
Sa.
I
n
ni
Wilhelm I.
10
5
15
Wilhelm n.
5
2
7
Karl der Große
7
7
Friedrich n.
3
6
9
Friedrich in.
6
6
Hermann der Befreier
1
1
Alarich
3
3
Barbarossa
1
1
AttÜa
1
1
Luther
3
3
3
9
Königin Luise
3
3
6
Auffällig ist zunächst der Unterschied in der Zahl ^^^
Idealpersojjen, sie ist bei den Mädchen weit geringer als ^^^
den Knaben. Eine Persönlichkeit beherrscht in hervorragerx<der
Weise das Interesse sowohl bei den Knaben wie bei ^^"
Mädchen: Kaiser Wilhelm L Dann folgen aufeinander *^^'
den Knaben — wieder die Gesamtergebnisse über fünf hii>^^
gerechnet :
Knaben:
Mädchen:
Wilhelm I
30
Wilhehn I
15
Friedrich der Große
19
Friedrich der Große
9
Blücher
17
Luther
9
Karl der Große
17
WÜhelm n
7
Wilhelm n
16
Karl der Große
7
Alarich
13
Friedrich III
6
Hermann
11
Luise
6
Der Große Kurfürst
7
Friedrich Wilhelm EL
6
Die großen kriegerischen Ereignisse sind es, die von de'^
Knaben immer vorgezogen werden, von den Mädchen häui^B-
Doch sehen wir hier auch Vorliebe für das innere Erlebet
der historischen Persönlichkeiten, worauf die beiden letrt^^
Namen hinweisen. Bei den Knaben ist es der eingeboren^
Kmäeriäeale,
343
rieb, bei den Mädchen nicht zum wenigsten das
onsbedürfnis, das zur Auswahl historischer Idealpersön-
en treibt. Man muß innerhalb gewisser Grenzen der
len Natur Rechnimg tragen, sonst unterbindet man sein
36. Das Bestreben derjenigen Neuerer, welche die Ge-
5 ihrer kriegerischen Momente entkleiden imd sie ganz
Urgeschichte aufgehen lassen wollen, ist unpsychologisth,
idesnatur nicht entsprechend, nimmt auch leicht einen
>er ihr Verständnis hinaus. Man halte mir nicht entgegen,
e Auswahl lediglich von der Art der Behandlung ab-
sei, ich weiß, daß kulturhistorische Momente an die
von Persönlichkeiten in den hier in Frage kommenden
en in reichem Maße angeheftet werden — aber keine
en ist genannt worden ; doch gebe ich gern zu, daß auch
e Frage: warum? vielleicht, zumal auf der Oberstufe,
ich dieser Seite Interesse offenbart hätte. — Es handelt,
er um positive, aktive Ideale. Der Knabe wächst naiv
Helden hinein.
e Hauptideale der verschiedenen Altersstufen sind bei
nahen :
Stufe
Name
Wilhelm I.
II
Friedrich der Große
in
Blücher
IV
Großer Kurfürst
i den Mädchen ergab sich folgendes:
Mädchen.
Stufe
Name
I
Wilhelm I.
n
Wilhelm I.
m
Friedrich der Große
344 Marx Loäsien,
Das Interesse für historische Ideale wuchs! bei den
Knaben in dem Verhältnis:
IV. = 22 : III = 60 : II = 50 : I = 4i
bei den Mädchen :
III = 15 : II = 8 : I = 42
Bei den Knaben liegt das Interesse also wesentlich höL^
als bei den Mädchen, am höchsten im Alter von 10—12 Jahrei
bei den Mädchen setzt es, kräftig anwachsend, erst später eixr^ .
Man könnte hier den Einwand erheben, daß die TabeH^i^
nicht einwandfrei sei, weil wahrscheinlich die im UnterridL-it ^
zuletzt behandelte historische Person als Liebling angegeb^:«!
werde. Dem widerspricht aber ein Blick auf die reiche Auswai^J
der Ideale, auch habe ich mich durch sorgsamen VergleL^rli
der Pensen überzeugen können, daß das nicht der Fall w^x-.
Wir können als ferneres Ergebnis hinstellen, daß die historisctÄiecn
Ideale in der Zeit vom 10. — 14. Lebensjahre keinen einschn.ei-
denden 'Wandlungen unterworfen sind.
(Fortsetzung folgt.)
^^7^^
Die Schule und das öffentliche Leben.
übersetzt von Ludwig Gurlitt
Nachstehende vier Vorträge sind eine vom Verfasser autori-
-t Übersetzung der Schrift: The school and society
l three lectures byjohn Dewey, prof essor of pedagogy
e university of Chicago (Supplemented by a Statement
.e university elementary school), welche im Jahre 1900 er-
:nen ist (Chicago, the university of Chicago press ; New York,
Clure, PhiUpps & Company) und jetzt in der dritten Auf-
vorliegt. Es schien uns nützlich, sie einem deutschen Leser-
ikum zugängig zu machen, nachdem auf ihre hohe Be-
ing in unserer pädagogischen Literatur schon mehrfach
ewiesen worden war.
I.
Die Schule und der soziale Portschritt.
Wir sind geneigt die Schwule von einem individuellen Stand-
te aus zu beurteilen, als etwas, was zwischen Lehrer und
1er, oder zwischen Lehrer und Eltern besteht. Das, was
am meisten interessiert, ist natm-gemäß der Fortschritt,
im Kind macht, welches wir persönlich kennen, seine nor-
körperliche Entwicklung, sein Vorwärtsschreiten im Lesen,
jiben und Rechnen, das Wachsen seiner Kenntnisse in
Erdkunde xmd Geschichte, seine Vervollkommnung an
nsart, an Geistesgegenwart, seine Gewöhnung zur Ord-
und zum Fleiße — von diesen Gesichtspunkten aus be-
en wir die Arbeit der Schule. Und so ist es auch richtig !
der Umkreis unserer Vorsorge muß erweitert werden,
der beste, der weiseste Vater für sein Kind anstrebt, das
das Gemeinwesen für sämtliche Kinder anstreben. Jedes
re Ideal für unser Schulwesen ist engherzig und linerr
ich, und wird auf dasselbe hingearbeitet, so zerstört es
re Demokratie. Alles, was die menschliche Gesellschaft
»ich errungen hat, ist durch die Vermittlimg der Schule
heranwachsenden Geschlechte zur Verfügung zu stellen,
lie höheren Gedanken und Wünsche, die sie hegt, hofft
346 Ludwig GurUU.
sie durch diese neu eröffneten Wege für ihre Zukunft ver-
wirklichen zu können. Hier sind Individualismus und Sozia-
lismus einsl Nur indem sie bis zur äußersten Grenze jedot
einzelnen Individualität, aus der sie sich zusammensetzt, tr^^
ist, kann die Gesellschaft sich selbst einigermaßen treu bleibexrx
In der so gegebenen Selbstleitung ist nichts von so großer
Bedeutimg, wie die Schule. Denn, wie Horace Mann sagf«:^-
„Wo irgend etwas wächst, ist ein Bildner mehr wert JuXs
tausend Umbildner."
Wenn wir über eine neue Bewegung im Erziehüngswes^ ^
zu verhandeln gedenken, so ist es ganz besonders notwendig, da^ -ß
wir uns eine weite soziale Anschauung angewöhnen. Im ander :äi
Falle erscheinen Änderungen in den Schul-Einrichtungen uä^ <i
Überlieferungen als willkürliche Eingriffe einzelner Lehrer
im schlimmsten Falle als vorübergehende Nichtigkeiten, und i^cm
besten nur als Verbesserung kleiner Nebensächlichkeiten
und das ist das Niveau, von dem aus nur zu häufig Scheel-
reformen unternommen werden. Das ist ungefähr ebenso ve=" r*
nünftig, als wenn man sich vornähme etwas herauszufinden^!'
wodurch eine Lokomotive oder eine Telegraphenstange zu^*n
selbständigen Handeln kommen könnte.
Die zeitweiligen Ändenmgen in der Erziehungsweise lu^^^
in dem ganzen Lehrplane sind ebenso eine Folge allgemein^^^
sozialer Verhältnisse, entspringen genau so dem Streben sicri^h
den Bedürfnissen der jeweiligen Gesellschaft anzupasse^^i.
wie es die verschiedenen Formen in der Industrie und i^*^
Handel tun.
Nun möchte ich Ihre Aufmerksamkeit besonders auf eii^^^
lenken : den Versuch, das, was wir schlechtweg die „neue E- J"'
ziehungsart*' nennen wollen, in dem Lichte eines großen, a-^"
gemeinen Wandeins unserer Lebensverhältnisse zu betrachte^^*
Können wir in der Entwicklung dieser „neuen Erziehung'
eine Verbindung finden mit der übrigen Entwicklung unsere:^''
staatlichen Verhältnisse ? Wenn wir das können, so wird s^ *
ihren isolierten Charakter verlieren und wird aufhören eii»-*
Angelegenheit zu sein, die nur zwischen überscharf sinnige ^
Pädagogen und einzelnen Schülern besteht. Sie wird sich dan^
darstellen als einen Teil, ein Stück der allgemeinen sozialen En^^' J
Wicklung und — wenigstens in seinen bestimmenden Zügen -^ J
als etwas Unvermeidliches. Lassen Sie uns daher nach dc^
Die Schute und das öffentliche Leben, 347
rsachen der sozialen Bewegung forschen, und uns
in zur Schule wenden, um herauszufinden, welche An-
vorhanden sind, daß sie sich bemüht, gleichen Schritt
n. Da es indessen ganz immöglich ist, das ganze Schul-
11 durchforschen, so werde ich mich zum größten Teil
: Besprechung einer typischen Erscheinung der
2n Schulbewegung beschränken : auf das, was man unter
Zeichnung „Handfertigkeitsunterricht** ver-
►abei hoffe ich, daß wir, wenn hier eine Beziehung zu den
rten sozialen Ansprüchen zutage tritt, imstande sein
sie auch bei Neuerungen anderer Schulfächer zu finden,
schuldige mich nicht, daß ich nicht ausführlich über
alen Veränderungen, die für uns in Frage kommen,
. Die, welche ich berühre, sind mit so großen Buchr
jeschrieben, daß sie jeder im Vorbeilaufen lesen kann,
fälligsten — ja geradezu alles andere in den Schatten
und beherrschend sind die Errungenschaften auf in-
em Gebiete, die Anwendung der Naturwissenschaften in
ßen Erfindungen, durch welche die Naturkräfte in einer
leren, schier unfaßlichen Ausdehnung nutzbar gemacht
das Entstehen eines Weltmarktes, als eine Folge der
Produktion, enormer Fabrikmittelpunkte, um diesen
nit Waren zu versehen, von billigen und schnellen Be-
igsgelegenheiten, um die Waren rasch nach einem Mittel-
iringen und ebenso rasch nach allen Seiten hin ausstrahlen
u können. Selbst die schwächsten Anfänge dieser Be-
reichen nicht viel weiter als ein Jahrhundert zurück und
• bedeutendsten Errungenschaften sind erst in der kurzen
Zeit der jetzt Lebenden erworben worden. Man kann
lauben, daß jemals schon eine derartig schnelle, voll-
I, weitreichende Umwälzung stattgefunden habe,
ch sie verändert sich das Aussehen der Erde selbst
physikalischen Formen: politische Grenzen sind aus-
und verlegt worden, als wenn sie wirklich nur ge-
e Linien auf einer Landkarte wären, von allen Welt-
n ist ein Heer von Menschen in den Städten zusammen-
t, Lebensgebräuche wurden mit einer frappierenden
gkeit und Gründlichkeit geändert und auch das Suchen
uen Naturgesetzen wurde außerordentlich angeregt und
Tt und ihre Anwendung auf das Leben ist nicht nur mög-
348 Ludwig GurliU,
lieh, sondern eine geschäftliche Notwendigkeit geworden. Selbst
unsere moralischen und religiösen Vorstellungen und Interessen,
das Konservativste, weil Innerlichste unserer Natur, sind stark
beeinflußt worden. Daß eine derartige Revolution nur äußer-
lich und in oberflächlicher Weise auf die gesamte Erziehungs-
weise wirken sollte, ist imdenkbar.
Vor dem jetzigen Maschinensysteme herrschte das Haus-
halts- tind Nachbarschafts-System. Wir brauchen nur eine, zwei
oder höchstens drei Generationen zurückzudenken, um eine
Zeit zu finden, in der sich die ganze damals gekannte in-
dustrielle Tätigkeit im Haushalte selbst abspielte, oder sich doch
imi diesen gruppierte. Die Kleider, welche man trug, wurden,
nicht nur zumeist im Hause selbst angefertigt, sondern die Fa--
milienglieder konnten das Schaf scheren, konnten die Woli>*
kämmen und spinnen ^und mit dem Webstuhle hantieren. Ansta«^
durch einen Druck auf einen Knopf das Haus durch elektr i*
sches Licht hell erleuchten zu können, hatte man den ganzc=^
langwierigen Prozeß, um Lichter herzustellen, durchführen g' ^'
lernt : das Töten des Tieres, das Aussieden des Fettes, das Dreh^^^
der Dochte, das Formen der Kerzen. Der Bedarf von Zuck^^^'
von Mehl, von Baumaterial, von Möbeln, Türangeln, Här"^^*
mem etc. war in der unmittelbaren Nachbarschaft zu erstehe ^^^^
in Läden, welche fortwährend offen waren, deren Waren m^^^
immer betrachten konnte, und die oft den Mittelpunkt nac ^^'
barlicher Zusammenkünfte bildeten. Der ganze Werdegar»-i^
spielte sich vor aller Augen ab, von der Bebauung des RoX^'
materials auf dem Felde an bis zu dem Augenblicke, wo d^^
fertige Gegenstand dem Gebrauche übergeben werden konnt^-
Aber nicht nur das, sondern in Wirklichkeit hatte jedes Mitglied
der Familie seinen Anteil an der Herstellung mit beigetragen-
Die Kinder wurden mit dem Wachsen an Körperkraft uri^
Verstand allmählich mit den Geheimnissen der verschiedene^^
Arbeitsstufen bekannt gemacht. Sie hatten ein ganz unmittel'
bares, persönliches Interesse an den Erzeugnissen, da sie j^
selbst mit an deren Herstellung gearbeitet hatten.
Hierin liegen so wichtige Faktoren für die Charaktef-
bildung, daß wir sie nicht unbeachtet lassen dürfen: eine E^'
Ziehung zur Ordnung und zum Fleiße, zu dem Gefühle der VC'
antwortung und dem Pflichtgefühle, etwas zu leisten, etwas i^
der Welt zu schaffen. Es gab immer etwas, was getan wcrd^^
\
Di£ SdiuU tmd äM äffmäükä Lthm.
349
uBte. Es war wirklich noiwendig, daß jedes Mitglied des Haus-
Utes seinen Arbeitsteil gewissenhaft und im rechten Zusammen-
mge mit den anderen leistete, Persönlichkeiten, die sich in
trer Tätigkeit hervortaten, wurden bald zum Mittelpunkte der
ätigkeit. Zudem läßt sich die große erziehliche Bedeutung
ichl übersehen, weiche in der genauen Bekanntschaft mit der
^atur liegt : dem Kennen der Wirklichkeiten der Naturprodukte,
lern Rohmaterial, den Erfahrungen, wie sie behandelt und
verwertet werden, welche große soziale Notwendigkeit sie sind
Lud welchen Nutzen sie bringen. Es war eine fortwährende
Erziehung zur Beobachtung^ zum Scharfsinn, zur schaffenden
•mbildungskraft, tum folgerichtigen Denken, zum klaren Ver-
Kide durch diese unmittelbare Berührung mit der Wirklich-
gegeben* Die erziehlichen Kräfte, welche in der haus-
en Beschäftigung des Webens und Spinnens, in der Säge-
Ühle und der Kornmühle, dem Kaufmannsladen und der
:limiede lagen, waren ununterbrochen tätig.
Keine Zahl von Stunden des Anschauungsunterrichtes —
& Anschauungsunterricht bezeichnet, um zu sagen, daß ge-
^t werden soll anzuschauen, zu sehen — kann auch nur den
Katten von den Kenntnissen ersetzen^ die man gewinnt, wenn
El mit den Pflanzen und Tieren im Garten oder auf dem
imde lebt, und für sie zu sorgen hat ; keine Schuleinrichtung,
-Iche den Zweck hat, die Sinnesorgane zu entwickeln, kann
*l auch nur annähernd mit dem vergleichen, was wir an
ärke und Lebhaftigkeit unseres Sinneslebens durch diese tag*
-\xt Beschäftigung und durch das Interesse an häuslichen Ver-
-Itungen gewinnen. Das Gedächtnis kann durch regelmäßige
tjung ausgebildet, ein gewisser Grad von klarem Denken
LTm durch den Unterricht in den Naturwissenschaften und
'der Mathematik erreicht werden, doch ist das alles schwäch*
^li und schattenhaft^ wenn wir es damit vergleichen, wie
Bgere Aufmerksamkeit, unsere Urteilskraft dadurch wächst.
B wir etwas leisten, was einen realen Zweck hat und
B^einem positiven Ergebnisse führt. Die Gegenwart hat durch
li« Konzentrierimg der Industrie und durch die Arbeitsteilung
iie haushalts- und nachbarschaft liehe Tätigkeit vernichtet, wenig-
stens soweit sie für die Erziehung von Bedeutung war. Aber
^S ist zwecklos, über das Schwinden der guten, alten Zeit,
gg Schwinden der kindlichen Bescheidenheit, Ehrfurcht und
350 Ludwig Gurh'tL
des blinden Gehorsams zu jammern, wenn wir erwartea^ daß
durch das Klagen allein und durch Ermahnungen jene Zeiten ru-
rückzubringen wären. Die Grundbedingungen unseres Dasems
sind andere geworden, imd deshalb kann auch nur eine radikale
Änderung unseres Erziehungswesens den neuen Anforderungen
entsprechen. Wir müssen uns über die Frage klar werden:
Welchen Ersatz haben wir für das Verlorene ? Wir sind tde-
ranter geworden, haben an sozialer Urteilsfähigkeit zug^
nommen, haben größere Menschenkenntnis gewonnen,
sind gewandter geworden im Erkennen von Charakter-
eigenschaften imd im Verstehen sozialer Situationen, haben
ein schnelleres Anpassimgsvermögen an verschieden geartete
Persönlichkeiten und eine größere kaufmännische Tatkraft
erlangt.
Diese Eigentümlichkeiten sind von Bedeutimg. für das Stadt-
kind von heute. Aber das ist ein wirkliches Problem: Wie
sollen wir diese Vorzüge beibehalten, und doch in die Schule
etwas einführen, was die andere Seite des Lebens darstellt,
Beschäftig^imgen, welche eine persönliche Verantwortlichkeit
fordern und welche das Kind mit Rücksicht auf das wirkliche,
praktische Leben erziehen?
Wenn wir uns der Schule zuwenden, so finden wir als
eine der auffälligsten Erscheinungen der Gegenwart, die
Einführung des sogenannten Handfertigkeitsunter-
richtes, nämlich das Arbeiten in den Werkstätten und die
Anleitung zu den Haushaltungskünsten, wie Nähen und Kochen.
Das ist nicht ganz bewußt und mit der vollen Erkenntnis ge-
schehen, daß die Schule jetzt diesen Zweig der Ausbildung
zu ersetzen habe, den sonst das Haus übernommen bat,
sondern mehr aus Instinkt, infolge von Erfahrung, indem
man fand, daß solche Arbeit dem Schüler eine höchst wichtige
Stütze gewährte, ihm etwas gab, was auf keinem anderen Wege
zu gewinnen war. Die Erkenntnis der großen Wichtigkeit dieser
Unterrichtszweige ist noch so schwach entwickelt, daß die Auf-
gabe oft nur mit halbem Herzen, etwas unklar und in einer zu-
sammenhangslosen Weise geleistet wird. Die Gründe, nut
denen man dieses Erziehungsverfahren rechtfertigt, sind pein-
voll unangemessen und zuweilen geradezu falsch.
Wenn wir selbst die Leute, welche am meisten geneigt
sind, diese Tätigkeit in unserem Schulsystem aufzunebmtfV
Dit SchuU und das ffßmihckr Lebtn,
351
Bnau über die Gründe ihrer Bereitwilligkeit ausforschen
ürden, so bekämen wir, glaube ich, zumeist den Bescheid, daß
jKe Beschäftigungen das vollste, lebhafteste Interesse und
■ größte Aufmerksamkeit bei den Kindern erweckeii. Es
ili sie frisch und tätig, macht sie nicht passiv^ und träge
id setzt sie in den Stand, nützlicher zu sein, und mehr geneigt,
n Hause zu helfen; es bereitet sie bis zu einem gewissen
rtadc auf die praktischen Aufgaben des späteren Lebens \'or:
ie Mädchen, bessere Leiterinnen des Haushaltes zu werden,
'enn sie nicht direkt Köchinnen oder Näherinnen werden;
ie Knaben — würde unser Erziehungssystem nur entsprechend
El den Handelsschulen weiter ausgebaut und abgerundet! — für
»Ten späteren Lebensberuf. Ich unterschätze den Wert dieser
riinde nicht. Was die Beobachtung anbelangt, wie dieser Unter-
cht das Verhalten des Kindes beeinflußt, darauf werde ich
isführlich in meinem nächsten V^ortrage zurückkommen, wenn
hi von dem Einflüsse der Schule auf das Kind berichte,
tAber trotzdem ist diese Anschauungsart eine ganz unge-
nlich enge und begrenzte: Wir müssen dieses Arbeiten
It Holz und Metall, das Weben, Nähen und Kochen bei uns
aufnehmen, als sei es Lebenszweck und nicht nur ein be-
:nimtes Lehrfach 1
»Wir müssen es in seiner sozialen Bedeutung auffassen^
einen typischen Prozeß, durch den sich die Gesellschaft
ilt, als ein Mittel, in den Kindern das Verständnis
die maßgebendsten Bedürfnisse der bürgerlichen Gesell-
*taft zu erwecken^ und ihnen klar zu machen, wie diese Be-
Bfnisse durch die wachsende Einsicht und den Geist der
«ansehen befriedigt werden können. Kurz und gut, als ein
§' tel, durch welches die Schule selbst zu einem naturgemäßen
fe des Gesamtlebens gemacht werden soll, während sie jetzt
tie abseits liegende Stätte ist^ in welcher man nur seine
Aktionen zu lernen hat.
Eine Gesellschaft ist eine Anzahl von Menschen, die zu-
ttnmenhalten, weil sie nach gleicher Richtung, in gleichem
'^iste und in Erstrebung eines gleichen Zieles arbeiten,
ie gemeinsamen Bedürfnisse und Zwecke fordern einen wach-
^den Austausch der Ansichten und ein Wachsen gleichartigen
lens. Der Hauptgrund, weshalb die Schule von heute sich
iticr natürlichen, sozialen Gemeinschaft nicht ausbilden!
352 Ludwig GurliU.
kann, ist eben der, daß diese Elemente gemeinsamer, produk-
tiver Arbeit fehlen. Auf dem Spielplatze, bei Spiel und Sport
tritt diese gesellige Vereinigung spontan imd unvermeidlich
ein. Hier gibt es etwas zu tun, muß etwas geleistet werden: Die
Arbeitsteilung, das Erwählen von Führern und Helfern, das ge-
meinsame Mitwirken und Nacheifern stellt sich dabei ganz von
selbst ein. In der Schulstube aber fehlt sowohl die Notwendig-
keit wie auch das Bindemittel zu einer gemeinsamen Orga-
nisation. Vom ethischen Standpunkte aus betrachtet liegt die
tragische Schwäche der jetzigen Schule darin, daß sie sich
bemüht, zukünftige Mitglieder des Gemeindewesens in einer
Umgebung zu erziehen, in der die Bedingungen des sozialen
Geistes vollständig fehlen.
Es ist ganz erstaimlich', wie verschieden eine ausgesprochene
Schültätigkeit ist von jeder anderen Art und Weise sich zu
beschäftigen. Der Unterschied liegt sowohl in den Motiven,
wie im Geiste und der ganzen Atmosphäre.
Man trete in eine Küche ein, in der eine Gruppe Kinder
lebhaft beschäftigt ist, eine Mahlzeit herzurichten. Dort, in
der Schtile, ein mehr oder weniger passives, träges Aufnehmen
des Gebotenen, hier ein tatkräftiges, frisches Zugreifen. Die
Verschiedenheit ist so schlagend, daß sie einem auffallen
muß. In der Tat müssen diejenigen, die ein starres, unwandel-
bares Bild der Schule in sich tragen, einen wahren „chock**
bekommen, wenn sie den Unterschied erkennen. Aber die
Verschiedenheit der Bedeutimg dieser Betätigungen für di«
Allgemeinheit tritt ebenso scharf hervor.
Das ausschließliche Aufnehmen von Tatsachen imd Waht''
heiten ist eine so rein persönliche Angelegenheit, daß sie natuT^
gemäß sehr leicht zur Selbstsucht führt.
Es gibt kein einleuchtend gemeinnütziges Motiv *für da^
Ansammeln bloßer Keimtnisse, ebensowenig wie die Allgemein.^
heit einen Nutzen davon hat, wenn es mit Erfolg geschieht ^
In der Tat liegt fast der einzige Maßstab für den Erfolg inr^
Wettstreite und zwar im schlechten Sirme dieses Wortes -
Durch Wiederholungen oder durch Examina wird das Körmer^
der Schüler festgestellt und miteinander verglichen, um zi^
sehen, welches Kind die anderen überflügelt und mit seinencr^
Wissen und seinem Anhäufen der größten Menge von Lerr^'
Stoffen geschlagen habe. So sehr ist die ganze Schulatmosphär ^
Du Schule und äü* SfinUkha Leben,
353
-vtm dieser Vorstellung durchtränkt, daß es für ein Schulver^
Tjrechen gilt, wenn ein Kind dem anderen bei seinen Aufgaben
hilft- Wo die Schularbeit darin besteht, seine Lektion auswendig
zu lernen, wird das gegenseitige Helfen, anstatt die natür-
lichste Form der Zusammengehörigkeit und des gemeinsamen
Wirkens zu sein, ein verstecktes Streben, den Nachbar von
der Erfüllung seiner Pflicht zu befreien* Sobald es sich um
eine praktische Tätigkeit handelt, ist alles anders I Hier ist
anderen helfen nicht eine Art von Wohltätigkeit, welche den
Empfänger herabdrückt, beeinträchtigt, sondern es ist einfach
eine Hilfe, um die Kräfte frei zu legen und die Absicht dessen
zu fördern, dem man beispringt.
Ein Geist freier Mitteilungen, ein Austausch von Ideen,
Anre^ngen und Erfahrungen, sowohl über Erfolge, wie über
^lißerfolge bei früheren Versuchen, werden die vorherrschenden
■terkmale in den Gesprächen sein. Wenn es sich hier um
ein Wetteifern handelt, so ist ein Vergleichen der Persönlich-
Iceiten, nicht etwa in bezug darauf, wie viel jeder an Wissens*
Stoff in sich aufgehäuft hat, sondern um festzustellen, was der
Einzelne geleistet hat, der einzig wahre, echte Maßstab der
Wertschätrung. In einer nicht eigentlich formellen, aber um
so durchdringenderen Weise, organisiert sich so das SchuUebert
-auf einer sozialen Basis.
t Innerhalb dieser Organisation findet sich auch das Prinzip
r Schuldisziplin oder Schulordnung. Naiürlich ist Ordnung ein
Begriff, welcher bis zu einem gewissen Grade relativ ist. Be-
steht das Ziel, welches man tn erreichen wünscht, darin, vierzig
bis fünfzig Kinder eine bestimmte Anzahl \^on Aufgaben so
gründlich auswendig lernen zu lassen, daß sie diese dem Lehrer
aufsagen können, so muß die Disziplin dazu verwendet
^^^rden^ um zu diesem Resultate zu führen. Ist aber das Endziel
^*^ Entwicklung der Kmder zu einem großen, geistigen Ge-
meinwesen, das sich untereinander hilft und miteinander för
^^1^, so muß sich auch eine Schulerziehung herausbildeUj die
aiesem Ziele entspricht. Wo etwas hergestellt wird, ist,
^ gewissem Sinne, wenig Ordnung zu finden — in jedem
'^'^t^eitsraume, in welchem fleißig geschafft wird, herrscht eine
S^'Wisse Unordnung, da ist es nicht still, die Leute beharren.
-lit in vorgeschriebenen Stellungen, ihre Arme sind nicht
Zri I«ch*ift für pldm^jugisclte Ps) eliök*gie» Pathologie und Hygiene- 0
354 Ludwig Gurlüt.
Übereinander gelegt, und sie halten ihre Bücher nicht so oder
so: Sie tun eine Menge verschiedener Dinge, und da herrscht
die Konfusion, der Lärm, die eine Folge dieser Tätigkeiten sind.
Aber aus der Beschäftigung, aus der Arbeit, die etwats
Wirkliches schafft, und indem man sie in einer sozialen, ge-
meinschaftlichen Weise leistet, wird eine Disziplin geboren- j
die ihte eigene Art, ihren eigenen Typus hat. Unser ganz^'i
Begriff von Schuldisziplin verändert sich, wenn wir dieser«^
Standpunkt einnehmen. In entscheidenden Augenblicken wck^"-
den wir uns darüber klar, daß die einzige Erziehung, die stancSi-
hält, die einzige Zucht, die eine iimerliche wird, diejenige h- "•»
welche wir durch das Leben selbst gewonnen haben.
Daß wir durch Erfahrungen und durch Bücher od^^r
durch das Wort anderer lernen — in diesem Falle aber nu^^>
weim es uns durch Erfahrung bestätigt wird — das ist kein^e
leere Redensart. Nun steht aber die Schule so abseits, ist ^^^
isoliert von dem übrigen Leben, dessen Bedingimgen und Grun^id-
Sätzen, daß derjenige Ort, zu dem wir unsere Kinder zur Ei- »
ziehtmg schicken, zugleich der Platz innerhalb der ganzen W^3t
ist, wo es die größten Schwierigkeiten macht, sich Erfahrung ^^
erwerben — die Mutter aller Erziehung, die allein dieses Nanaecms
wert ist. Nur wo eine engherzige und starre Auffassung d^r
herkömmlichen Disziplin herrscht, ist man in Gefahr, die tiefex"«
und unendlich vielseitigere Bildung zu übersehen, welche man
erwirbt, indem man an einer schaffenden Tätigkeit teilnimmt,
indem man einem Ziele zustrebt, das, obgleich es dem Geiste
nach ein soziales ist, doch greifbar und fühlbar in der Forna
ist, einer Form, deren Herstellung das Verantwortlichkeits-
gefühl entwickelt und die Urteilskraft stärkt. —
Das Wichtigste bei Einführung verschiedener praktischer
Tätigkeiten in die Schule ist, daß dadurch der ganze Geist der
Schule erneuert wird. Es wird der Schule dadurch die Möglich-
keit geboten, sich mit dem Leben zu verbinden, des Kindes Heim
zu werden, worin es durch ein wohlgeleitetes Leben lernt ; anstatt
nur ein Ort zu sein, in dem man seine Aufgaben lernt, die eine
abstrakte und nur entfernte Verbindung haben mit irgend einem
möglichen Berufe in femer Zukunft. Es wird dadurch' der Schule
die Möglichkeit geboten, eine Miniaturgemeinschaft, eine em-
bryonische Gesellschaft zu werden. Das ist die Grundidee, auf
Du Sekt4ie und das äjknl^ke LebetK
355
r sie sich aufbauen muß, und aus dieser entwickeln sich
unausgesetzt neue Quellen methodischer Belehrung,
Jnter dem so geschilderten industriellen Regime nimmt
ind an der Arbeit teil, nicht um zu arbeiten, sondern
Resultates willen, das erreicht werden soll. Diese vor-
iebenen Ziele sollen etwas Wirkliches, aber doch Neben-
iches. Untergeordnetes sein. Alles, was in der Schule durch
besprochene Handtätigkeit geleistet wird, darf in keiner
ökonomisch ausgenützt werden* Die Bedeutung dieser
febung liegt nicht in dem wirtschaftlichen Werte des Her-
Uten, sondern in der Ausbildung der sozialen Kräfte und
hten* Durch dieses Freisein von engen Nützlichkeits-
ichten» durch dieses Offensein für die Betätigung des
blichen Geistes wird es erreicht, daß diese praktischen
keilen sich mit der Kunst verbinden, und daß die Schulen
Mittelpunkte für die Naturwissenschaften und für die
ichtsforschung werden.
:ine Verbindung aller Naturwissenschaften findet sich im
ndlichen Unterrichte, Die Bedeutung dieses Unterrichtes
darin, daß er die Erde als das Heim aller menschlichen
keil darstellt. Die Welt ohne ihre Beziehungen zur menscH-
Tätigkeit ist weniger ah eine Weh. Menschen-Fleiß und
ingen sind, wenn sie nicht in der Erde wurzeln, kaum
tedanke, ja kaum ein Name. Die Erde ist der Urquell
menschlichen Nahrung, sie ist sein beständiger Beschützer,
Zuflucht, das Rohmaterial für all seine Tätigkeit und die
t, zu deren Verschönerung und Idealisierung er all sein
en anwendet, Sie ist das große Feld, die große Mine,
oße Kraftent wicklerin von Wärme^ Licht und Elektrizität,
roße Schauplatz von Meer, Strom^ Berg und Ebene, von
unser Ackerbau, unser Bergbau, unser Bauwesen, all
Fabrikbetrieb und der dazu gehörige Handel nur ein-
Elemente und Faktoren sind. Nur durch die Tätigkeit,
lirch diese Umgebung bedingt wird, hat die Menschheit
lisiorischen und politischen Fortschritte gemacht. Nur
' diese Art von Arbeiten ist sie zum Verstehen und zu
greifenden Erkenntnis der Natur gekommen. Durch das,
iiT auf der Erde und mit der Erde tun, Jemen wir sie
ihen und ihren Wert schätzen,
,uf die Erziehungsfrage übertragen bedeutet das: diese
8"
356 Ludwig GurUU,
Beschäftigungen haben nicht zum aUemigen Ziele die Bei-
bringung praktischer Handgriffe und einer größeren Gewandt-
heit — das Gewinnen einer größeren technischen Fertigkeit etwa
für Köche, Schneider, Zimmerleute — sondern sie sollen auch
der lebendige Mittelpunkt sein zur Erwerbung naturwissensdiaft'
lieber, gründlicher Kenntnisse der Weltkörper, sie sollen der
Ausgangspunkt sein, von dem man die Kinder zu dem Ver-
ständnisse aller geschichtlichen EntwicMung der Menschheit,
führt. Diese tatsächliche Bedeutung kann besser durch ein
Beispiel aus dem vorgeführten Schulleben bewiesen werder^,
als durch eine allgemeine Besprechung. Es wird dem nonn?i-l
begabten Besucher kaum etwas einen merkwürdigeren Eindruck
machen, als wenn er Knaben sowohl als Mädchen von zehn, zw(>lf
und dreizehn Jahren beim Nähen und Weben beobachtet B^
trachten wir diese Tätigkeit nur von dem Standpunkte aus, da^
sie die Kinder geschickter machen soll, sich selbst einmal Knöp£e
anzunähen und Flicken einzusetzen, so ist das eine so eng"'^,
so kleinliche Auffassung, daß sie kaum berechtigt ist in das
Schulleben mit aufgenommen zu werden. Aber betrachten wix
sie von einem anderen Standpunkte, so finden wir, daß diese
iTätigkeit den Ausgangspunkt bildet, von dem, weiterschreitend,
das Kind den Weg nachgehen lernt, den die Menschheit in
seiner gesellschaftlichen Entwicklimg genonunen, indem es sich
zugleich eine gründliche Kenntnis des Materials, das es ver-
arbeitet, und der mechanischen Grundelemente erwirl^. An
der Hand dieser Beschäftigungen wird die geschichtliche Ent-
wicklung der Menschheit rekapituliert. Zum Beispiele: Den
Kindern wurde zuerst das Rohtnaterial gegeben, der Flachs,
die Baumwollpflanze, die Wolle, wie sie vom Rücken des Schafe
kommt (könnten wir sie mit zu dem Platze nehlmen, wo <bs
Schaf geschoren wird, so wäre das noch besser); dann wird
das Material genau in bezug auf seine Verwendbarkeit unter-
sucht, wozu es sich am besten eignet. Zum Beispiel: I^
Baumwollfasem werden mit den Wollfasem verglichen. Ich
wußte nicht, bevor die Kinder es mir gesagt haben, daß der
Grund der späten Entwicklung der Baumwollindustrie im Ver-
gleich zur Wollindustrie darin zu suchen ist, daß sich die
Baumwollfaser so schwer aus der Samenkapsel lösen läßt.
Die Kinder einer Gruppe konnten während dreißig Minuten,
in denen sie die Baumwollfasem von den Samenkapseln vxA
£>i0 Scknie amd das SffimUtcke LebcK,
357
em Samen befreiten, noch nicht ganz eine Unze gereinigten
tleriales liefern.
Es war ihnen leicht verständlich^ daß ein Mensch mit seiner
Hände Arbeit im Tage nicht mehr als ein Pfund auslösen
konnte, und sie begriffen, weshalb ihre Vorfahren wollene
^|tt baumwollene Kleidung trugen. Außer anderen Ursachen,
^Bcfae die Venvendbarkeit der Baumwolle beeinträchtigen,
Taeden sie heraus, daß die Baumwollfasem im Vergleiche tn
den Wollfasern sehr kurz sind — jene sind kaum ein Zehntel
JjoXi lang, während diese einen Zoll Länge haben — , rudern
^■d die BaumwolLfasern glatt und haften nicht aneinander,
iRhrcnd die Wolle eine gewisse Rauhheit besitzt, infolgedessen
Easern zusamine^nhalten : eine große Erleichterung für das
n) Die Kinder erwarben, erarbeiteten sich diese Kennt-
selbst durch ihre Beschäftigung, der Lehrer half nur durch
Fragen und durch Winke nach,
Sie machten dann Schritt für Schritt die notwendigen Pro-
zesse durch, um die Fasern in einen Stoff zu verwandeln. Sie
IjH^nden wieder die ursprüngliche \ orrichtung. um die Wolle
^^kämmen: zwei Bretter^ in denen Nadehi befestigt waren,
übet welche man die Fasern zog, Sie dachten sich wieder die
einfachste An des Spinnens der Wolle aus: ein durchlöcherter
Stein oder ein anderer schwerer Gegenstand, durch welchen
der Faden gezogen ist, und der, indem er gedreht wird den
Faden herauszieht; dann kam die Spindel daran. Die Kinder
hielten die Wolle in den Händen, das Ende des herausgezogenen
Kens w^urde um die Spindel gelegt und diese zog, indem sie
auf dem Fußboden drehte, den Faden immer länger und
celre ihn zugleich auf sich auL Nun werden die Kinder mii
den nächsten Erfindungen auf diesem Gebiete in historischer
Reihenfolge bekannt gemacht, indem sie selbst versuchen,
selbst ausprobieren. Sie sehen die Notwendigkeit einer Ande-
rung, einer Vervollkommnung ein, und lernen die Fortschritte
schätzen, und das alles nicht nur mit Bezug auf diesen einen
Zweig der Industrie^ sondern auf die Entwicklung des ganzen
menschlichen Daseins, In dieser Weise w4rd ihnen der ganze
Werdeprozeß bis zu der jetzt erreichten Vollkommenheit des
Webstuhls mit dem Hinweise auf die Naturwissenschaften
fgeführt, die es uns ermöglichten, bis zu diesem Grade zu
;pn ?* h brauche nicht erst die Wissensgebiete aufzuzählen.
358 Ludwig GufUtL
welche bei dem Studium der Fasern in Betracht kommen, \
in dieses mit eingeschlossen sind: die Erdkunde, die Ber-
gungen, unter welchen das Rohmaterial wächst, werden be-
sprochen, über die großen Mittelpunkte für die Herstellung det
Waren und über deren Vertrieb wird berichtet. Die Physik,
die physikalischen Prinzipien, auf denen die Maschinen be-
ruhen, müssen erklärt werden, aber ganz besonders muß imme^
wieder das historische Moment hervorgehoben werden, deX
Einfluß, den diese Erfindungen auf die Menschheit gemaclx^
haben. Man kann die ganze Geschichte der Menschheit in dcm3
Entwicklungsgang, der die Flachs-, BaumwoU- und Wollfaserxi
zu Kleiderstoffen werden läßt, zusammenfassen. Ich will nichi^t
behaupten, daß das der einzige oder beste Ausgangspunkt sei -
Aber es ist sicher, daß sich von ihm aus sehr bedeutend.«
Ausblicke auf die Geschichte der Menschheit gewinnen lasseia^^
daß man so viel sicherer die fundamentalen, beherrschendexi
Strömungen kennen lernt, als durch das Studium der zeitge-
nössischen, chronologisch geordneten Dokumente, was im all-
gemeinen als Geschichtsforschung gilt.
Nun läßt sich das, was wir an dem Studium der Faser
bis zu deren Verwandlung in ein Gewebe, (ich habe natürlich
nur ein bis zwei elementare Entwicklungsstuf«! besprocheff)
an Beobachtung gewonnen haben, bis zu einem gewissen Grade,
auf jedes Material in jedem Gewerbe und auf jeden Entwick-
lungsgang anwenden. Eine Tätigkeit, wie die hier be-
sprochene, gewährt dem Kinde ein echtes Ziel; sie gibt
ihm zunächst Erfahrung und bringt es in Verbindung mit den
Wirklichkeiten des Lebens; aber all das wird noch weit über-
wogen durch die Bedeutung, welche sie gewinnt, wenn wir
sie auf ihren historischen und naturwissenschaftlichen Wert
einschätzen. Mit dem Wachst des kindlichen Geistes an Kraft
und an Kenntnissen, hört sie auf für dieses nur eine ange-
nehme Beschäftigung zu sein — sie wird mehr und mehr ein
Mittel zum Zweck, ein Werkzeug, ein Organ, und wird hier-
durch von Grund aus verwandelt. —
Andererseits übt das seinen Einfluß auch auf den natur-
wissenschaftlichen Unterricht aus. In den gegenwärtigen Ver-
hältnissen muß jede praktische Tätigkeit, um erfolgreich zu sein,
auf die eine oder andere Weise einen naturwissenschaftlichen
Untergrund haben; sie soll eine Art angewandter Naturwissen-
iHf Schuh Hftd t/ai vfftiUkke l^^n.
359
Schaft sein. Und dieser Zusammenhang soll den Platz be-
men, welchen sie in dem Erziehungsplane einnimmt. Es
delt sich indessen nicht nur darum, daß die Beschäftigungen
im sogenannten Handfertigkeitsunterrichte oder die sonstigen
praktischen Arbeiten in der Schule die Gelegenheit bieten in
die Natur^vissenschaften einzuführen, welche die Tätigkeit
durchleuchten, mit innerer Bedeutung erfüllen^ sie wichtig
werden lassen, anstatt daß sie so nur ein Beweis sind von
der Geschicklichkeit der Hand und der Sicherheit des Auges,
sondern das Gewinnen solch gründJicher, naturwissenschaft-
I licher Kenntnisse wird zu einer unentbehrlichen, freien, tätigen
eilnahme am modernen sozialen Leben führen.
Plato spricht von dem Sklaven, als von einem Menschen,
welcher in seinen Handlungen nicht seine eigenen Ideen aus*
drückt, sondern die eines anderen* Es ist unsere soziale Auf-
gabe heute, und 2war dringlicher als zur Zeit Piatos, darauf
hinzuwirkenj daß der, welcher eine Arbeit leistet, sie mit Ver-
ständnis leiste, indem er sich klar wird, über die Methode,
die er anwendet, und über den Nutzen dessen, was er anfertigt,
^uf daß ihm seine Tätigkeit selbst etwas bedeute.
^V Wird nun die Schularbeit in dieser breiten, großherzigen
IkVeise betrieben^ so überrascht es mich immer wieder auf das
äußerste, den Vorwurf hören zu müssen^ daß diese Beschäf-
tigungen nicht in die Schule hineinpaßten, weil sie materia-
listisch, auf einem Nützlichkeitsprinzipe beruhend, und in ihrer
Tendenz geradezu niedrig waren. Es kommt mir vor^ als wenn
die Leute, welche solche Einwürfe erheben, in einer ganz
anderen Welt leben müßten. Die Welt, in welcher die meisten
von uns leben, ist eine Welt, in der jeder seinen Beruf, seine
Tätigkeit, also etwas zu leisten bat* Einige sind die Führenden,
die anderen Umergeordnete, Aber die Hauptsache sowohl für
den einen, wie für den anderen ist, daß er eine Erziehung
erhalten hat, die ihn befähigt, in seiner täglichen Beschäftigung
das zu sehen, was von großer, für die Menschheil wesentlicher
_Bedeutung in ihr enthalten ist.
Wie viele der Arbeiter sind heutzutage nur ein Anhängsel
Maschine, an welcher sie hantieren I Das mag teilweise
Maschine selbst zuzuschreiben sein, oder dem Regime,
Iches so großen Wert auf die Leistungen der Maschine legt;
360 Ludwig GurliU,
aber die größte Schuld ist darin zu suchen^ daß man dem
Arbeiter nicht Gelegenheit geboten hat^ in seinem Geiste «od
in seinem Gefühle das Bewußtsein von der sozialen und natur-
wissenschaftlichen Bedeutung seiner Arbeit auszubilden. Gegen-
wärtig werden diejenigen geistigen Fähigkeiten^ auf d^tien sich
unser ganz industrielles System aufbaut, während der Schul-
periode entweder gänzlich vernachlässigt oder geradezu ge-
hemmt.
Ehe wir nicht in den Jahren der Kindheit imd der Jugend
die Triebe des Schaffens und Herstellens systematisch aus-
bilden, ihnen eine allgemeine soziale Richtung geben, sie be-
reichem durch historische Erläuterungen, leiten \md verkläret*
durch naturwissenschaftliche Kenntnisse, eher sind wir nicht i^c^
der Lage, die Quelle unserer wirtschaftlichen Übelstände aucfc
nur einzudämmen, geschweige denn diese Übelstände grünet*
lieh zu beseitigen.
\
Wenn wir einige Jahrhunderte zurückgehen, so finden
die Wissenschaft tatsächlich monopolisiert. Der Ausdnic^
„Besitzergreifen von Wissen** war in Wahrheit ein gut gewählte^-
Das Lernen war eine Standesangelegenheit. Es war dies eim^^
natürliche Folge der sozialen Verhältnisse. Es gab keine Mögf ■
lichkeit, die Mittel zu beschaffen, durch welche die Meng'-^
Zutritt zu den geistigen Hilfsmitteln erlangen konnte. Das ge-
sammelte Wissen war aufgespeichert und versteckt in dei*
Manuskripten. Von diesen waren in den besten Fällen docb
auch nur wenige vorhanden und es bedurfte einer langen, müh-
seligen Vorbereitung, um etwas mit ihnen anfangen zu können-
Eine hohe Priesterschaft des Gelehrtentums, welche diese
Schätze von Wahrheiten behütete und sie, unter sehr strengei*
Beschränkungen an die Massen verteilte, war die imvermeid-
liehe Folge dieser Vorbedingungen. Es war ein unmittelbarer
Erfolg der industriellen Umwälzung, von der wir bereits ge-
sprochen haben, daß hierin ein Wandel eintrat. Die Buch-
druckerkunst wurde erfunden; Gedrucktes wurde ein Handels-
artikel: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen vervielfältigt und in^
Preise billiger. Infolge der Erfindung der Lokomotive un<l
des Telegraphen wurden schnelle, billige und bequeme Ver-
bindungen durch die Eisenbahnen und durch Elektrizität ge-
schaffen. Das Reisen wurde erleichtert, Freiheit der Bewegung
Die Schule und das öffentliche Lehen. 3^1
jr Begleiterscheinung, dem Austausche von Ideen, un-
gefördert. Der Erfolg war eine geistige Revolution,
ssen fing an zu zirkulieren. Während noch jetzt — und
es voraussichtlich immer sein — eine bestimmte Men-
isse die Forschung als eigentliche Arbeit betreibt, gibt
ellos keinen bestimmten Stand von Unterrichteten mehr,
re ein Anachronismus I Wissenschaft ist nicht länger ein
jlicher, starrer Körper, sie ist flüssig geworden und
nun frisch in alle Kanäle der menschlichen Gesell-
US.
ist erklärlich, daß diese Umwälzung in bezug auf die
chaft auch einen bedeutenden Einfluß auf das Ver-
er Individuen ausüben muß. Geistige Reizmittel strömen
1 Seiten auf uns ein. Das avsschließlich geistige Leben,,
en nur hinter den Büchern und für die Gelehrsamkeit
jetzt eine ganz andere Wertschätzung. Akademisch und
haben aufgehört Ehrentitel zu sein, werden allmählich
rücken des Tadels.
das fordert eine Änderung im Schulwesen, und zwar
gründliche, daß wir noch weit davon entfernt sind, uns
e volle Ausdehnung klar zu sein. Unsere Schulmethoden
zu einem sehr hohen Grade unsere Lernstoffe sind
erbt von einer Zeit, wo das Lernen und Beherrschen
• Hilfsmittel, die tatsächlich den einzigen Zugang zum
gewährten, von allergrößter Wichtigkeit waren. Die
jener Zeit sind noch sehr im Schwange selbst dort,,
äußere Methode und das Lemgebiet geändert worden
'ir hören zuweilen, wie das Einführen des Handfertig-
*rrichts, der Kunst und Naturwissenschaften in den
:ar- und selbst in den höheren Schulen mit der Be-
g abgelehnt wird, daß sie darauf hinleiteten, Spezia-
tszubilden, und daß dadurch' unser jetziges Streben nach
ifassenden, reichen Geistesbildung beeinträchtigt würde,
im Gegenteil gerade unsere jetzige Erziehüngsweise,^
höchsten Grade spezial, einseitig und engherzig ist.
ne Erziehung, die fast ausschließlich von dem mittel-
chen Begriffe des Wissens beherrscht wird. Es
5, was sich fast nur an den intellektuellen Teil unserer
an unseren Verstand wendet, an unserh Wunsch, zu
362 Ludwig GurUU,
lernen^ Kenntnisse anzusammeln und eine Menge überlieferten
Lehrstoffes auswendig zu können; nicht aber erweckt es den
Trieb und die Fähigkeit etwas zu machen, etwas vorwärts zu
bringen, zu schaffen, zu bilden, weder Nützliches noch Künst-
lerisches. Gerade die Tatsache, daß Handfertigkeiten und Kunst-
fertigkeiten und die Naturwissenschaften zurückgewiesen wer-
den, als technische Lehrfächer imd angeblich zum Spezialismus
verführend, liefert den schlagenden Beweis für die Einseitigkeit,
mit der unsere Schulerziehung geleitet wird, und zu welcher
sie verführt.
Weim der Begriff „Erziehung" sich nicht ausschließlich
richtete auf intellektuelle Bestrebungen, auf Lernen, so würden
diese Lehrstoffe und diese neuen Methoden willkommen ge-
heißen und mit der größten Bereitwilligkeit in den Lehrplan
aufgenommen werden.
"Während die Ausbildung für einen eigentlichen Gelehrten-
beruf als der Urtypus der Kultur, der allgemeinen, imifassenden
Bildung gilt, wird diejenige zum Mechaniker, Musiker,
Notar, Arzt, Landwirt, Kaufmaim oder Eisenbahnimtemehmer
als eine ausschließlich technische, berufsmäßige angesehen. Die
Folge davon ist, wie wir ringsum beobachten köimen, eine
Teilung der Menschen in „Gebildete" und in „Arbeiter", eine
Trennung nach Theorie und Praxis.
Kaum ein Prozent der ganzen Schulbevölkerung in Amerika
erreicht das, was wir höhere Bildung nennen, nur fünf Prozei^^
erreichen unsere Hochschule, während viel mehr als die Hälfte
die Schule verlassen, wenn sie oder bevor sie den fünfjährige^
Elementarunterricht absolviert haben. Daraus läßt sich wol»!
der Schluß ziehen, daß bei der großen Mehrheit der menscb'
liehen Wesen, die rein geistigen Interessen nicht vorherrscheii^
sind. Sie haben mehr sogenarmte praktische Anlagen iin^
Interessen. Bei vielen, die einen angeborenen Trieb nact"
geistiger Bildung haben, verbieten die sozialen Verhältnis^^
eine entsprechende Ausbildung. Folglich verläßt weitaus d^^
größte Teil der Zöglinge die Schule, sobald sie die Grun^
elemente des Unterrichts gewonnen, sobald sie soviel lesel^
schreiben und rechnen gelernt haben, als sie später brauche^^
um sich eine Lebensstellung zu schaffen.
Die Schule und daf öffentliche Leben, 353
Während die Leiter unseres Erziehungswesens über höhere
»bildung, über Entwicklung der Persönlichkeit etc. etc.
den Zweck und das Ziel des Unterrichts sprechen, be-
:htet die große Mehrzahl derer, welche sich dem Schul-
nge unterwerfen, diese nur als ein praktisches Werkzeug,
dem man Brot und Butter genug erwirbt, um das enge,
gliche Leben etwas breiter zu gestalten. Wenn wir unsere
iehungs-Grundsätze und Ziele in einer weniger exklusiven
auffassen lernten, wenn wir in den Erziehimgsplan den
affenstrieb ziehen würden, welcher bei denen vorherrscht,
*n Hauptinteresse das Schaffen, das Tun ist, so würden wir
en, daß der Einfluß der Schule auf die Zöglinge ein viel
lafterer, andauernderer und veredelnderer sein würde.
Warum habe ich nun diese ausführliche Auseinandersetzung
jetragen? Eine zweifellose Tatsache ist, daß imser soziales
en eine durchgreifende, radikale Veränderung er-
en hat. Wenn unsere Erziehung von irgend welcher Be-
:ung für unser Leben sein soll, so muß sie eine ebenso
idliche Verwandlung durchmachen. Diese Verwandlung
1 nicht plötzlich vor sich gehen, ist aus inneren Gründen
it in einem Tage auszuführen. Sie ist jetzt schon im Werden.
Neueinrichtimgen in imserm Schulbetriebe, welche oft
st denen, welche in unmittelbarer Berührung mit der Schule
en, geschweige den Zuschauem als kleine, nebensächliche
nderungen, unbedeutende Verbesserungen in dem Schül-
hanismus erscheinen, sind in Wirklichkeit Anzeichen und
^eise einer Entwicklung. Das Einführen von praktischen
:häftigungen, des Studiums der Natur, der Elemente der
urwissenschaften, der Kunst und der Geschichte, das Zu-
:drängen der bloßen Hilfsmittel und des Formalen in die
ite Reihe, die Veränderung in der moralischen Schulatmo-
ire, in dem Verhältnisse der Schüler zum Lehrer, d. h. in der
dpiin, das Hereinziehen frischerer, ausdrucksvollerer und
jhlicherer Lehrfächer, das alles sind nicht Zufälligkeiten,
lern die Folge der großen sozialen Umwälzung. Wir
sen nun diese neuen Einflüsse organisieren, müssen sie
iier ganzen Bedeutung erfassen und müssen die in ihnen
altenen Ideen und Ideale in ihrer ganzen Tragweite voU-
men und durchdringend von unserm Schulsysteme Besitz
eifen lassen.
364 Ludwig GurliU,
Das tun bedeutet, daß wir jede \inserer Schulen zu emetr"^ac^
Gemeinwesen im Kleinen machen, in welchem die einieln^=" '^n
Glieder sich in praktischer Arbeit betätigen, dem L^ben df=^— r
größeren Menschengemeinschaft entsprechend, und das durcW ■^-
tränkt ist von dem Geiste der Kunst imd der Wissensdmt ^^.
Wenn die Schlile jedes Kind der menschlichen Gesellschaft
einem Mitgliede einer solchen Gemeinschaft erzieht und en
wickelt, ihm den Geist des Gehorsams ins Herz pflanzt,
es ausrüstet mit der Kraft der Selbstbeherrschung, so sind ue
damit die tiefsten und besten Garantieen für eine Menschheit {
geben, die tüchtig, liebenswert und harmonisch sein wird.
k
Sitzungsberichte.
P8ycliolos:i8che Oesellschaft zu Berlin»
Ordentliche Generalversammlung vom 19. März 1903.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fiat au.
Schriftführer : Herr G i e r i n g.
)er Vorsitzende eröffnet die Sitzung um 7,30 Uhr. Er verkündet die
iimc folgender Mitglieder :
Dr. Friedmann, NW., Wilhelmshavenerstr. 33,
Dr. Edel heim, W., Habsburgerstr. 4,
Ingenieur Serenyi, S., Bärwaldstr. 52,
Kaufmann Assroann, Westend,
odann verliest der Schriftführer den Tätigkeitsbericht über das Vereins-
1902/3; derselbe wird von der Gesellschaft einstimmig genehmigt,
to der Kassenbericht, den Herr Bärwald erstattet. Die Entlastung
orstandes wird nach einer lang ausgedehnten Debatte durch Majoritäts-
luß erteilt. ^
"JB folgte die Neuwahl des Vorstandes. Derselbe setzt sich folgender-
a zusammen:
I. Vorsitzender: Herr Th. S. Fla tau,
n. Vorsitzender: Herr M. Dessoir,
I. Schriftführer: Herr Möller,
n. Schriftführer: Herr Martens,
Kassenwart: Herr Därwald,
I. Bibliothekar: Herr Gramzow,
n. Bibliothekar: Herr O. Rosenbach.
Schluß der Generalversammlung 10 Uhr.
i9serordentliclie Generalversammlung vom 2. April 1903.
Beginn 7% Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fiat au,
Schriftführer: Herren Möller und Martens.
Q der auf der Tagesordnung stehenden freien Diskussion über die
inge in der letzten Generalversanmilung gibt Herr Th. S. Flatau
ide Erklärimg ab, die den Mitgliedern später gedruckt zugestellt
Nachdem ich mich seit Jahren mit der Phonographie experimentell
eschäftigt hatte, erfuhr ich aus einer Fachzeitschrift von der £r-
ndung 'des Prager Ingenieurs Cervenka. Ich wandte mich an ihn^
366 SämmgaierkiSe.
mn einen seiner Apparate za erhalten, bekam aber die Auskunft, daß
dies vorerst nicht mögiich sei, weil das Besitzrecht an eine Gesellschaft
übergegangen sei Dagegen erkläne sich Herr Cervenka bereit,
mir sein Verfahren in vissenschaftüchon Interesse zu demonstrieren.
Ich begab mich dazu nach Prag und habe dort das System des Herrn
Cervenka geprüft. Ich habe nicht nur die Konstruktion seines Appa-
rates kennen gelernt, sondern auch eine Anzahl von Aufnahmen selbst
gemacht oder nach eigener Angabe in meiner Gegenwart herstellen
lassen. Ich habe femer die Technik und den Veriauf des Verfahrens
beobachtet und endlich habe ich es mir aiigclegen sein lassen, die
Ausführung in den einzdnen Stadien selbst zu eiiemeiL
Weitere Arbeiten bezogen sich auf den neuen Abgabeapparat und
auf verschiedene Einzelheiten der Häfsteile in konstruktiver und funk-
tioneller Hinsicht.
2. Nach dieser Prüfung und ihren Ergebnissen fühlte ich mich dorchaos
berechtigt, Herrn C. zu einer Vorführung seines ApjpaanXts einxnladen.
Diese Vorführung war ursprünglich für die Internationale M1lsikg^
Seilschaft allein geplant. Für die Psychologische Gesellschaft hatte
ich — auch nach der Vereinigung beider Gesellschaften für die D^
monstration und die \*orträge am 6. Februar — eine Reihe von Vor-
führungen in kleinerem Kreise in Aussicht genonunen.
3. Daß Herr C. bei seiner Vorführung am 6. Februar sich auf sdnmdäre
Aufnahmen beschranken würde, ist nur nicht mitgeteilt worden; i^
habe es erst nachher erfahren und würde es nicht für korrekt haluSr
wenn Herr C. den Sachverhalt in der Versammlung nicht zum Ab^
druck gebracht hatte. Nach seiner Aussage ist dies jedoch geschehefl-
4. In meinem \'ortrage und bei anderen Gelegenheiten vor- wie nadibcf
habe ich darauf hingewiesen, daß Herr C. auf meine Veranlassung ^
Erlaubnis zum Bau und zur Hergäbet eines großen photophonographisdtfD
Apparates für weitere Untersuchungen und für wissenschaftlicbe Vor-
führungen in kleinerem Kreise von seiner Gesellschaft hat ervirken
.wollen. Das ist seither geschehen. Herr C. hatte mir dieses Exen^
bei seinem Hiersein für Mitte Mai in Aussicht gesteUt. Nach neuester
Mitteilung hat indes Herr C. die Arbeiten so weit beschleunigen könneit
daß der Apparat voraussichtlich noch in diesem Monat hier eintreten
wird.
Sobald dies geschehen, werde ich die Angelegenheit in geeignet
Weise weiter verfolgen. Ich sehe aber zunächst davon ab. mich ^
Erörterungen in der Tagespresse zu beteiligen, da die Einwendeng*-
die dort gegen den Photophonographen erhoben worden sind, ohc^
genaue Kenntnis des Apparates und ohne das Mittel
Kontrolle weder begründet noch widerlegt werden können.^
An diese Erklärung schloß sich eine lebhafte Diskussiao
Schluß der Sitzung 97* Uhr.
SitsungsberühU. 367
Sitzung vom 30. April 1903.
Beginn l^j^ Uhr.
Vorsitzender: Herr Th. S. Fiat au.
Schriftführer : Herr M a r t en s.
Der Vorsitzende verkündet die Aufnahme folgender neuer Mitglieder:
Dr. Hennig, W., Hohenstaufenstr. 79,
Dr. med. Thiele, Charlottenburg, Pestalozzistr. 87a,
Dr. Wünsche, Hof Zahnarzt, W., Potsdamerstr. 20.
lann hält Herr Dr. Tr eitel als Gast den angekündigten Vortrag:
Über die neueren Theorien der Schallleitung
und -empfindung.
Die H e 1 m h o 1 1 z ische Theorie ist nicht imstande, manche krankhaften
icheinungen bei Erkrankungen des Ohres zu erklären. Daher kamen
L^c Ohrenärzte auf den Gedanken, sie nachzuuntersuchen. So ist z. B.
Gehör durch manche groben Veränderungen des Ohres (Verdickimgen,
L2iehungen u. a.) nicht gestört, aber auch bei fehlendem Trommelfell und
r^örknöchelchen nicht in dem Maße herabgesetzt, wie man es erwarten
te. Bei Mittelohrerkrankungen ist die Hördauer durch den Knochen ver-
gert, was nach der Helmholtzischen Theorie sich nicht erklären läßt.
Deshalb haben einige Ohrenärzte angenommen, daß das Trommelfell
>st den Gehörknödhelchen nur dazu dient, die langen Wellen der tiefen
Cfte zu dämpfen und das innere Ohr vor zu starken Tönen zu schützen,
t tiefen Töne werden durch das runde Fenster übermittelt, während die
^en direkt durch Molekular-Schwingungen des Knochens zur empfindenden
mbrau des inneren Ohres geleitet werden. Bei dieser Auffassung würde
ti ,die Verlängerung der Knochenleitung besser erklären, indem die
xnpfung der großen Schallwellen fortfällt.
Auch die Resonanztheorie des Trommelfells wird bestritten, femer selbst
: der Basilarmembran mit ihren Nerven. Einige Forscher nehmen an,
i Membran im ganzen schwinge. (Autorreferat.)
An der Diskussion beteiligte sich Herr Theodor S. Fiat au.
Nach Schluß der ordentlichen Sitzung folgt eine
Ausserordentliche Generalversammlung.
Der I. Vorsitzende, Herr Th. S. Fiat au begründete seinen und des
^samten Vorstandes Rücktritt mit folgender Erklärung.
„M. H. Als ich dank Ihrem mir erwiesenen, ehrenvollen Vertrauen
Q Schlüsse des vorigen Semesters die auf mich gefallene Wahl zum ersten
(Ersitzenden der Gesellschaft annahm, habe ich die Erklärung daran ge-
■l^lossen, daß, wenn ich genötigt ^erden würde, persönlich in die Polemik
•^treten, die man in der Tagespresse gegen unsere Sitzung vom 6. H.
J. begonnen hat, ich unbedingt, sowohl im Interesse der GesellschaH't,
'® m meinem eigenen, mein Amt in Ihre Hände zurückgeben würde.
*cse Möglichkeit ist jetzt so nahe gerückt, daß ich im Sinne jener Er-
*nnig jetzt handeln zu sollen glaube. Die anderen, mit mir wieder in
^ Vorstand gewählten Herren haben sich in der Angelegenheit des Rück-
^ mit mir solidarisch erklärt, damit Sie durch eine jetzt vorzunehmenidq
358 SüaungshcrickU,
Neuwahl die Leitung unserer Gesellschaft einem vollkommen neuen -^^^
neutralen Vorstand übertragen können. Wir versprechen Ihnen aber ^^.xs
ohne Mandat eines Amtes für die Gesellschaft weiter zu arbeiten und ^^^
neuen Vorstande an der Hand zu sein."
Die Versammlung wählte darauf als neuen Vorstand folgende Hex-^«i;
I. Vorsitzender: Herr Albert MoU^
n. Vorsitzender: Herr A. Vierkandt>
I. Schriftführer: Herr R. W. Martens,
n. Schriftführer: Herr A. Vierkandt,
I. Bibliothekar: Herr W. Neumann,
n. Bibliothekar: Herr R. W. Martens,
Schatzmeister: Herr P. Möller.
Schluß der Sitzung 10 Uhr.
Sitzung vom 14. Mai 1903.
Beginn 7V4 Uhr.
Vorsitzender : H err Moll.
Schriftführer: Herr Martens.
Der Vorsitzende teilt mit, daß zur Aufnahme gemeldet ist:
Herr Referendar Dr. Lasker, W., Bülowstr. 98.
Sodann hält Herr Gramzow den angekündigten Vortrag:
Ober Gustav Ratzenhofer und seine positivistische
Wcltansicht.
Gustav Ratzenhofer wurde am 4. Juli 1842 zu Wien als Sohn e^^^
Uhrmachers geboren. Er erlernte die Kunst des Vaters, um einst dc^^*"
Geschäft übernehmen zu können. Als der Vater starb, waren die \^^'
mögensverhältnisse so mißlicher Art, daß G. R. nicht an die Vtnnt^'
lichung der gefaßten Lebenspläne denken konnte. Im Jahre 1859 traf
er in das Heer ein, machte den Feldzug in Italien mit, wurde nach f^
entbehrungsvollen Jahren zum Leutnant befördert, erwarb sich durch Privat-
fleiß die Reife für die Militärhochschule, machte 1866 den Feldzug fssg^
Preußen mit, wurde nach der Schlacht bei Königgrätz Oberleutnant, kaoi
dann in den Generalstab und brachte es auf der Stufenleiter des militaiiicbe&
Ranges zum Feldmarschallleutnant und Präsidenten des Militär-Obergericbts
üi Wien. Aus dieser Stellxmg trat er im Jahre 1901 in den Ruhestand
Seiner beruflichen Entwickelung ging stets eine innere wissensdtfft*
liehe parallel Den Boden der Staatswissenschaften betrat er suent '^
Jahre 1881 mit seiner Schrift „Staatswehr**. Seine vergeblichen Be-
mühungen, auf die verworrenen Veniältnisse Österreich-Ungarns durch
Belehrung einzuwirken, führten ihn zu gnmdlegenden Untersuchungen ^^
das Wesen der Politik. Von der wissenschaftlichen Darstellung der Politik
aus baut er sein System in folgender Weise:
Die Politik ist Dynamik der sozialen Kräfte, die sich rücksicbtsl^
gegeneinander messen. Alles Streben des einzelnen wie der GtBO^'
Schäften („politischen Persönlichkeiten*') bt auf Selbsterhaltung gerichtet, ^
Sifsu ngshenckU,
969
Olutes Interesse ist allem Lebenden immanent: Befriedigung der un-
SuBerlichen materiellen BedürfniÄse. Alle politischen Kampfers ctiei»
Jen stehen unter dem polaren Ge^etKe der absoluten Feindseligkeit,
Kampf fordert stets Abscbätzung der eigenen und gegnerischen Kräfte,
i offenban sich das pohtische Denken. Wichtiger als dieses sind die
jchen Urtriebe: I. die eigennütiigen oder materiellen Triebe, 2. die
lisch en Triebe, 3, die imellektuellcn Triebe. Sie bilden lusammen den
jchcn Instinkt.
)as absolute Imeresse ist jedem Lebewesen inhärent. Ursprimg-
sind iwei, durch eine Dominanten struktur festgelegte Interessen-
Ingen i^orhanden : das physiologische und das Gattungsinteresse. Ersteres
tum Individuais letzteres tnm Sozialinteresse.
per Interessen begriff ist der erste sichere Begriff, den wir von der
ächkeit haben. Er führt auf den Begriff der Urkrajft. Es ist die
tlichste Aufgabe des positiven Monbmus, das Kraftpriniip richtig
orm ulier en. Die Urkrafrwresenheit muß im Urkraftatom gefunden werden.
|p diesem ist jede materielle Vorstellungsweise fernzuhalten. Das Ur-
lom ist zu denken als bestehend aus dem -\- Urkrafrpunkt und der
thülle; die Urkraft ist ursprünglich Attraktion und Repulsion lu*
Die Welt strebt jenem Maximum der Entropie zu, bei dem die
sich als starrer + Urkraftpunkt darstellt, das Krafiatom ist datin
icn vorwelilichen Zustand furtickgekehrt. Die Attraktion wird unter^
en durch die Repulsion. Auch das Leben ist eine Erscheinung der
uhion^energie. Auch das Bewußtsein ist nur eine Energieform,
1 der Kritik vergleicht der Vortragende R's. System mit denen von
Hing und Hegel und zeigt, wie das positivistische Gedankengebäude
unverkennbare Ähnlichkeit mit denen der großen Romantiker hat.
hin auf Übereinstimmung und Unterschiede abwischen der Speku-
und der Hypothesenbildung, die sich im engsten Anschlüsse an un*
^dbare Erkenntnistatsachen vollzieht. (Autorreferat.)
Diskuss ionr
err Wilhelm Stern stimmt mit dem Herrn Vortragenden darin
m^ daß das Ratzenhofe r sehe System kein wahrer Positivismüs, son-
dogmatische Metaphysik ist. Er möchte aber das Zeichen hierfür
besonders in Rat^enhofers Hyiozoismus, d. h. in der Annahme,
4ie Materie an sich beseelt sei, finden.
err Dessoir machte darauf aufmerksam, daß nahezu alle vom Vor-
!en erwähnten Gedanken Ratienhofers mit den Gedanken älterer
bsophen identisch eu sein scheinen; er wies im einzelnen nach, daß die
Erstellung fast den Eindruck einer Citatenreihc machte. Demnach rich-
tft er an den V^ ortragenden die Anfrage, ob nach seiner Ansicht das Ver-
Ratzenhof ers in der geschickten Verknüpfung älterer Lehren liegt,
ob und an welchem Punkt eine originale Th^eorie zu finden sei,
err Baerwald warf ein, es liege ein Widerspruch darin, wenn R,
t in seiner Politik den Kampf um die Befriedigung des Stoffwechsel-
nisse5 als einzigen wesentlichen Inhalt der politischen Ent Wickelung
elit^ hinterher aber drei Grundtriebe in ihr anerkenne: den materiellen,
Zdbchrifl für piiUgofische P^ydiologie, PAthologle und Hygiine^ 9
370 SttzungsbeHchte,
den moralischen, und den auf die Durchsetzung von Ideen gerichteten. Hitrin
liegt ein Schwanken zwischen dem geschichtlichen Materialismus und Ide-
alismus.
Herr Gramzow betont Herrn Wilhelm -Stern gegenüber, <U5
es ganz darauf ankomme, ob man Form oder Inhalt meine, wenn maa b^
haupte, daß in der theoretischen Philosophie eigentlich bis zu Sokrates
schon alle Prinzipien erschöpft seien. Hinsichtlich des Inhalts könne man die
Behauptung als zutreffend bezeichnen, hinsichtlich der Form nicht. Dieses
Verhältnis gelte aber nicht nur für die theoretische, sondern auch für die
praktische Philosophie. Gegenüber Herrn Dessoir führt Herr Gramzow
aus: 26 und mehr Autoren könne man bei jedem sog. originalen Denker
heraushören. Absolut neue Gedanken sind heute äußerst selten geworden.
Das Gedankengebiet ist in weitestem Umfaing präoccupiert. Das Neue
liegt in der Aufstellung solcher durchgreifenden Gesichtspunkte, die sich aus
der vorliegenden Gesamterfahrung ergeben und ein einigendes Band aller
Einzelerkexmtnisse bedeuten. In diesem Sinne liegt bei R. das Neue in der
Formulierung des hypothetischen Wirklichkeitsbegriffes der Urkiaft. Der
Vortragende weist femer Herrn Baerwald darauf hin, daß die Lehre R.'s
von den politischen Urtrieben nicht völlig zur Marxschen Geschicbtuuf-
fa^sung hinleite. Vielmehr entspreche R's. Auffassung dem Worte Bert hold
Auerbachs: „Die Idee und das materielle Erträgnis bewegen die
Menschenkraft."
Herr Wilhelm Stern kann der Meinung des Herrn Vortrageaden,
daß es nicht mehr möglich sei, wirklich neue philosophische Prinripien au^
zustellen, und daß alle jetzt aufgestellten Prinzipien bloß der Form nach neu
seien nur in Bezug auf die theoretische Philosophie, also die Metaphysü^
zustinmien. Dagegen gelte dies nicht für die praktische Philosophie, als»
Ethik, auf welchem Gebiete sehr wohl auch inhaltlich neue Grundprinzipien
noch möglich seien.
Herr Gramzow verweist demgegenüber auf seine Ausführungen.
Schluß der Sitzung 9 Uhr.
Sitzung vom 28. Mai 1903.
Beginn TV* Uhr.
Vorsitzender : H err Moll.
Schriftführer: Herr Martens.
Der Vorsitzende verkündet die Aufnahme des Herrn
Dr. Laskfer, W., Bülowstr. 98,
sowie die Meldung der Herren:
Dr. med. Cohn, W., Alvenslebenstr. 4,
Dr. med. Merzbach, N., Chausseestr. 35,
Zahnarzt Dr. Wo hl au er, W., Potsdamerstr. 116,
Gerichtsassessor Riem Schneider, Charlottenburg, Herderstr. 1%
Dr. E. Schmidt, Potsdamerstr. 138,
Dr. med. Gallewski, Assistenzarzt.
SäMtmgsöericki^,
371
iann wird die Verlegung der Bibliathek d<*r Geselhchalt in die oberen
«ne der Akademischen Bierhallen bekannt gegeben. Hierauf hält Herr
Hellpuch den angekündigten Vortrag:
■ über die Aufgaben der Sozialpsychologie.
^pas Aufsteigen der Forschung von der Beschreibung zm Causalver-
9'^^Uig und Gesct2 formulier ung, wie es die Naturwissenacbaften zeigen^
d iüt die Geistes wissehschaften vielfach bestritten, weÜ e* „Gesetze" in
eil nicht geben künne. Der historische Charakter der Geistes wisse n-
aften rechtfertigt dies aber keineswegs. Auch die Naturforschun^ bat
t historische Seite, sie hat EntwickeJujigsgesetze und muß sie haben,
g kein Elementar gesetz, i. B. das von der Erhaltung der Kraft oder
itionsgeseti kann, da es vollgiltig das Universum umfaßt^ den tat*
Wechsel der ,|Gebilde'' der ,,KjältekonstelJatronen" verständlich
££ steht aiso neben der clementarbegrifflichen, die entwickelungs*
ichc (nicht bloß entwickelimgsgeschichtliche I) Forschung; möglich,
er Begriff der 'Entropie hier einmal so fundamental wird, wie der
[riff der Energie in der elementarbegrifflichen Wissenschaft. — Was
^e Naturforschung gilt, gilt auch für die Geisteswissenschaften, Daß die
ftologie eine Wissenschaft im \noOen Sinne sein könne, was noch Kant
piete, bestreitet ihr heute niemand mehr; natnrlich ist alles psychische
cheben nur qualitativ darstellbar. Nun behaupten die Historiker und
pker oft, die psychologischen Gesetze seien wohl denkbar, doch für die
wpwissensc haften nicht zu brauchen. Das ist aber nur ein zeitlicher
Bei: auch heute noch leistet der mechan lache Begriff-^ v^ der Physiologie
Bichts. Zwischen die eixuelnen Geisteswissenschaften und die Psychologie
Psich eben eine vermittelnde Disziplin einschieben t die Sozialpsycho-
fie. Sie wurde als Soziologie von Comtep als Völkerpsychologie von
xams, Steinthal und W u n d t inaisguriert. Die Geschi cht s wissen-
i^ ordnete ihr Lamp^echt ,ein. Es wird heute, nachdem namenthch die
t^gie unendliche Verwirrung gestiftet, nötig, sich über die Aufgaben
ozial Psychologie klar zu werdeti. — Sie ist 1. elementarbegriffliche
aalpsychologie oder Soziologie: als solche zerlegt sie die gegebenen (er-
Een oder überÜefenen) psychischen Gebilde des Gemeinschaftslebens in
mente und sucht unbedingt (für jedes Gemeinschaftsleben) giftige Ge-
le m finden, nach denen jene Elemente in ihren verschiedenen Synthesen
kea* Als solches Gesetz wäre t. B. fürs wirtschaftliche Leben das O p p e n *
im«rsche Druckgeseti ein Typus (gleichgültig ob es incrifft oder
fet) oder das Maltliussche Gesetz, das die historische Nationalökonomie
iehlicb als historisches Gesetz auffaßte. Oder Breyfeigs Trieb sich anzu-
ilitflen und sich abmsondern. Die Sozial psyc hol ogie ist 2, entwickelungs-
Srilfliche: als solche verfolgt und vergleicht sie die Abwandlung sozial-
^chiscber ConsteUationen und sucht fiir sie Gesetze zu finden, Beispiele:
te s i g s Zeitaltergesetz, Lamp rechts vier Stufen des Geisteslebens.
Bc spezielle Arbeitsteilung wurde von Wundt auf Sprache, Mythe,
"Wachränkt. Indessen müssen wir unbedingl das Gebiet der Wirtschaft
^ der Muße (Genuß im weitesten Sinne) hinzugehen. Redner betrachtet
6«
372 Süsungsberichte.
kurz den Stand der Leistungen in den fünf Arbeitsgebieten, soziologisdi u&^
historisch. Eine Soziologie, die noch neben diesen Gebieten steht, da^
Psychologie der „allgemeinsten** sozialen Erscheinungen gibt es nicht; di»^
gehören entweder ganz der Individualpsychologie, oder doch einem jenes'
fünf Gebiete an. — Schließlich behandelt Redner das Problem des „Singa-
lären**, der Individualität: des Restes, der den sozialpsychologischen Ent-
Wickelungsgesetzen nicht subsumiert werden könne. Auch in der Natur gebe
es viele singulare Constellationen (folgt ein Beispiel). Sie können, obwohl
außergesetzlich, kausal verständlich gemacht werden. Die Individualität wird
begriffen durch das Zusammentreffen der Zeitkonstellation (Gegenstud der
Sozialpsychologie) mit einer bestimmten individuellen Anlage (G^^enstand.
der Psychophysik). Das Pathologische ist an sich nicht singnlär; wie weit
es aber angeht, von etwas „Sozialpathologischem** zu reden, bedarf noch leiir
der Abgrenzung. Denn oft werden individualpathok)gi8che Erscheiniingeav
die soziale Ursachen haben, flüchtig „sozialpathologisch*' genannt. Hier
stoßen wir überall auf Dunkel, dessen Erleuchtung vielleicht noch Jahr-
tausende beanspruchen, vielleicht faktisch nie vollendet werden wir&.
Trotzdem muß die prinzipielle Erforschbarkeit gegenüber modisdieo
Bestrebungen aufs Entschiedenste betont werden. (Autorrefent)
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitzung ^fi Uhr.
Sitzung vom 11. Juni 1903.
Beginn 71/4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr Martens.
Der Vorsitzende verkündet die Aufnahme der Herren: Dr. Coho,
Dr. Merzbach, Dr. Gallewsky, Dr. Wohlauer, Gcrichtsassei»*
Riemschneider, Dr. Schmidt.
Zur Aufnahme gemeldet sind die Herren:
Ziegeleibesitzer H e i 1 m a n n ,
Dr. Jacobsen,
Professor Dr. Oppenheim,
Dr. Oppenheimer.
Herr Dessoir hält den angekündigten Vortrag:
Über eigene Beobachtungen an dem Medium
„Eusapia Palladino.'*
Herr Dessoir hat an einer Reihe von Sitzungen teilgenommen, die das
Medium im März 1903 einem Privatkreis in München gab. Er schilderte
zunächst die Persönlichkeit der P a 1 1 a d i n o und die Art ihrer Vorfüh-
rungen. Eusapia Palladino zeigt ihre Wunder immer unter bestimmten,
sich gleichbleibenden Bedingungen und hat ein recht gleichförmiges Pro-
gramm. Sic beginnt — bei hellem Licht — mit Bewegungen des Tisches,
an dem sie und die Teilnehmer sitzen, Bewegungen, die anscheinend ohne
ihr Zutim erfolgen. Dann wird das Zimmer verdunkelt und, während ihn
Hände angeblich gehalten und auch die Füße kontroliert werden» «ird O
SiixungsötHckie,
373
Zimmer ^, lebendig'', als ob Geister darin oder mindestens noch ein
Hätide vorhanden wären. Der Vorhang, vor dem sie sit^i, flarteri hin
CT, Objektei die dahinter stehen, werden auf den Tisch geworfen,
»line» Harmonika tmd Zither werden zum Erkhngen gebracht, die Nacli-
rden benihrt, gezwickt, ^geschüttelt usw. Besonders merkwürdig isl in
1 ganzen Hexensabbath ein gelegentliches Aufblähen des Rockes des
ims, wodurch der Eindruck erweckt wird, als ob eine starke Luft-
ng vorhanden und beliebig zu dirigieren wäre.
k Erklärung, auf die der Vortragende alsdann einging, bezog sich
nur auf die Erscheinungen, die er selbst beobachtet hat, Sie ruhte
tr Voraussetzung, daß zunächst versucht werden muß, jene Vorkomm*
auf mechanische und begreifliche Weise zu erklären. Das wird da-
nahc gelegt, daß nachweislich Eusapia Palladino trot^ der vor-
gegangenen Kleidemntersuchung einmal einen Blumenzweig cingeschmug-
titte und zu Berührungen benuute, vielleicht also auch andere Hills-
tändc an sich verborgen haben mochte. Es gelang dem VortTagenden
b zweitua], für einen Augenblick das wirkende Etwas zu sehen: etwas
Mrzes, stabartiges, das in dem einen Fall freilich auch die Spitze
■tiefeis gewesen sein kann Denn die Kontrolle, die Frau Palladin-ö
Ichließlkh erlaubte, nämlich die Sicherung durch Fassen und Berühren
der Nachbarn ist ganz unzureichend und unzuverlässig. Sie hat frag-
« der Vortragende des näheren erläuterte, mehrere Trics^ durch die
ligstens eine Hand und einen Fuß frei macht, ohne daß die Nachbarn
wohnlich es bemerken können. Einmal hatte sie auch eine Schnur be-
um die Zither heranzuziehen. Stets bringt sie leise und möglichst un-
l^kt die Gegenstände dicht an sich oder umgekehrt sich an die Gegen-
ide heran und beginnt erst dann, sie durch angeblich unbekannte Kraft
wegen. Ihr^i Rock und den Vorhang, hinter dem die Gegenstände
und vor dem sie sich selber befindet, benutzt sie als Deckung j den
lg zieht sie manchmal fest an, so daß er eine schräge Flache bildet^
r füi kurze Zeit leichte Objekte balancieren» die nur in der herrschenden
elheit frei zu schweben scheinen. Die im Hellen erfolgten Tisch-
'egungen lassen sich zumeist durch die bekannte Schwerkraft- und Hebel-
Firnisse erklären; manchmal schiebt das Medium den Rock unter einen
uß und benutzt ihn als Hilfe, manchmal greift, durch das Kleid gedeckt,
stabartige Etwas an den Tischfuß.
Votzdem bleiben einige Erscheinungen übrig, deren Zustandekommen
nicht aufgeklärt werden konnte. Da aber nachgewiesen wurde* daß
Palladino systematischen Betrug übt und zwar in einer Weise,
langjährige Praxis schließen läßt, so würde die Annahme unbekannter^
ausgehender Kräfte oder gar von „Geistern** nur dann erlaubt sein,
5i jene vorderhand nicht aufgeklärten Erscheinungen unter zwingenden
tifigungen sich ereignet hätten. Das war aber nicht der Fall. Vielmehr
c jene „Kraft" jedesmal, wenn strenge Vorsichtsmaßregeln getroffen
ein vom Vortragenden ersonn enes Mittel zuverlässiger Kontrole
e ausnahmlos das Auftreten der Erscheinungen. Unter den Prüfungs-
ingen, die Frau Eusapia PaHadino während jener Sttiimgen
angab, ist eine exakte Feststellung nach des Vortragenden Meinung
374 SitatngsberichU.
überhaupt nicht möglich; das Ergebnis dieser Untersuchungen war sooid
ein völlig negatives. (Autorreferat.)
Die Diskussion über diesen Vortrag wurde auf die nächste Sitzimg
vertagt.
Schluß der Sitzung 8^/4 Uhr.
Sitzung vom 18. Juni 1903.
Vorsitzender Herr Moll, später Herr Möller.
Schriftführer: Herr Martens.
Der Vorsitzende verkündet die Aufnahme der Herren: Heil mann,
Prof. Oppenheim, Dr. Jacobsen, Dr. Oppenheimer, sowie die
Meldung des Herrn Bergassessors Dr. Wolff , Berlin W., Westminsterhotel
Sodann hält Herr Moll den angekündigten Vortrag über:
„Spiritistische Wahngebilde."
Wenn Männer der Wissenschaft an einer spiritistischen Sittung teiV
nehmen, sollten sie ihr Augenmerk nicht nur auf die sogenannten spix^'
tistischen Phänomene richten, sondern auch auf die anwesenden Spiritisten
selbst, deren Beobachtung den Seelenforscher interessante Denkfehler ^^'
kennen läßt und ihm damit eine dankbare Aufgabe bietet. Er erkennt daos^
daß viele Spiritisten zu ihrem Glauben dturch den Einfluß des GeffiUs ^^'
führt werden. Man ist leicht geneigt das zu glauben, was angenehm ist-
So erklärt es sich, daß der Wunsch, die Unsterblichkeit der Seele dargecmn
zu sehen, dazu führt, allerlei Vorkonunnisse als die Wirkung der Gd»«C
Abgeschiedener hinzimehmen. Aber es ist nicht das echte religiöse GefSU»
das die Spiritisten zu ihrem Glauben führt, denn ein solches kann ge«ri0
nicht Erbauung darin finden, daß unsere Toten mit derartig lippiscben
Dingen beschäftigt sind, wie es in den spiritistischen Sitzungen geschieht,
wo die Geister Tische aufheben, einen Anwesenden am Barte zupfen, einen
anderen in der Achselhöhle kitzeln.
Manche, allerdings nur wenige Spiritisten, sind gewöhnliche Geisteskranie»
die bei ihren Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen die Wirkung von
Geistern annehmen. Viele Spiritisten '^sind von einer derartigen intellektuellen
Minderwertigkeit, daß dadurch allein ihr spiritistischer Glauben erklärt wird-
Aber auch Spiritisten, die geistig sonst höher stehen, leiden oft an einer un-
glaublichen Kritiklosigkeit.*) Man denke nur an Lombroso, mit dem Ä^
Spiritisten so sehr paradieren, obwohl gerade diesem Mann, bekanntlich auch
in der Wissenschaft, jede Kritik fehlt. Andere Forscher, die Gelegenheit
hatten, sicli auf einem Sondergebiet der Naturwissenschaft auszuzdcfanen^
halten sich deshalb auch für befähigt, spiritistische Manifestationen kritiscb
zu beobachten; aber nicht der Naturforscher, sondern der Taschenspieler ist
hier Fachmann. Ein Gelehrter erklärte mir, daß, wenn er die Eusapi*
Palladino einige Minuten untersuche, es unmöglich sei, daß sie ein BtD^
bei sich versteckt habe. Jeder, der taschenspielerisch geschult ist, wird deniy
der eine solche Behauptung aufstellt, die Fähigkeit absprechen, spiritistisch^
*) Ich braoche hier du Wort Spiritisten ganz aJlgemoin. nicht nur ftr dloiwiiij A* **?
PhlnooMae Mif Oeitter, 8ondem aaoh fOr die, die lie auf eine beeondwe ptyiwöM Knft •^^
Median» zoEfickffihren.
SitMua^iiKrtehi^^
375
aenc kritisch fu behandeln. Ab«r atich mit Taschenspielern muÜ
vorsichtig' sein» weiui man $ie als Sachverständige zuziehe : daricus
rncum non deam^t. Nur wenn er den wisseJischaftUchen Ernst, wie der
jstofbene BerUncr Taschenspieler Hermann besilil, dann ist er nicht nur
ifch seine Tüchtigkeit* sondern auch duxch seine Aufrichtigkeit befähigt»
Mann der Wissenschaft als Sachverständiger zur Seite tu stehen. Die
pdritivten werfen den Mimnern der Wissenschaft Selbst Überschätzung vor.
^o ist diese aber mehr vorhanden als bei den Spiritisten, die der Meinung
sie kannten nicht getäuscht werden? Die angeblich festgehalten«!
Eiasapia Palladino befreit Hand und Fu0 durch einen Vorgang,
Taschenspielern bekannt ist und ihnen trotzdem manchmal entgeht,
dcnt aber der dünkelhafte Spiritist annimmt, er^ der dreimal Schlaue,
5one nich! getäuscht werden.
Wichtig sind die Sinnestäuschungen, die durch die gespannte Erwar-
tm^ in den Sitzungen begründet werden. Spiritisten ^ehen Erscheinungen
an Stellen, wo für den normalen Menschen volle Dunkelheit herrscht
Sie erkennen genau die Richtung, aus der ein Ton kommt, während der
Mann der Wissenschaft die Schwierigkeit, in der Dunkelheit die Richtung
zu taxieren, kennt. Ebenso wichtig sind die Erinnerungstäuschungen. Nach
den Sitzungen erzählen die Spiritisten die wunderbarsten Dinge, die sie ge-
sehen hätten, ohne daß sie in der Sitzung selbst dies glaubten. Die Er-
innerungstäuschung spielt auch bei den sogenannten Protokollen eine große
Rolle.
Der Spiritismus beruht oft nur auf der Annahme, daß das Medium
nichi tauscht. Wenn; 2. B. die EusapiaPalladino von dem erschwindelten
Geld ihre Angehörigen unterstützte, so meinte ein Spiritist, eine solche
brave Person könne doch unmöglich eine Betrügerin sein, obwohl bekannt
ist, daß auch die niedrigste Prostituierte mitunter das im Dienste der
^I^Cfius vulgivaga erworbene Geld ihren Angehörigen opfert, Charakte»
^^Btisch bt es auch für die Spiritisten, daß sie besonderes Vertrauen den
^^edien entgegenbringen, die ztir „Gesellschaft" gehören. Mir ist ein bezahltes
I Medium, das ich möglicherweise untersuchen kann^ immer noch lieber,
I als Frau von Soundso^ bei der eine genaue Untersuchung nahezu ausge-
^•chlossen ist, und schon der leicht ausgesprochene Verdacht, daß sie be*
^^■ge, den Skeptiker von der Sitzung ausschließen würde. Aber auch
^Bfc bezahlten Medien werden gewöhnlich nicht so untersucht, wie es die
Spiritisten erzählen; da wird der Rock 10 bis 80 Centimeter hochgehoben,
um zu beweisen, daß unter ihm nichts versteckt ist, während dem Fachmann
höchstens eine Untersuchung in einem Kostüm genügen könnte, wie sie
fast in allen Fällen von der Geschlechtsmoral verboten ist; das wissen die
Medien auch ganz genau. Die Erfahruixg von fast 17 Jahren hat mir be-
wies en^ daß es fast unmöglich ist^ unter wissenschaftlichen Bedingungen
spintistische Phänomene zu beobachten. Die Spiritisten und Medien ver-
sprechen vorher, sich allen Bedingungen zu unterziehen; wenn man diese aber
durchführen will, werden allerlei Einwände tmd Ausreden gebraucht.
Mit dtm Spiritisten des richligen Gehimkaltbers ist eine Diskussion
unoiöglich. Wenn heute z. B. ein Ziegel vom Dache fällte so denkt ein
376 SüMungsberichU.
solcher Spiritist nicht an die Schwerkraft der Erde, sondern er erwagt zu-
erst, welches Medium in der Nähe ist und das Herabfallen des Steins be-
wirkt hat. Männer der Wissenschaft stehen auf einem anderen Standpunkt.
Sie schließen auf Kräfte aus Wirkungen, haben aber erst dann die Nei-
gung, eine unbekannte Kraft anzunehmen, wenn sie die Wirkung nicht
mehr auf bekannte Kräfte zurückführen können. Die Spiritisten versteilen
sich allerdings sehr gern in Gegenwart von Skeptikern, indem sie sich wissen-
schaftliche Allüren geben; wenn sie dann aber unter sich sind, so liegt es
anders. Als ich vor einer Reihe von Jahren den Betrug des besten
deutschen Materialisationsmediums Pinkert feststellte, indem ich den
Geist mit AnUin bespritzte uiid den anUingefärbten Stoff später aus der
Tasche des Mediums zog, meinte ein Spiritist, das beweise nichts, ein Ko-
bold habe vielleicht das Fuchsin an den Lappen herangebracht.
Ein weiterer Denkfehler der Spiritisten ist der, daß sie, wenn ein
Mann der Wissenschaft nicht sofort ein Phänomen erklären kann, sagen-
„Sie geben ja selbst zu, Sie können es nicht erklären, es rührt also von
Geistern her" und doch ist es gar nicht die nächste Aufgabe des Mannes der
Wissenschaft zu erklären, wie der Schwindel ausgeführt wird; nach spiri-
tistischer Logik müßte man bei jedem Taschenspielerstück, das man nictit
sofort erklären kann, Geister annehmen. Der Mann der Wissenschaft hat i^
erster Linie festzustellen, ob unter zwingenden Bedingungen dieses od^^
jenes Phänomen zu stände kommt; weitere Aufklänmgen sind Sache d^^
Taschenspielers und des Illusionisten.
Von den dauernd dem Spiritismus Verfallenen sind noch die periodisch.^^^
Spiritisten zu unterscheiden, die nur zeitweise, besonders wenn irgend ^i^
Medium viel von sich reden macht, Opfer des Spiritismus werden. Bilit iha«<>^
ist noch weniger anzufangen, da sie gewöhnlich vierzehn Tage, nachdexz^
sie die Opfer des Schwindels geworden sind, dies schon wieder bestreiten 9
ihre Eitelkeit ist zu groß, um den im Enthusiasmus begangenen Denic-
fehler später einzugestehen.
Trotz aller Schwierigkeit, spiritistische Phänomen wissenschaftlich z^
beobachten, bereue ich es nicht, daß ich so häufig den Versuch dazu gemacht
und daß ich auch das „große" Medium Eusapia Palladino gesehen
habe. Als ich sie aber gesehen hatte, bUeb für nüch als Wunder nur das
eine übrig, daß solch frecher Betrug ernste Männer verführen kann, an eine
imbekanntc psychische Kraft zu glauben, die Tische schweben läßt. Als ein
Wunder kann man es betrachten, daß solch durchsichtiger Hokuspokus
von gläubigen Gemütern als eine Kundgebung der Seelen unserer Abge-
schiedenen hingenommen wird. (Autorreferat.)
Diskussion:
Herr Martens führt an: Da es denkbar wäre, daß hinter den „Phä-
nomenen" des Spiritismus eine unbekannte Naturkraft wirksam sei, wie
z. B. seinerzeit in den Hansen*schen Vorführungen der HypnotisfflttS»
so geht das Bestreben imserer Gelehrten zunächst dahin, dieser Kraft aof
die Spur zu kommen. Nach den beiden gehörten Vorträgen besteht wohl
für uns kein Zweifel mehr, daß bei dem Medium Palladino keine ^'
bekannte oder „überirdische Kraft" wirksam war und daß es sich hier 0(^
lehr oder weniger geachickte Taschenspielcrstückchen handelt. In An-
ht dessen, daß ein leider sehr großer Teil des Publikums an solchen
isniiis glaubt^ wäre wohl eine nicht mehr wegzuleugnende Entlarvung^
löglichst suggestiv auf die Massen wirkt, am Platze gewesen* Redner
diesbezüglich an, warum eine solche mit den voriiigUchen Mitteln
lodernen Technik nicht versucht worden ist, z. B. eine photographische
chtaufnahme unvorhergesehen in dem Moment, in dem Frau Palla-
,,dÄS freie Schweben des Tisches in der Luft'* durch Heraufschnellen
ihrem Ftiße bewerkstelligte.
^err Thiele fragt an: Können für die Betrügereien des Mediums
dl andere Gründe ah Erwerb- und Ruhmsucht angegeben werden,
. psychopathologische Ursachen, bezw. smd in dem Fall der Eusa*
P a 1 1 a d i n o solche, insbesondere hysterische Erscheinungen, seitens
beiden Herren Vortragenden bemerkt worden?
lerr Fenzig (als Gast) wollte, wenn schon nach Prof. Dessoir die
isten für ihre fertige Theorie erst die Thatsachen suchten, den um-
trten Fall illustrieren. Er verlas Briefe eines angesehenen Namr-
lers und escakten Beobachters^ der mit dem Medium Palladino doch
ninderlichsten Phänomen erlebt hatte. Hier suche man für scheinbare
irungstatsachen nach einer vernünftigen^ d. h. antispiritistischen Theorie.
ie Beobachtung wirklich völlig einwandsfrei gewesen, dann dürfe von
rni Betrug doch nicht die Rede sein.
■Jerr Kronenberg beleuchtet die Tätigkeit der Spiritisten, als Beweise
r feststehenden Theorie Kants ,, Träume eines Geistersehers'* zu finden»
err Dessoir crw^iderte auf die Bemerkungen des Herrn Mar*
, da& iwischen dem Hypnotismus und dem Spiritismus für den P'orscher
richtiger methodologischem Unterschied bestehe. In den hypnotischen
nden lagen Tatsachen vor, für die eine Theorie gefunden werden mußte ;
pirilisten dagegen suchen zumeist für ihre Theorie die sie stützenden
ichen, d* h. sie sehnen sich nach einem handgreiflichen Beweis für die
iülche Unsterblichkeit und suchen und finden nun diesen Beweis in
mediumistischen Erscheinungen. Weil der Ausgangspunkt ein Gefühls-
jfnis hl, deshalb halt es so schwer, zu einer gegenseitigen Verständigung
takzsgen. — Auch die Entlarvungen, von denen Herr M. an zweiter
sprach, können die Spiritisten nicht bekehren. Sie geben ja zu^
aucli ihre gefeiertsten Medien vielfach betrügen. Nur fügt eben jeder
: daS| was ich da und dort gesehen habe, war kein Schwindel und
le Kontrole war eine solche« daß jede mechanische Herstellung der Er-
nußgen undenkbar ist. Selbst die Masse des Publikums wird nicht ver-
igei werden, sondern immer nur sagen: wir wollen doch gar zu gera
il selber diese Dinge sehen. Wenn heute Frau Palladino nach Berlin
: wnd von jedem Teilnehmer ihrer Sitzungen 20^ ja selbst 50 Mark for-
, so würden Hunderte gelaufen kommen, nur um einmal selbst dabei
sen zu sein. Welches Interesse soll sie also daran haben, sich den un-
emen Anforderungen der Wissenschaft zu fügen? — Was endlich die
en Blitzlicht aufnahmen betrifft, so sind solche in den Münchener
gen gemacht worden. Sie verstärken den Verdacht der Taschen-
378 SÜMunfrsberichU.
Spielerei, enthalten aber keinen uniweideutigen Beweis, weil sie nur dann
gemacht werden durften, wenn Eusapia Palladino es wünschte. Wire
unversehens photographiert worden, so wäre die erste Aufnahme auch lu-
gleich die letzte gewesen, denn sie hätte sicher jede weitere Sitxong ver-
weigert. Herr Dessoir erwiderte femer auf die dankenswerten BlitteUungcn
des Herrn Dr. Penzig, daß er zunächst die Besorgnis des Briefschreibers,
seine Weltanschauung erschüttert zu sehen, nicht teilen könne. Wie dner-
leits der reinste metaphysische und ethische Idealismus ohne Hilfe spiri-
tistischer Erscheinungen bestehen könne, so sei et anderseits nicht ausge-
schlossen, daß die Erscheinungen — wenn sie mehr als Täuschung und
Selbsttäuschung seien, durch irgend welche Naturkräfte ganz materialistiscb
erklärt werden könnten. Es handle sich vorläufig nur um Tatsachen und
nicht um Weltanschauungen. — Was Dr. Pensigs Gewährsmann erlebt tu
haben glaubt, beruht ganz und gar auf subjektiver Beobachtung. Ja sogar
in dieser Subjektivität sei sie nicht einwandsfrei, da der Gewährsmann immer
noch auf die Kontrole durch einen zweiten Teilnehmer angewiesen gewesen
sei. Völlige subjektive Sicherheit hätter er nur dann erhalten können, wenn
er allein die beiden Hände des Mediums gehalten und ihre Beine fest
zwischen den seinen eingeschlossen hätte. Und selbst diese subjektive Sicher-
heit, die er nie erhielt, wäre kein objektiver Beweps. An der Genauigl^
seiner Beobachtung werde man außerdem durch manche Umstände irre,
z. B. dadurch, daß er von den großen Tatzen des Mediums spreche, wahrend
tatsächlich Eusapia Palladino auffallend kleine Hände hat. Und was nutzt
es schließlich, daß der Gewährsmann „wimderliche" Dinge gesehen hat
imd „ganz verblüfft" worden ist? Er wird ebenfalls durch Taschenspielertriks
und „Illusionen** verblüfft werden und sich unfähig finden, sie „auf natäriidie
Weise** zu erklären. Sein Bericht gleicht aufs Haar den vielen tausendea,
die in den spiritistischen Blättern seit 50 Jahren veröffentlicht werden.
Mit solchen Wundererzählungen wird die Sache nicht um einen Schritt ge-
fördert. Man zeige ein einziges „Phänomen** • unter zwingenden Bedin-
gungen und lasse es immerfort wiederholen. Dann setze die Kausahattf^
suchung ein. Wenn es den Anhängern der Eusapia Palladino nicht
gelingt, sie dazu zu erziehem — vorausgesetzt, daß mehr als Tascbes-
Spielerei bei ihr festzustellen wäre — , so ist keine Hoffnung auf Fördenng
des Problems. Bleibt es bei den wirren und schlecht beaufsichtigten Pro-
duktionen, so dürfen sich die Spiritisten nicht über die Wissenschaft b^
schweren, die damit nichts anfangen kann.
Herr Egbert Müller führt an: Die wissenschaftlichen Forscher er-
fassen immer nur den getrübten Spiritismus der Spiritisten, nicht die Waren,
realen, von allem Beiwerk abgelösten spiritistbchen Vorgänge. Daß wir es
hier nut Geistwesen zu tun haben, ist evident, da die Vorgänge auf Ersuchen
geschehen (Geist-occulte intelligente Kraft). Zur Möglichkeit ernster Be
schäftigung mit dem Spiritismus gehört, daß das Medium willenlos ist,
femer sind nötig: Unabhängigkeit, völlige Muße, Geld-
Herr Moll erwidert Herrn Thiele, daß die Eusapia Palladino
natürlich des Geldes wegeh ihre Sitzungen abhält, sie läßt sich sehr gut
bezahlen; sie tut es keineswegs etwa, um den Glauben an die Unsterb-
Stitun^sA^rickifiy
379
Mtikfeit «u verbreiten* Was die Fjnage ihrer krankhaften Veranlagung tae-
triüt, so macht sie einen stark hysterischen Eindruck und soU auch nach
atersuchnng anderer, die sie kennen, hochgradig ^hysterisch sein.
Schluß der Sitzung 91/4 Öhr.
Sitzung vom 25, Jtini 1903.
Beginn 77^ Uhr.
Vorsitzendex r Herr Moll
Schriftführer: Herr Martens
Zur Aufnahme gemeldet ist Herr Dr, Ertist Cohn, Schöneberg,
5.
Herr Gtisindc hält den angekündigten Vortrag:
^_ Beiträge lur Methodik das Schulgesangunterrichts in
^P ästhetischer und psychologischer Hinsicht.
^ Das MusikaUsch^Schöne des Gesanges tritt uns in Form von Liedern ent-
gegen. Jedem Licde liegt eine Melodie xu Grunde, d. h. eine tonisch und
thythmisch geordnete Folge von Tönen, die einen musikalischen Gedanken
ausdrücken. Wenn die Melodie nur von einer Stimme gesungen wird, so
haben wir die homo|)hone, wenn sie von mehreren Stimmen gesungen wird,
die polyphone Kunstfomi, Schließt die Melodie befriedigend ab, so entsteht
em Satz. Läßt uns der Schluß unbefriedigt, dann nennt man die ent-
tprechende l'onfolf^e einen Gang. Verbmdet man zwei Sätze miteinander,
^Jaxm entsteht die Periode, Durch die Vereinigung zweier Perioden ergibt
^^Bi dus iweiteibge, durch Verbindung iweier Sätze das einteilige Lied.
^&em Liede wie jeder Melodie hegen bestimmte Motive zu Grunde, die
Tofiischer und rhythmischer Art sind. Diese Motive, die an sich der weit-
gehendsten Veränderung unterworfen werden könne n» stellen die Einheiten
des G^angsstückes dar. Sie sind die Vorbedingung für das ästhetische Ge-
italieii des Komponisten. Je kunstreicher ihre Veränderung und Verknüp-
ftiftg 2ti einem wohlgegliederten organischen Ganien dem Komponisten ge*
lifigt, desto wertvoller ist sein Kunstwerk. Jedes Kunstwerk der Musik er-
scheint als eine Vielheil, in der reicher Wechsel und passende GegensatJEe
m der Mannigfaltigkeit der musikalischen Einzelheiten vorhalten. In der
Gruppierung dieser Einj^elheiten tritt eine gewisse Sinnigkeit, ja Idee zu
'Eftge, Stellenweise tritt jtuweilen recht wirkungsvoll eine beabsichtigte Wieder-
holung ^^ wie ein Refrain — auf. Die Regulär ität als Moment eines Gesangs
«ttickes ist notwendig ; als absolute Regel, in der das tonische und rhythtnische
Element auf geh t> ist sie jedoch verwerflich. Sie wäre etwas unfreies, indem
sie den Komponisicn beim Gestalten einengen würde. Man denke hier an
da*, was Wagner in seinen „Meistersingern** bei der Melodie: „Wonnig-
lieb leochtend usw/', gesungen von Walter Stoltzing und dem Stadtschreiber,
%o trefflich ausführt. Beim Komponisten kommt es vor allem darauf an, die
«cböae Mannigfaltigkeit) die sich nicht allein in der sinnreichen und kun^t-
voil€D Bearbeitung der Motive, sondern auch auf die Wecbselwiii£tmgi:fl
lonischef] und rhythmischen Elements be;fieht, zum Ausdruck zu bringen.
380 SüzHHgsberichU,
Aus dieser Mannigfaltigkeit muß hinwiederum die beabsichtigte R^[ularb
tat zu erkennen sein. Das Kunststück an sich stellt sich in einer ungesuchten
naturgemäß sich ergebenen Symmetrie dar. In der Wirkung auf den Zu-
hörer kommt endlich die Harmonie zum Ausdruck. Unter Harmonie verstehe
ich nicht allein etwas rein Äußerliches, nicht lediglich die sogenannte enge
(z. B. c, e, g.) oder wieite Harmonie (c, g, e.), sondern das gesamte Kunst-
werk in seiner Beziehimg auf unsere Psyche. Da muß zunächst vermerkt
werden, daß gar bald ein gewisser Unterschied, eine Disharmonie resp.
eine Entzweiimg der wesentlichen Elemente entsteht, die schließlich den
ärgsten Konflikt frei erzeugt, (der sozusagen durch sich selbst überwunden
wird. Im Kleinen stellt schon die Melodie dieses Verhältnis dar. Die Melodie
begreift in sich ein tonisches und ein rhythmisches Element. Beide Elemente
stellen gewissermaßen ihre eigenen Forderungen auf, die zu erfüllen sind.
Die Melodie irrt gewissermaßen vom Grundton ab, steigt bis zur Dominate
empor, wo wir nur eine unvollkommene Befriedigung finden und kehrt
dann schließlich zimi Grundtone wieder zurück, wo ihre beiden Elemente
sich nüt innerer Notwendigkeit vereinen und in uns das Gefühl der B^
friedigung wachrufen. In Bezug auf das tonische Element handelt es sidi
darum, gewisse Töne in der Tonfolge zu bevorzugen, resp. besonders in Er*
scheinimg treten zu lassen; beim rhythmischen Element handelt es sidi
jedoch um die regelmäßige oder absichtlich verzögerte Wiederkehr voa
schweren und leichten Taktteüen in gleichmäßigen Zeiträumen. Beim Vor*
halt z. B. geht das Tonstück aus der Konsonanz in die Dissonanz (Vorhalt)
über, deren Übergang in die Konsonanz vom Komponisten absichtlich ver-
zögert wird, um unser Verlangen nach der Konsonanz gewissermaßen za
potenzieren, so daß schUeßlich der Eintritt der Konsonanz umsomehr b^
friedigen und beruhigen muß. Je größer die Aufregung, desto angenehmer
und wohltuender die Beruhigimg. Man denke hier z. B. an Beethovens
Symphonien, insbesondere an die neunte Symphonie. Hier opfert der gro6e
Komponist scheinbar die Regularität und Symmetrie untergeordneten Be-
ziehungen. Die Instrumentalmusik zeigt scheinbar die größte Verwirrungi
und doch liegt ihr die größtie Klarheit zu Grunde. Es toben die tonischen
Elemente gegeneinander und gegen die Rhythmik, und doch versöhnen sie
sich schließlich, reichen sich gewissermaßen immer wieder gegenseitig die
Hand zur Eintracht. Je größer und gewaltiger die Disharmoiüe ist, über
die schließlich die Harmonie triumphiert, desto größer die Wirkung des
Tonstückes, desto bedeutender der Genius, der es erzeugte. Wie steht
es nun mit der Wirkxmg des Liedes in seiner Totalität auf die Psyche des
Menschen? Jedes Lied, und wenn es auch noch so klein ist, ist lyrischtf
Art. Es enthält ein bestimmtes, individuelles Gefühl, das ihm der Genius
gewissermaßen eingehaucht hat. Es ist ein Stück inneres Leben,
das der Komponist zimi Ausdruck bringt. Leben aber erzeug^ Leben, d. b.
das in einem Liede zum Ausdruck gebrachte individuelle Gefühl erzeugt in
Zuhörer verwandte Gefühle, denn wir Menschen fühlen im allgemeinen unter
gleichen Gesetzen. Die Herzen der Menschen stehen einander näher als
die Köpfe; es besteht ein geheimes Band zwischen Ton und Herz. Der
Gesang ist die Sprache des Gemütes, die austönt im Anmutigen, Andäch-
tigen, Edlen, Sanften, Erhabenen, Heiteren, Traurigen, Schmerzüchen; ftber
Smungs^rühU.
381
CS bt nicht wirklidie Trauer» kein wirklicher Schmerz, der in Erscheiötiög
tritt, sondern es sind deren Substitute» das dem Geist des Menschen Ange-
messene oder das ihm Widerstrebende, das ihn Befriedigende oder Niclit-
befriedigende^ dms sich in der Psyche des Menschen xur Geltung bringt»
An sich betrachtet hat der Gesang keine sittliche Kraft; er bringt musi-
kalische Gedanken^ nicht Grundsätze der Moral mm Ausdruck. Indem er
aber musikalisrhc Gedanken mm Ausdruck bringt, bildet und fördert er
den Menschen in ästhetischer Beziehung. Der ästhetisch gebildete Mensch
»it aber für die Lehren der Moral empfänglicher, weil er sich vom Rohen
and Gemeinen, di^ beim Verstoß gegen so viele Maximen der Moral sEum
Atisdnick kommt, abgestoßen fühlt. Wenn es richtig ist, was soeben betont
winde, daß der Gesang bestimmte musikAÜscbe Gedanken zum Ausdruck
bringt^ so muß hier glaich hinau gesetzt werden, daß Gesangstücke resp.
Lieder nur dann die beabsichtigte Wirkung erzeugen» wetm diese Gedanken
in ihrer Totalität und organischen Gliederung sofort in Erscheinung treten.
Leider ist die derzeitige Behandlung von Liedern vielfach eine solche, die den
Forderuungen der Ästhetik wie denen der Psychologie zuwiderlauft. In den
FÖT den Gesangunterricht bestimmten Lehrbiichern resp. Anweisungen liest
Qiaii recht häufig die durchaus verkehrte Forderung, eine Melodie in ihre
Teile zu zerlegen, jeden Teil für sich einzuüben und zum Schluß erst die
^an2c Melodie lu singen.
Wer ein Ästhetisch -Schönes in Teile zerlegt, nimmt ihm seine geheimnis-
volle Wirkung, Wollte man z. B, G ö t h e s Denkmal im Berliner l*ier-
garten zerstückeln, oder den ^,Christus von T h o r w a 1 d s e n** in Teile zer-
legen, so wäre augenblicklich das Geheimnis des Schönen, das diese Kunst
\*rerkf- umgibt, vernichtet. Nun muß ja zugegeben werden, das bei Schöp-
ftmgen der darstellenden Kunst das Sinnwidrige der Zerstückelung h^icbter
einzusehen ist, als bei Werken der übrigen Kunstzweige, Dennoch bleibt
much hier bestehen^ daß ein Kunstwerk nur als Ganzes entsprechend wirken
katm. Wer z. B. den ersten Teil einer Melodie singt, immer wieder nur
allein singt, beendet ihn jedesmal bewußt oder unbewußt in unbefriedigter
Weise. Sein eigenes musikaÜsches Gefühl drängt ihn» nach Fortsetzung und
Vervollständigung von musikalischen Gedanken. Indem diesem Gefühl aber
Zwang angeun i*ird, wird es verletzt resp. abgestumpft. Es bleibt schließ-
Jich ein Reflex zurück, nämlich eine Schwächung des natürlichen Drängens
nach Vervollstä-ndigung von musikalischen Gedanken. Damit ist der
Schulung des Geistes zur Erfassung musikalischer Gedanken geradezu zu-
widergehandelt. Zudem handelt es sich bei d^r Kunsterziehung um die
EntWickelung der Fähigkeit, sich mit dem Künstler (Komponisten) im
Denken und Empfinden bis zu einem gewissen Grade zu identifizieren
und den ins Kunstwerk hineingelegten geistigen Gehalt aufs neue m der
eigenen Seele erstehen zu lassen, sowie um die Entwickelung des lebendigen
Gefühls der Befriedigung und Freude über das Kunstwerk. Auch die
Melodie ist ein Kunstwerk. Als solches stellt sie dar eine Verbindung von
Geistigem und Formularem zu völliger Einheit, worin etwas Geheinmis-
voUes liegt, das die wunderbare Macht begründet, mit der uns ihre Schön*
^wt ergreift. Diese gehe imnis volle Wirkung rufen aber nicht Teile der
^■elodic, sondern ganze Melodien hervor, Nur die ganze Melodie erweckt
^BS Gefühl der Lust und Freude am Schönen, während beim mühseligen
382 SiimngsbeHekie,
Einpauken ihrer Teile Lust und Freude beein^chtigt werden. Wer ei^c^
Melodie zerstückelt und ihre einzelnen Teile mühsam den Kindern rinrttifl^Uz. i
bandelt den Gesetzen der Ästhetik und Kunsterxiehung zuwider. Er nim^:^^
ihr den poetischen Hauch und beeinträchtigt ihre ästhetische Wirkung g^k^^
wesentlich, hebt sie teilweise vielleicht gar auf; er verhindert mehr od.^
weniger den Kunstgenuß und lehrt die Kinder, sich dem KunstschöK^^^
nicht zu-, sondern abzuneigen. Das Schöne will geschont sein. Die ^^^.
lodie muß als Ganzes aufgefaßt und empfunden werden. Somit hat ^.^
Gesangunterricht die Pflicht, diese Tatsache zu beachten, resp. die üf ^
lodie als Ganaes dem Schüler zu übermitteln, was jedoch nicht ans8chlie(^c,
daß etwaige Schwierigkeiten für die Auffassung vorher sinnig hinweg-
geräumt werden können. Durch entsprediende Treffübungen an der Sing^«-
maschine erweckt man das Gefühl der Lust und Freude am Schön^^^
während es beim mühseligen Einpauken der einseh&en Teile eines Lied.^
beeinträchtigt wird. Da eine Melodie als Kunstschones im Gesänge nicS=3t
zerstückelt werden darf, muß dafür gesorgt werden, daß A-"*^
Kinder zuvor fähig gemacht ^werden, sie als Ganzes zu effass^^^
Das geschieht durch zweckmäßige Vorübungen, wobei an bereits l^»^-
kannte, bis zur völligen Treffsicherheit geübte Intervalle und Tonfo^^*
schritte angeknüpft und allmählich so weit gegangen wird, bis die Kind.*^
die schweren Intervalle der Melodie selbständig treffen. Diese Vofübmg^^
sind so zu halten, daß sie den Charakter von technischen Übungen i:>^
wahren und den musikalischen Gedanken, der in der Melodie liegt, nicl^t
erkennen lassen. Da auch die Rhythmik einer Melodie erfaßt werd^^Q
muß, empfieht es sich, auch rhythmische Vorübungen vorzunehmen. Die^c
sind indessen weniger schwierig als die tonischen und können vorerst dnrch
bloße Schall Wirkungen erregt z. B. durch das bloße Klopfen mit dem
Finger auf die Bank udgl., gekennzeichnet werden.
Zur Behandlung einer Melodie gehört notwendig, daß auch das Au^
des Kindes betätigt werde. Das Kind soll mit dem Auge den Bau eines
Gesangstückes erfassen lernen, dabei gewinnt es eine tiefere Einsicht io
die Gesetze der Harmonie und Formenlehre der Musik. Das geistige
Leben des Kindes erfährt einen wesentlichen Zuwachs, indem der Blick
für das Musikalisch-Schöne erweitert wird; denn dieses besteht nicht nur
in den Tonverhältnissen an sich, sondern auch im Bau des Gesangstuckes,
sowie in der Folge, Anwendung, Verbindung und Zahl der einzelnen Motive.
Es handelt sich hier nicht allein um ein ästhetisches Gefallen, sondern auch
um ein ästhetisches Denken oder richtiger gesagt um ein Denken über die im
Liede verkörperte Ästhetik. So bilden und entwickeln wir nicht nur das
Gefühl, sondern auch den ästhetischen Sinn des jugendlichen Geistes. Frei-
lich kommt es bei der Notation auch darauf an, das Kunstschöne des
Liedes durch Zeichen, deren Anblick nicht das ästhetische Gefühl def
Schüler trübt, sichtbar darzustellen, d. h. die Noten und Hilhzei£he&
müssen ein ästhetisches Aussehen haben. Die mit Kreide auf eine Hote*
tafel geschriebenen Noten geben nicht einmal eine deutliche und klare Vef^
anschaulichung ab. indem sie keine deutlichen und scharf umgrenztoi Fonn^
darstellen und in Bezug auf die Farbe das umgekehrte Verhältnis, nioslicb
weiße Noten auf schwarzer Fläche, zum Ausdruck bringen. Die durch
Sämm^&^ricktf.
383
*otaljtÄf bewirkten äußeren Reize sind nicht dexart, daß man behaupten
If durch ihre Anwendung auch äußerlich ästhetisch auf die Kinder
Krken. Im Gegenteil solche Noten entsprechen dj^n äußeren Be<
^en für atthetische Erziehun£ nicht und erzeugen im Geiste de&
notwendig eine Disharmonie, die dem durch die Melodie cricugten
eben Gefühl widcrstr eitel und es ungünstig beeinflußt. Nachdem der
llische Teil eines Liedes behandelt ist, kommt seine Verbindung mit
ext an die Reihe. Es wird dadurch eine für den Stimmapparat aus
lischen Gründen durchaus erwünschte Ruhe geboten; denn e^ ist
Hdig, den Text zunächst zu einem akzentuierten sprachhchen Aus^
m bringen. Um jedoch nicht mißverstanden zu werden, betone ich
kkhch^ daß eine besondere sprachliche Behandlung des Textes nicht
Gesangslunde gehört. Die besten Texte sind die> die unmittelbar
dden werden; denn auch der Liedertext sotl ästhetisch wirken und
üs Sprachlich-Schönes geschont werden. Auch er wird in seiner To«
ästhetisch am intensivsten wirken. Im Verhältnis zur Melodie be>
l, erweist sich der Text als eine fremde Zugabe; deim die Musik
i indifferent gtgctt die durch den Text gekennzeichnete Materie. Gute
l behält auch ohne Text, sowie bei einer Verbindung mit mange)-
Text ihren Wert, Das aber Ist richtig, daß der Text die Wirkung
iusik erhöht; die durch ihn erzeugten Regungen da Geistes ver-
Ichaften sich mit denen der Musik, geben gewissermaßen die Motive
musikalischen Empfindungeu an, so daß der Geist des Menschen zu
areu und unmittelbaren Regungen geführt wird, wodurch Sänger wie
^r veredelt, vom Rohen und Gemeinen hinw egg eführt^ ästhetisiert,
hinsichtlich der ästhetischen Gefühle geläutert und hinsichtlich des
sehen Sinnes gekräftigt und gefestigt werden. Von besonderem Werte
Ten Gesang ist die Pflege der verschiedenen Einsätze, des festen, alU
ichen und hauchenden Einsatzes. Ist der hauchende Emsatz sorgfältig
t dann wird es z, ß. auch möghch sein, Gesangstücke, die mit einem
beginnen, so zu behandeln, daß die Schüler diesen Vokal mit
nüem Einsatz singen, was für den Vortrag wertvoll Ist* Der all-
phc Einsatz wird nach vorausgegangenen Atemübungen^ bei denen
Itlich auf einen ruhigen, gleichmäßigen Ausfluß des Atems zu halten
i Übungen im crescendo und decrescendo» beim gleichmäßigen Ge-
langer Töne mit ruhiger, aber sicherer Stimme günstige Wirkungen
1, Was beim Verhallen eines Gesangsstückes ästhetisch wirkt, das
Übergang aus einem Zustand in den andern, das Werden als Ver-
Beim Abtönen aber^ wobei der Klang verhallt, wird unser ibthe-
Gefühl nicht immer befruchtet, wenn es, wie das ja auch beim Ver-
geschehen muß, sorgfältig geübt ist. Soli aber der Vortrag eines
^Stückes in seiner Totalität ästhetisch wirken» dann darf es an der
lidigen Korrektheit, wobei weder etwas hmxugefügt werden darf, was
if^eseu des Gesangstückes fremd ist, noch etwas fortgelassen werden
was zum Musikaliscb-Sc honen gehört, sondern eine seelenvolle Ge^
^ des Vortrags, die von einer geistlosen, bkißen regulären Vortrags-
woh! zn unterscheiden ist, nicht fehlen. Die richtig verstandene Kor-
k hat mdessen nüt jener Verbildung des Schönen, wobei unnötige
384 SitMungrsAertckte,
Kleinheit herrscht, wo Nebensachen in ein unrichtiges Verhältnis lu Hi«.^p|.
Sachen treten, oder eine bloße willkürliche oder alltagliche Vortrags» ^^^3^
zur Geltung kommt, nichts zu tun.
Obwohl in den bisher angeführten Erörtenmgen bereits verBchiec^ne
psychologische Fragen neben solchen, die sich auf die Ästhetik des Gesai^c»
beziehen, gestreift worden sind, wäre es dennoch zweckmäßig, hier auf
gewisse Forderungen, die man im Interesse der Pflege der edlen itzmci
hochbedeutsamen Sangeskunst zu stellen hat, einzugehen, wenn nicht cÜ^
Zeit erheblich vorgerückt wäre. Es sei darum nur kurz hier noch darauf v^^'
wiesen, daß die unterscheidende Tätigkeit des Ohres, die Abmessung. <l.^^
Intervalle frühzeitig, mindestens aber mit dem Beginn des zweiten Sch«.^'
Jahres, geübt werden muß. Ebenso ist das Treffen in der Zweiftimmigk^'g^^
und in Akkorden tüchtig ^u üben, freilich erst auf spateren Unterrich'^^'
stufen. Dabei ist darauf zu halten, daß sich die Kinder nicht sU^''^^^
der einzelnen Töne in Akkorden, sondern auch ihrer Gesamtheit als Akk» ^^^
bewußt werden müssen, wobei es zunächst auf die Vermittelung bestimme ^^'^
psychischer Grundvorsteilungen ankommt. Die Violine muß im Gesanv^ -^'
Unterricht möglichst zurücktreten, weil man die Töne nicht in die Kbp^ ^ ^
der Kinder hineingeigen soll. Die Kinder haben ein Musikinstrument *^
ihren Ohren und werden dies am besten durch eigene Tätigkeit gebrauch^^^^
lernen. „Was die Kinder selbst finden können, soll man ihnen nic:=- ^^^
geben", sagte der alte Dieter. Auf den Gesangunterricht angewcnd-^^^ *»
heißt dieser Grundsatz : Da die Kinder die Töne in ihrer gegebenen FoL ^^^^
selbst finden können, soll man sie ihnen weder vorsingen noch vorgeig^^^^-
Entwickelung von innen heraus, das ist eine Forderung, die auch für <l,^^'*
Gesangunterncht Geltung hat. Wie diese Forderungen praktisch am besc^ ^^^
zu verwirklichen sind, habe ich eben im Gebrauch der von mir erfundene- ^^^
Singmaschine gezeigt, wobei ich nur noch zu bemerken habe, daß vm^<^^
die freie Darstellung von Melodien aus dem Kopf durch die Schüler v^^o''*
zunehmen ist. Dadurch wird der Weg von der Vorstellung zur Darstellt9>^v^i^
als Ergänzung zu dem „von der Anschauung zur Vorstellung** betreC^^^
Wer in dieser Beziehung weitergehende Erörterungen zu lesen wünscrbt.
den mache ich auf das von mir herausgegebene Werk: „Theoretisch-^*
praktische Anleitung zur Erteilung des Gesangunterrichtes nach den Gna.0^*
Sätzen der Kunsterziehung*', erschienen bei Oehmigke, Berlin, NW. 7»
Dorothecnstr. 38, aufmerksam. (Autorreferat.)
Diskussion.
Herr Dessoir stellte einige Fragen, die Einzelheiten betreffen, uo^
bezweifelte alsdann, ob die zeitliche Zerlegung der Melodie so unerlaubt
sei, wie der Vortragende behauptete. Die Vergleichung mit einem ie^'
stückten Denkmal treffe nicht zu, da doch eine Zerlegung etwa in die Eimel-
gestalten, und dieser wieder in ihre Köpfe, Hände und so fort auf Eiiu^^'
Schönheiten führe; es hänge also alles ab vom Prinzip der Zerleguo^T
und das Zeitprinzip sei doch in den Zeitkünsten auch zulässig. Endlich
äußerte er Bedenken gegen die späte Berücksichtigung des Textes.
Herr Fiat au möchte sich nicht mit den theoretischen Ableitung«*^
identifizieren, hält es aber für seine Pflicht, von den hervorragenden praJ^'
SüsungsberichU. 3g5
Ji-padagogischen Erfolgen des Hctrm Vortiagenden nach seiner eigenen
Dbachtung Zeugnis abzulegen. Von bekannt gewordenen anderen Re-
oibestrebungen (Frau Dr. Krause, Carl Eitz u. a. m.) hebt sich
i gezeigte System durch seine große Einfachheit als besonders für die
Ucsschule brauchbar heraus. Sehr sympathisch haben den Redner die
sfiihrungen des Herrn G. über die Stimmstörungen d^r Schulkinder
ülirt; die Erfahrungen des Herrn G. über der^ Gefahren, ihr leichtes
itandekommen und die Schwierigkeiten ihrer Beseitiguung ohne besondere
:mtnis des Gegenstandes seien .wertvoll und allgenieiner Wii^digung
rt. Abgesehen von den physiologischen Funktionsstönmgen sollten aber
:1^ die durch das Wachstum bedingten Erscheinungen mehr berück-
ätigt werden; die Symtome davon treten weit außerhalb des Stimm-
rlisels zu Tage imd ihre Nichtbeachtung kann ebenfalls zu schweren
iädigungen führen.
Schluß der Sitzung 9 Uhr.
Sitzung vom 16. Juli 1Q03.
Beginn 77* Uhr.
Vorsitzender : H err Moll.
Schriftführer: Herr Vierkandt.
Der Vorsitzende verkündet die Aufnahme der Herren: Bergassessor
► Wolff und Dr. Ernst Cohn.
Herr Gutzmann hält den angekündigten Vortrag:
Zur vergleichenden Psychologie der Sprachstörungen.
Der Vortrag findet sich in extenso unter den Originalien dieser Zeit-
Lirift abgedruckt.
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitzung 8V4 Uhr.
isserordentliche Generalversammlung vom 15. Oktober 1903.
Beginn 8^/4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr Martens.
An Stelle des Herrn Vierkandt, der für ein halbes Jahr nach außer-
^b beurlaubt ist, wird Herr Bärwald'als II. Vorsitzender und II. Schrift-
Uver gewählt.
Zum Eintritt in den Verein haben sich gemeldet:
Herr Medizinalrat Dr. Mittenzweig, Steglitz, Filandastr. 32,
Herr Dr. Winternitz, SW., Dessauerstr. 15,
Herr Oberlandesgerichtsrat a. D. Petrich, W., Pallasstr. 7—8,
Herr Rechtsanwalt Dr. Bieber, C, Kaiser-Wilhelmstr. 39.
Es wurde beschlossen, die Sitzungen um 8 Uhr zu begannen. Als
tsungskikal wird der kleine Saal im Langenbeckhaus, Ziegelstr. 10/11,
stimmt.
Zeitsdirift für pida^gische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 10
386 SiUungsberichte,
Sodann verliest der Vorsitzende auf Vorstandsbeschluß und mit Zu-
stimmung der Versammlung die folgende von ihm verfaßte und vom Vor-
stand*) gebilligte historische Darstellung der C e r v e n k a angelegenteit.
„Am 6. Februar d. J. fand in der Aula der hiesigen Universität eine
gemeinsame Sitzung der internationalen Musikgesellschaft imd der Psydu)-
logischen Gesellschaft statt, in der ein Techniker aus Prag, Herr Cervenka,
einen App^urat zur photographischen Aufnahme der menschlichen Stimme
imd zu deren Wiedergabe demonstrierte. Der Kernpunkt der Sache sollte
der sein, daß erst die Stimme ein reflektiertes Licht in Schwingungen ver-
setzt, daß die Schwingungen auf einer sich bewegenden, lichtempHndlichen
Platte photographiert werden, daß mittels dieser Photographie ein Gliche
hergestellt und endlich mit einem Reproduktor die Stimme wieder vi
Gehör gebracht würde. Die Psychologische Gesellschaft war erst ver-
hältnismäßig spät auf Vorschlag ihres damaligen Vorsitzenden, des H^m
Th. S. Flatau, veranlaßt worden, an der Sitzung teilzunehmen. Diese
gemeinsame Sitzung der beiden Gesellschaften erregte großes Aufseilen,
war sie doch mit einem ganz ungewöhnlichem Apparat in Szene gesetxt
worden, fand sie doch in der Aula der hiesigen Universität in Gegenwart des
Kultusministers, des Rektors der Universität, zahlreicher Lehrer derselben»
vieler Sachverständiger für Musik statt und nahm an ihr doch sogar Seine
Kaiserliche und Königliche Hoheit der Kronprinz teü. Nach fast einstimmigeni
Urteil wurde die Erwartung, die man an eine derartig inszenierte Sitzung
knüpfte, nicht erfüllt. Zum Vergleich seines Verfahrens mit den bekannteo
hatte Herr Cervenka u. a. ein Grammophon aufgestellt. Es wurd^
aber die Vermutimg ausgesprochen — imd diese ist bis heute noch nickt
als unbegründet von Herrn Cervenka dargetan — daß Herr Cervenka
nicht die besten, damals zugänglichen Apparate zum Vergleich herange-
schafft hätte, sondern minderwertige, um sein eigenes Verfahren dadurch
besser erscheinen zu lassen. Was aber die Hauptsache war: es wurde
Herrn Cervenka öffentlich vorgeworfen, daß er sekundäre Aufnahmen
benutzte, d. h. die Sänger nicht unmittelbar in seinen Apparat hatte hinein-
singen lassen, sondern daß er Grammophonaufnahmen von Sängern ver-
wertete und diese Aufnahmen mit seinem Apparat zur Reproduktion bracht&
Ja es wurde behauptet, daß diese Benutzung sekundärer Platten
in der Aulasitzung nicht erwähnt wurde, daß sich Herr Cervenka
mithin einer Verschleierung schuldig gemacht habe. Tatsache
ist es jedenfalls, daß nicht einmal Herr Th. S. Flatau vorher wußte, daß
Herr Cervenka nur sekundäre Platten benutzen würde. Hatten schon
vorher einzelne privatim und in der Presse recht abfällig über den Wert
des Cervenka sehen Verfahrens geurteilt, so entstand jetzt eine Entrüstung,
als die Benutzung sekundärer Platten bekannt imd die Verheimlichung dieses
Tatbestandes hervorgehoben wurde. Der wissenschaftliche Wert der Sitzung
wurde bemängelt und auch gegen unsern damaligen Vorsitzenden Herrn
Th. S. Flatau, der die Teilnahme der Psychologischen Gesellschaft ver-
*) Auinerkang: Das Vorstandsmitglied Herr Dr. Möller war in der vorberettendea Vor-
standssitzung und in der Oeneralversammlong wegen damaliger Abwesenheit 7on BediB nio^ *^
gegen nnd erklärt nachträglich, der vorliegenden Darstellong seine Zostimmanf nkkfi la Jf^
Hinsicht geben zu können.
^^imft^s^eH^kU,
38t
it halte, w^uTden Vorwürfe wegen seines alliu großen Vertrauens gegen
Ccrvenka in der GeÄellschaft erhoben. Es wurde eine Agitation
leitet, um seine Wiederwahl a{s Vorsitzender 2U verhindern und dem
iigeti Vorstand» aus dem einzelne vorher ausgeschieden waren* in der
Versammlung vom 19. März d. J. die Entlastung zu verweigern.
wurde trotzdem erteilt, einige Mitgheder traten aus, und Herr Th, S.
II wurde als Vorsitzender wiedergewählt. Nachdem sich Herr Th. S.
u Jahre hindurch große Verdienste um die Gesellschaft erworben
!, Votinten es wohl viele nicht begreifen, daß man wegen einer ein-
t^gcn angreifbaren Sitzung moralisch berechtigt wäre, die Wiederwahl
veigem. Ganz besonders aber fühlten wir uns zur Wiederwahl des
Th, S. Fla tau dadurch veranlaßt* weil dieser in der betreffenden
ralversammiung mitteilte, er würde in Kurie, in wenigen Wochen, in
:fentliche Diskussion eingreifen, die ganze Angelegenheit würde sehr
klargesteljl werden. Die Klarstellung konnte nur dadurch erfolgen,
das ganie Verfahr cn in ein wandsfreier Weise demonstriert und die
ngsfähigkeit des Verfahrens bewiesen würde. Eine dies in Aussicht
de Mitteilung machte Herr Th. S. Fiat au auch noch am 2. April in
besonderen Erklärung, da er einen eigenen Apparat bei Herrn Cervenka
It halte und dieser Herrn Th. S. Fiat au von Hefrn Cervenka
n April d. J,, spätestens aber für Mitte Mai zugesagt war. Herr
p. Fiat au trat sodann am 30. April gemeinsam mit dem früheren Vor-
freiwillig von seinem Atnt zurück, um bei der ganzen Frage, insbe-
e auch bei der öffentlichen Diskussion freie Hand tu haben, beiw*
^eüschaft einen neuen neutralen Vorstand t\x sichern,
eil Mitte Mai bis heute sind nun fünf Monate vergangen.. Mehrere
ieder der Gesellschaft waneten auf die Demonstration. Einige wandten
mich, besonders auch Herr Dessoir, der auf einer Klarstellung
Angelegenheit bestand. Ich setzte mich deshalb schon im Mai d, J. mit
Th, S. Flatau in Verbindung, und er erklärte mir« bald auf Grund
Inefen des Herrn Cervenka, bald auf Grund des Augenscheins —
Th, S. Flatau reiste zweimal nach Prag — daß sein Apparat so gut
fertiggestellt sei. Herr Th. S, Flatau glaubte den Versprechungen
term Cervenka und begegnete diesem mit einem Vertrauen» das
i Erachtens sehr unbegründet war. Ich konnte das Vertrauen in die
htigkeit des Herrn Cervenka nicht teücn. Die fortwährende Hin-
Liebung des Termins machte mich und den Vorstand mißtrauisch,
innere mich noch, daß Herr Th. S. Flatau, als ihm Herr Cervenka
einmal den Apparat für Ende August fest versprach, mit Sicherheit die
Isung des Versprechens erwartete, während ich meine großen Bedenken
die InncbaJtung der Zusage Herrn T h, S. Flatau aussprach, ich
deshalb auch der Zusage nicht, die Herr Cervenka Herrn Th. S.
lu gegeben hatte, er wurde nach Berlin kommen und den Apparat ein*
rei demonstrieren. Um aber in diesem Funkte sicher zu sein, setiEte
nich mit Herrn Cervenka auf Vorstandsbeschluß in Verbindung.
antwoncte Herr Cervenka überhaupt nicht, dann kam auf eine
aphische Anfrage, die ich mit bezahlter Rückantwort an ihn richtete,
sn röstendem Telegramm, er würde sicher kommen, Termin wurde er noch
10*
388 SiUungsbert'chie.
mitteilen. Dann aber, als ich ihm schrieb, ich müßte nun endlich wissen,
wann er käme, war er beleidigt und schrieb, nun komme er überhaupt aicht;
er lehnte es glatt ab, vor Sachverständigen den Apparat zu demonstrierea.*)
Herr Th. S. Fla tau reiste schließlich zum zweiten Male nach Png und
da der von ihm bestellte Apparat nicht fertig war, so brachte er den
Apparat (allerdings ohne Reproduktor) mit, mit dem Herr Cervenka an-
geblich die Vorführung am 6. Februar bei der gemeinsamen Sitzung in
der Aula der Universität gemacht hatte.
So steht die Angelegenheit heute. Man hafte zweierlei nach den Er-
klärungen des Herrn Th. S. Fla tau erwartet:
1. daß noch im Frühjahr d. J. der Wert des Cervenka sehen Ver-
fahrens einwandsfrei demonstriert werden würde,
2. daß auf dieser Basis Herr Th. S. Flatau m die öffeotüche Dis-
kussion eingreifen würde.
Beides ist bisher nicnt geschehen. Herr Th. S. Flatau war bisher
nicht in der Lage, das, was man ierwarteüe, zu tun, und er wünscht nun
in einer Erklärung die Gründe anzugeben, die ihn hieran verhindert haben."
Im Anschluß hieran gibt Herr Th. S. Flatau folgende Erklänmgab:
„1. In einer Mitteilung, die ich zu Beginn des Sommer-Semesters den
Mitgliedern habe zugehen lassen, habe ich versprochen, die Angelegenheit
der Photophonographie weiter zu verfolgen.
Herr Cervenka hatte in bestimmte Aussicht gestellt, mir daiu bis
Mitte Mai einen neuen Apparat zu liefern. Dies^ Frist ist nicht eingehalten
worden. Ich habe im Juni mich an Ort und Stelle überzeugt, daß der
neue Apparat im wesentlichen fertig war, und deshalb — der Ablieferung
ständig gewärtig — mich damals darauf beschränkt, den Vorsitzenden jeweils
über den Stand der Sache zu unterrichten.
2. Während der Ferien hat mich Herr C. nun benachrichtigt, daß eine
weitere Verzögerung wegen einer nötig gewordenen Rekonstruktion ein-
treten würde. Ich habe daher Herrn C. die schleunige Einlösung seines
mir und der Gesellschaft gegebenen Versprechens dringend nahe gelegt
und ihn ersucht, da^u alsbald selbst und mit seinen eigenen Apparaten
nach Berlin zu kommen.
3. Im Verlaufe dieser Unterhandlungen hat mm Herr C. mir am
23. August seinen eigenen Photophonographen und zwar bis zur Fertig-
*) Ans der Antwort des Herrn Cervenka gebe ich folgende charaktertttische StaUtt vW^<
die das grOßte Mißtranen der Vertreter der Wissenschaft gegenfiber allen Aiypfrw d» B«r>
Cervenka rechtfertigen. Mit Beziehong auf die Einlösung seines Vexsprechens, den kf^mXW-
wandfrei zn demonstrieren, erwidert er: ,,Ich habe die Empfindung bekommen, daß Sit mir ft«x
znr Pflicht aufoktroyieren wollen, was lediglich ein freiwilliges £ntgegenk(munen meinerMiti mü
kann." Eine Aasknnft über das angeblich bestehende amerikanische Syndikat, das seine Erifarfv^
gekauft haben soll, nnd dosson I^ettüng verweigert Herr Cervenka. Er flhrt dann fort: „l<^^
vor allem praktischer Techniker, der in erster Linie materieller Vorteile wegen arbeitet, der ent m
zweiter Linie darauf bedacht sein kann, daß auch die Wissenschaft an seinen Arbeitan Anteil aiBot
und aus denselben, wenn tunlich, Nutzen zieht.
Keincsw^s aber bin ich geneigt, meine materiellen Interessen deshalb ra schidigen, wnleiBif^B
Vertretern der Wissenschaft mein Apparat und dessen Leistongsflhigkeit nicht einleoaitan will. V»^
wohl ich daher jodor wissenschaftlicnen Gesellschaft nnd jedem Repräsentanten detaelben di« p-
bührende Achtung ontsrogonbriiiiro, so kann ich dennoch aus geschäftlichen Gründen menand ^u
Rocht einräumen, über meine Porson nach eigenem Belieben zn verfügen nnd eine Ingerenx auf dum
privaten Angelegenheiten zu nehmen. _ ^_
Ans diesen eben ariäroführten Griinden würde ich mich selbstredend anch nicht daia miiMM
können, eine Demonstration vor Sachverständigen zu halten, weil ich mich der GeCshr ^dlt aaM^B*
darf, dem wissenschaftlichen mein materielles Interesse zu unterordnen.'*
SitMungsberichte. 389
( meinigen zur Verfügung gestellt, so daß ich erst jetzt in der
tigene Aufnahmen zu machen.
wünsche ich zu erklären, daß ich damit Herrn C. von der Ein-
IT Zusage nicht für entbunden erachten kann und daß ich Herrn
er auch keinen Zweifel darüber gelassen habe.
idem jetzt erst die notwendigsten Prüfungsmittel herangeschafft
ke ich über den Verlauf der Arbeit im Winter-Semester in der
zu berichten,
[nteresse der Gesellschaft bedaure ich die so entstandene nicht
5 Verzögerimg. Das Verhalten des Herrn Cervenka gegen-
sychologischen Gesellschaft muß ich aber vom Standpunkte der
fliehen Forschung und Moral auf das schärfste vcrurteien."
itrag des Herrn Dessoir wird mmmehr folgender Beschluß
Psychologische Gesellschaft schließt sich dem in der Erklärung
Ih. S. Fiat au ausgesprochenem Urteil über Herrn Ccrvenkas
ollständig an. /
gegen Herrn Cervenkas Vorführung vom 6. Februar 1903
nele d«r gegen seine Erfindung gerichteten Angriffe bleiben
it der Psychologischen Gesellschaft so lange zu Recht bestehen,
. den Beweis ihrer Unrichtigkeit geführt haben wird.
Vorstand der Psychologischen Gesellschaft wird ermächtigt, die
Darstellung des Vorsitzenden, die Erklärung des Herrn Th. S.
1 die vorstehenden Beschlüsse der Generalversammlung zu ver-
:iner längeren Diskussion erfolgt der Schluß der Sitzung nach
Schluß an vorstehenden Sitzungsbericht erhielten wir folgendes
idt:
Sehr geehrte Redaktion!
er außerordentlichen Generalversammlung vom 15. Oktober d. J.
i den Vorstand die Auskunft, daß das Verfahren, vermittelst
ie die menschliche Stimme zu fixieren und auf diesem Wege
>duktion zu bringen, bereits im Jahre 1900 von einem Herrn
incinnati der American Graphophone Company zum
eboten, von der Gesellschaft aber abgelehnt worden ist.
misch des Vorstandes bitte ich vorstehende Zeilen freundlichst
itschrift aufzunehmen.
HocliachtungsvoU und ergebenst
Dr. Albert Moll,
Vorsitzender der Psychologischen Gesellschaft
zu Berlin.
Psychologische Gesellschaft zu Breslau.
a. Jahresbericht 1902/3.
1. Mitgliedschaft: Auch im vergangenen Vereinsjahr hatte die Ge-
sellschaft einen Zuwachs an Mitgliedern zu verzeichnen. Der Bestand an
Mitgliedern betrug : Zu Anfang des Arbeitsjahres i Ehremnitgiied, 43 ^'
dentliche und 9 außerordentliche Mitglieder; beim Schluß i Ehrenmitglied,
50 ordentliche und 10 außerordentliche Mitglieder. Die Mitglieder setzen
sich ( zusammen aus Universitätslehrern verschiedener Fakultäten, i^a^
Ärzten, Juristen, Lehrern usw. Als außerordentliche Mitglieder finden Stu-
denten Aufnahme.
2. Vorstand: In den Generalversanunlungen vom 13. Januar uiui
3. Februar 1903 wurden in den Vorstand gewählt:
Privatdozent Dr. L. William Stern (Vorsitzender),
Privatdozent Dr. Storch (stellvertretender Vorsitzender),
Rechtsanwalt Dr. Kurt Steinitz (Schriftführer),
Taubstummenlehrer Ulbrich (Kassenwart),
Assistenzarzt Dr. Kr am er (Bibliothekar).
3. Sitzungen: Es fanden 11 wissenschaftliche Sitzungen statte die k^^'
meist einem Vortragscyklus: „Die Seele des Kindes" gewidmet warc^**
Die Tagesordnungen waren im einzelnen:
i) 28. 10. 1902. Privatdozent Dr. W. Stern: Die Psychologie des Kind^^
als theoretische Wissenschaft: Genetische Psychologie.
2) II. II. 1902. Derselbe: Die Psychbk>gie des Kindes als angcwawi-^^^
Wissenschaft: Pädagogische Psychologie.
3) 2. 12. 1902. Privatdozent Dr. Thilemich: Die körperlichen und Mili^^*
Einflüsse in ihrer Bedeutung für die Kindespsyche. ^
4) 16. 12. 1902. Provinzialschulrat Dr. Ostermann: Das Interesse; ^'■^
Kapitel aus der Psychologie des Unterrichts.
5) 13. I. 1903. Nervenarzt Dr. Kramer: Die Schulermüdung und ü»-^^
Messung.
6) 3. 2. 1903. Ohrenarzt Dr. Goerke: Probleme der Kindessprache.
7) 27. 2. 1903. cand. phil. Otto Lipmann: Praktische Ergebnisse ^^
experimentellen Untersuchungen des Gedächtnisses.
8) 21 . 4. 1903. J Taubstummenlehrer Ulbrich: Die Psychologie des tau^-
9) 5* 5- ^903. \ stummen Kindes.
S^mngib^mckle.
991
lo*
erdcm fanden zwei Referatabende statt;
3. J903. Bericbte der Herren Dr, K r a m e r und L i p m an n über
t neuere Arbeiten zur Tierpsychologie von Forel, Uex*
küU u, a.
. 4. 1903, Bericht des Hemi Referendars Dr. Hamburger über:
Simiuel, Philosophie des Geldes.
ber die unter Nr* l*-7 aufgeführten Vorträge sind in diesem Jahres-
t Referate der Herren Vortragenden beigegeben. Die unter Nr. 10 und
mtgcfiihrten Vorträge (Ulbricb) sollen in der Zeitschrift für pädagogische
Chologie und Pathologie veröffentlicht werden, Vortra|f 7 (Lipmann) ist
lern Journal tut Psychologie und Neurologie von Vogt und F o r e l,
id U, S. 108—118, erschienen.
4. Publikationen: Die bisher in Einielheftcn erschienenen 7 Vortrage
dem Zyklus des Jahres 1899/1900: ,,Die Entwicklung der Psychologie
I verwandter Gebiete des Wissens und Lebens im 19. Jahrhundert** werden
P^anuar 1904 vom Vertage von Hermann Walther in Berlin ah
p m e 1 b a n d herausgegeben werden,
5, Die Bibliothek. Die Bibliothek konnte im Berichtsjahre zum Teil
■eigenen Mitteln^ t\m\ Teil aus Schenkungen und Überweisungen eine
i unwföeniliche Bereicherung erfahren. An Zeitschriften werden nun*
r gehalten:
I I, Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene
^(Kemsies und Hirschlaff)*
2. Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane (E b -
bjnghaus und Nagel).
3. Archiv für die gesamte Psychologie (M e u m a n n).
4. Beiträge zur Psychologie der Aussage (Stern).
Bei den Neuerwerbungen wurden zunächst die bisher noch fehlenden
Beren, allgemeinen psychologischen \\''erke von W u n d t , F e c h n e r etc.,
iinn dem Vortragszyklus entsprechend kindespsycbologische Litteratur
ftm payrd, Ameni, Stanley Hall etc.) berücksichtigt.
Privat t
Vrivati
^* b, VoTtragsberjchte,
Stern, Die Kindespsychologie als theoretische WisseitschafL
(Genetische Psychologie.)
Kaum jemals hat sich eine Kulturepoche mit so bewußter Starke dem
b gewidmet, mit solcher Sehnsucht im Jungbronnen der Kindesseele die
ting von G reise nhaftigkeit und D^cadence gesucht, wie unser „Jahr-
Icrt des Kindes" Galt früher als Haupi aufgäbe, aus dem Kinde
Psychologische Gesellschaft zu Breslau.
L A,:
rivatdozent Dr. W^ Stern« Rechtsanwalt Dr. K. S t e 1 n i t z ^
Höfchenstr, 101. Antonienstr, 23.
^rivatdozent Dr* E. Storch, Tau hstummenl ehrer Ulbricht
Assistenzarzt Dr. Kramer.
392 Sitzungsberichte.
einen braven Erwachsenen zu machen, so treten hierzu jetzt zw« neue
Betrachtungsweisen: man lernt die Kindheit als Selbstwert achten md
verstehen, und man sieht in ihr die Brücke zu neuen Zukunftkulturen.
Mit diesen kulturellen Strömungen verband sich die in allen wissen-
schaftlichen Bestrebungen herrschende evolutionistische Betrachtungsweise,
um eine Wissenschaft von der Kindesseele in die Wege zu leiten. Sie ist
als theoretische Wissenschaft die Lehre von dem Entwicklungsprozeß der
psychischen Funktionen im Individuum, also genetische Psychologie, als
angewandte Wissenschaft die Lehre von der möglichen und nötigen Ein-
wirkung auf die Kindesseele, also pädagogische Psychologie. Beide Ge-
biete sind zur Zeit auch noch dadurch ziemlich getrennt, daß die theoretisch-
genetische Forderung sich ganz vorwiegend den ersten Lebensjahren, die
pädagogische Betrachtung aber dem Schulalter zuwandte. Hier ist eine
gegenseitige Annäherung sehr zu wünschen.
Die Methoden der Kindespsychologie lassen sich zunächst nach den
angewandten Hilfsmitteln gruppieren. Die Erinnerung an die eigene Kind-
heit ist bei Erwachsenen noch viel unzuverlässiger als sonstige Erinnerungs-
inhalte; es sind daher Autobiographien etc. nur mit größter Vorsicht zu
benutzen. Von Kindern geführte Tagebücher würden wertvollen Stoff geben,
sind aber dem Forscher kaum je zugänglich. Die Hauptmethode ist die
direkte Beobachtung des Kindes oder der Kinder durch den Psychologen,
sei es, daß man ihre spontanen Seelenäußerungen: Handlungen, Spiele,
Erzählungen usw. registriert, oder daß man sie experimentell durch g^
stellte Fragen, schriftliche Aufgaben, Darbieten bestimmter Sinnesreize, Vor-
legen von Bildern, Erzählenlassen usw. unter kontrollierbare und meßbare
psychische Bedingungen bringt. Hier liegt in der Deutimg der kindlichen
Ausdrucksbewegungen und Handlungen auf Grund des subjektivistischen
Analogieschlusses, namentlich bei den niederen Altersstufen, eine gefahr-
liche methodologische Klippe, an der nicht nur Mütter xmd Ammen, son-
dern auch oft genug Psychologen und Pädagogen scheitern; so daß die
Kindespsychologie, diese „scientia amabilis** (Stumpf), zugleich eine „scientia
difficilis** ist. Die in Amerika beliebte Methode der Massenstatistik auf
Grund von Fragebogen ist als wissenschaftlich unzureichend zu beanstanden.
Nach den Problemstellungen ist das Verfahren entweder analytisch
oder synthetisch. Das analytische Verfahren sucht eine bestimmte Einxd-
funktion der kindlichen Psyche in ihrer Eigenart festzulegen: hierher g^
hören die Untersuchungen über das Gedächtnis, die Kombinationsfähig'
keit, die Suggestibilität, die Sprache in einem bestimmten Zeitpunkt usw.
Das synthetische Verfahren bedient sich entweder einer sukzessiven
Synthesis : d. h. es verfolgt em Kind oder eine Funktion in der Sukzession
der Entwicklungsstadien (hierher gehören alle eigentlich biogp'aphbchen Unter-
suchungen, wie die von Preyer, und genetische, wie die von Ament) —
oder sie bedient sich einer Simultansynthesis, d. h. sucht für einen bestimmten
Zeitpunkt eine Darstellung des gesamten psychischen Habitus des iSndes
nach all seinen Hauptfunktionen und Eigenschaften zu geben: hierher g^
hören die sogenannten TestS; oder Individualitätsprüfungen (Binet und afldere)r
zu denen heute freilich die Zeit noch lange nicht reif ist. —
Simum^&eri^ki^*
393
An der SpiUe aller Probleme der Kindespsychologie sieht die Frage
dea Faktoren der paycJiischen Emwicktung, insbesondere nach dem
den Innen und Außen an dem Werdegang der Psyche hat. Der
* wischen Nativismus und Empirismus tritt hier in psycho! ogi*
ande auf und wiederholt sich bei jedem EinielprobleTn» bei der
nach der Sprachentwicklung, der Entwicklung des Spiels^ dem Ur-
g der Raumanschauung, der ethischen Entwicklung usw. Als die
II Exstreme stehen sich entgegen: der Naiivismus, der das Kind mit
ij psychischen Besttmintheiten, mit „angeborenen'* Vorstellungen, mit
riatischen Denkfunktionen, mit einem durchaus determinierten Charakter
1 auf die Welt kommen läßt und daher die pädagogische Beeinfluß-
il gering anschlägt — auf der andern Seite der Empirismus^ der in
eele eine ursprünglich leere Tafel, einen indifferenten Aufnahmeapparat
inßere Eindrücke, einen passiven Spielbatl äußerer Einflüsse, einen
fthmungsmechanismus und daher ein Objekt unbegrenzter Erziehungs-
chkeiten sieht. Seitdem wir gelernt haben, das Wesen des Seelischen
r Tätigkeil zu sehen, zeigt sich immer mehr, daß die Wahrheit bei
tn der beiden extremen Standpunkte liegen kann. Die seelische Ent-
Eing ist Entfaltung von gegebenen inneren Anlagen und Tätigkeit s-
tizen, aber die spezielle Richtung und Stärke der Betätigung hängt in
ti Maße von den äußeren Bedingungen und Einflüssen ab, auf welche
innere Tätigkeit zu reagieren hat. „Die Sprache übernimmt das Kind
lußen, das Sprechen muß es selbst dazu bringen/' so ungefähr for-
rte Steinihal schon den Gesichtspunkt. Die besondere Aufgabe der
Esforschung wird aber darin m bestehen haben, für jede einzelne Funk-
Etas V^'erhäitnis %'on Spontaneität und Rezept ivitat des Näheren
Stimmen, Vortragender illustriert dies an Beispielen aus der Ent-
ging der Raumanschauung, der Sprache, der Furchtaffekte und des
fehmungstriebes.
lin zweites Hauptproblem ist das biogenetische. Besteht zwischen
Üentwicklung (Ontogenesis) und Gattungsentwicklung (Phylogenesis) im
tischen eine ähnliche Parallele, wie sie ün Biologischen seit Haeckel
lommen wird? Man hat oft genug eine solche Parallele zwischen Kin-
und Natur%^ölkem, Altersstufe und Kulturstufe (Ziller), Mythos und
ben, Spracbentwicklung im Kinde und in der Menschheit (Ament) ge-
t; man hat andererseits wieder alle derartigen Analogien in das Bereich
^abel gewiesen. Vortragender sieht die Lösung in der Verbindung des
fems mit dem Vorangegangenen. Sofern die individuelle Entwicklung
>tiv ist, kann eine Parallele zur Gattungsentwicklung schon deswegen
bestehen, weil das Milieu, unter dessen Einflüssen das Kind sich
ekelt, ein ganz anderes ist, als dasjenige, in welchem etwa der Natur^
:h sich entwickelt. Das Kind übernimmt fortwährend fertige Stoffe
Entwicklungsstufen, die höher sind, als es selbst, während für den
flnenschen seine Entwicklungsstufe die zeitweilig höchste ist. Anders
[en in der spontanen Komponente der Entwicklung. Hier ist in
Bt anzunehmen, daß für alle psychischen Entwicklungen, mögen sie onto-
5ch oder phylogenetisch sein ein allgemeines Sukzessionsprinzip be-
auf Grund dessen die einzelnen Stadien, Anlagen und Tendenzen
394 SiitungsbtrichU,
aus der Latenz in die Wirklichkeit treten. Dies Priniip wäre dann da^
biogenetische Grundgesetz. Diese Auffassung wird durch Beispide a^
der Sprachentvdcklung belegt.
Ein drittes Problem ist das strukturelle. Die Struktur des fertigest
Seelenlebens wird von der allgemeinen Psychologie oft sehr nusdeut^^«
indem vor allem die Elemente, welche die Analyse aufieigen kann, 9A2
ursprüngliche genetische Elemente angenommen werden. So wurden laa:B'
Zeit die Worte als die ursprünglichen Konstituenten der Sprache an^^
sehen, bis die Kindespsychologie den Nachweis führte, daß im Anümg (S.<
Satz und nicht das Wort stehe. —
W. Stern. Die Kindespsychologie als angewandte Wissenschst^
(Pädagogische Psychologie.)
Der erste Teil des Vortrags behandelt die prinzipielle Möglichkeit fr^Li^
pädagogischen Psychologie, ihrer Berechtigung und ihrer Grenzea Vm:^
tragender macht Front sowohl gegen den Psychologismus, der alle E:
ziehungs- und Unterrichtsfragen mit psychologischem Experimentieren uxa
Analysieren glaubt erschöpfend beantworten zu können, wie gegen den £ s
tuitionismus, der Routine und Takt für die allein notwendigen Werl:-
zeuge des Pädagogen ansieht. (Eine genauere Erörterung haben diese C^e
dankengänge inzwischen gefunden in der Abhandlung: Angewandte Ps^clxo-
logie. Beiträge zur Psychologie der Aussage I, i.)
Der zweite Teil gab einen Überblick über das Arbeitsgebiet der päda-
gogischen Psychologie. Da das Wesen des Seelischen in der AkÜTiut
liegt, kam zuerst diese nach Qualität und Quantität zur Erörterung. Qualiti^
steUt sich die psychische Tätigkeit dar in den verschiedenen Stufen: ReflOr
Trieb, einfache Willenshandlung, Wahlhandlung, Vemunfthandlung; die
psychische Entwicklung durchläuft diese Stufe nach beiden Richtunsen:
während die Gesamtpersönliohkeit sich inmier mehr aus dem Reflex und
Triebleben zu bewußtem Überlegen und vernünftigem Wollen entfoltrt»
werden fortwährend einzelne Funktionen dem umgekehrten Prozeß vaAfX
zogen, sie werden aus bewußten Taten zu mechanischen Reflexen (Obus*
Gewöhnung, Mechanisierung). Die Pädagogik wird hierdurch vor (
schwere Aufgabe gestellt, einem doppelten Ziel zu dienen: sie muß
steigende Se IIb ständigkeit des Tuns in gewissen Beziehimgen, zugl
aber die steigende Selbstverständlichkeit des Tuns in anderen Bear
gen herbeizuführen und zu unterstützen suchen. — Die quantitative l
suchung der psychischen Tätigkeit führt zu den bekannten Fragen
Grad, Umfang und Schwankungen der Leistungsfähigkeit und den
verbundenen Überbürdungs- und Ermüdungsproblemen.
Es wurden sodann die pädagogisch-psychologischen Untersuchur
Gebiet der Anschauungssphäre, der ästhetischen Interessen, des (
nisses und Lernens, der Erinnerung und Aussage der Reihe nac
gegangen und zum Schluß auf die große Wichtigkeit des diffe
Problems hingewiesen, das auf Kenntnis der individuellen Differer
und der Typenbildungen und auf Herausarbeitung zuverlässiger, diaf
Prüfungsmittel geht.
Sittun^jAerickie,
305
'hl ein ich* Körperliche und Milieiieinflüsse auf die
Kiudespsyche.
Vortragender engt, indem er als Ann: diese Fragen zu besprechen unter-
mmt, das weitschichtige Thema von vornherein so ein. daß er nur die
thologische Seite betrachtet.
Von körperlichen Einflüssen auf die Psyche ist neben den eigentlichen
liirnerkrankungen mit und ohne Lähmung derjenigen Organe und Systeme
g-cdenken, welchen ein Einflub auf die Funktion des Großhirns zu*
ehxhi. Dahin gehört in erster Reihe die Schilddrüse, deren mangelnde
sl>ildung eine tiefe Alteration des Geisteslebens hervorbringt, die wir
epidemischen und sporadischen Kretinismus und als Myxoedem kennen.
eK die übermäßige Vergrößerung der Lymphapparate des Nasenrachen-
Lixics und die davon abhängige Behinderung der Nasenatmung fuhrt
cgentlicb lu psychischen Abnormitäten,
Viele fieberhafte Erkrankungen lassen schon nach kurier Dauer mit-
ter eine gewisse Erschöpfung, eine reizbare Schwäche zurück, die den
^tindcbarakter der Neurasthenie ausmacht. Zugleich mit der körpcr-
t%eii Genesung heilt dieser Zustand gewöhnlich, wenn sich nicht Schädi-
Ugcn durch das Milieu hinzugesellen.
Diese schädlichen Milieueinflüsse bestehen in der Hauptsache darin^
^ die subjektiven Klagen und Beschwerden der Kinder ungebührlich be-
icksichtigt und dadurch vermehrt und fixiert werden. Daraus entsteht
'*ie unkindliche fast hypochondrische Selbstbeobachtung und ein krank-
*ftes Vergnügen am Kranksein und Cepflegtwerden^ das sogar zum Aus-
^tuche manifester Hysterien bei Kindern vor dem schulpflichtigen Alter
Eihren kann.
Besonders bei reizbaren lebhaften Kindern mit jähem Stimmungs-
wechsel ist die Pflicht der Erziehung *— nicht nur der beabsichtigten,
ondem der durch Beispiel und Milieu wirkenden — eine möglichst gleich-
tlßig ruhige, beruhigende.
istertnann. Das Interesse: ein Kapitel ans der Psychologie
_ des Unterrichts*
^fOet Vortragende sprach sunächst über den Zusammenhang der Psycho-
gie und des Unterrichts im allgemeinen und erörterte diesen Zusammen-
mg dann des näheren an dem Beispiel des .Jnteresses" — an der Hand
tlfender Frsgen: i. Was ist Interesse? 3. Wie ist das Interesse psycho-
gtsch lu deuten? 3. Welche Bedeutung hat das Interesse für das übrige
eistesleben? 4, Wie kann der Unterricht Interesse erregen?
»I. Eine Sache ,, interessiert** uns, d. h. negativ ausgedrückt: sie ist
nicht gleichgültig, positiv: wir messen ihr irgend welchen Wert bei
ijeuiisch: j^mea mierest**, d- h. mir ist an einer Sache gelegen). Interesse
t also Wertbe wußtsein, Wenschälzung. Diese bewegt sich in rwei ent*
Sgengc^et^ten Richtungen, sofern das, was interessiert, uns entweder ge*
ilti oder tnißfällff daher den Willen entweder anzieht oder abstößt* Zwischen
icsen beiden Polen (des positiven und negativen Interesses) liegt das Ge-
iet des Gieichgültigen,
3. Psychologisch hängt das Interesse auf das engste xusammen mit
396 Säzumg^AeridUe.
dem Gefühl, durch das wir ursprunglidi allen Wert und Unweit in Lust
und Unlust innewerden. Einem v^g gefühllosen Geiste würde die ganze
Welt seines äußeren und inneren Lebens interesselos, gleichgültig sein. Das
Interesse geht in den ersten Entwicklongsstadien der Kindessede gam 10^
Gefühl auf. Auch in dem ausgebildeten Geistesleben fällt es vidbch noch
mit dem Gefühl zusammen, wächst hier dann aber auch in das Gebiet des
Intellektuellen hinein, indem das ursprünglich im Gefühl Erlebte ^ontdkad
reproduziert wird („Werterinncrung"), und weiterhin — unter dem Einfluß
der Erfahrung und Bildung — die Wertempfindungen und Werterinnenmgen
zu Wertbegriffen und Wertmteilen sich abklären. Das gilt gleicherweise
für die niederen (siimlichen), wie für die höheren (ethischen, intelldttueUexi
etc.) Interessen, was der Vortragende an mehreren Beispielen nachweist.
3. Das Interesse ist für das übrige Seelenleben von großer Bedeotong?
und zwar a) für das Vorstellen und Denken, indem es zahlreiche Vor-
stellungsAssociationen stiftet tmd in weitem Umfange das Gedächtnb, die
Reproduktion und die Aufmerksamkeit bedingt; b) für das Wollen, weldes
— wenn auch noch an anderen Voraussetzungen gebunden — doch stets
durch irgend welches Interesse motiviert wird. Daraus ergibt sich unmittel-
bar die pädagogische Wichtigkeit des Interesses sowohl für die intellektuelles
Erfolge des Unterrichts wie für dessen erziehliche (den Willen bestimmende)
Wirkungen. Für die sittliche Bildung beansprucht das Interesse geradezu
die Bedeutung eines pädagogischen Kardinal-Prinzips. So gewiß die Er-
ziehung nicht bloß zwangsweise dressieren, sondern das Kind, je mehr es
heranreift, desto mehr zu freigewoUter Ausübung des Guten anleiten soll
so gewiß ist es eine ihrer vornehmsten Aufgaben, in dem Herzen des Kindes
warmes Interesse für alles Gute zu wecken, woraus allein der Wille Äntiieb
und Kraft zu freier Wahl des Guten um des Guten wUlen schöpft. Hienu
kann auch der Unterricht, wennschon die Einflüsse der Vererbung, des-
Milieus und der Familienerziehung mächtiger sind, vieles beitragen.
4. Der Unterricht erregt des Kindes Interesse, wenn er nicht bloß den
Kopf, sondern auch das Gefühl beteUigt („Wenn ihr 's nicht fühlt, ihr
wcrdet's nicht erjagen"). Dazu ist erforderlich, daß der Lehrer a) Äe
Schüler, wo irgend möglich, selbst tätig sein, selbst suchen, finden, reden,
zeigen, experimentieren läßt (Freude am eigenen Können) ; b) alles zu Uarstem
\>rständnis bringt (Freude am Erkennen); c) solche Stoffe auswählt, die
ihrer Natur nach das kindliche Gemüt ansprechen (im naturkundlichen
Unterricht das Lebendige, im Geschichtsunterricht das Persönliche, im R^
ligionsunterricht das Beispiel etc.) ; d) für die Phantasie, wo sie beteiligt ist.
die Ereignisse, Situationen etc. nach Art des Dichters so anschaulich tos-
mnlt, daß das Kind im Geiste alles schaut und miterlebt; e) durdi freund-
liche Behandlung und wannen Lehrton die Herzen der Kinder aufschließt
Kram er. Die Schulermüdung und ihre Messung.
Die Ermüdung kann auf zweierlei Weise gemessen werden, etninal in-
dem man sie direkt, d. h. die Abnahme der Leistungsfähigkeit fnr tJaea
bestimmton Gegenstand, mißt, oder indirekt, indem man einen der, die
Ermüdung begleitenden, von ihr in bestimmter Abhängigkeit stehendcB Fak-
toren bestimmt. Die crstere Art hat den Nachteil, daß es besoodeB fir
Siittttign&fr^M,
3m
die bohcien geisttgeti Täligkcjten schwer ist, ein quantitatives Maß su
fmd^i; die auf dem anderen Prinzip basierenden Methoden setzen voraiis,
^^ der «11 Messung benutzte Indikator in strenger und bekannter Abhängig-
keit von der Ermüdungsgröße steht und bei den Versuchen von keinem
•imUren Einflüsse berührt wird. Die letzteren Methoden setzen also bereits
emc direkte Ermüdungsmessung voraus und verlangen eingehende methodo-
't^liische Voruntersuchungen, Dies ist jedoch bei den meisten derartigen
untersuch im gen vernachlässigt worden, in diesem Sinne werden die nach
P^ E.jgtigraphennjethode (Mosso u. a.) und die nach der Griesbachschen
Aithes^iometermeLhode erhaltenen Resultat© einer eingehenden Kritik nnter-
^^Jgen^ die dar LI führt, daß alle aus diesen gezogenen Schlüsse durchaus
iurht einwandsfrei sind und daß überhaupt die Brauchbarkeit dieser Mt-
"^*JÜea lur Ermüdungsmessung ?ehr in Frage sieht.
Von den Ermüdungsmessungen, die die Abnahme der psychischen
*-ctisttjfigsfäbigkeit direkt bestimmen, werden leuer^t die Rechen- und die
^^'^dachtnismethode behandelt. Hier sind die historisch wichtigen Unter-
^Hingen von Burgerstein lu nennen; ferner nebtjn anderen weniger be-
kenswerten die umfangreichen Experimente aus dem Kraepelin'schen
^boratortum. So interessante Ergebnisse diese in vielen psychologischen
^ituelf ragen au£ dem Ermüdungsgebiete gebracht haben^ so entfernt sich
*loch die Methodik von dem, worum in der Schule es sich handelt, alljtu-
^thr, um auf die hier vorliegenden Verhältnisse unmittelbare Schlüsse lu
erlauben. Die vielfach auf Grund dieser Untersuchungen gestellten prakti-
Kben Forderungen müssen lEum großen Teile als etwas voreilig bezeichnet
Werden« Vor allem wird man den sowohl an der Kräpel in' sehen Schule,
al» von Griesbacb gehegten starken Befürchtungen über die Schädigung
der Schüler durch den Schulunterricht nicht ohne weitereSi jedenfalls nicht
jinf Grund der angeführten Untersuchungen beipfhchten können. Die besten
Unteriuchungen sind die von Ebbinghaus mit seiner Kombi nationsmethode
angestcUten« Die Methode verbindet die Vorzüge einer guten Intelhgeni-
pnifufig mit dem der leichten Ausführbarkeit. Die Schlüsse, die Ebbing-
haus aus dtn Versuchen zieht, seicluten sich durch scharfe Kritik und
gro^ Vorsicht aus. Soweit sich bisher bei dem relativ kleinen Material
Schlüsse daraus ziehen lassen, zeigen sie, daß übertriebene Befürchtungen
betreffs des fünfstündigen Unterrichts nicht zu hegen sind und höchstens
für die niederen Klassen in Frage kommest, Weiterhin werden dann die
Umersuchungen von Kemsies erwähnt, der im allgemeinen zu recht pessi-
mistischen Resultaten kommt; dann noch einige andere weniger wichtige
- rsuch^ngsreihent Aus all den Untersuchimgen wird der Sciüuß gc-
!L, daß bisher die psychologische Forschung für die praktische Frage
der SchulcrmÜdung verhältnismäßig wenig geleistet hat und die an sie
gesietiten Fragen noch nicht mit Bestimmtheit beantworten kann* und daß
der Grund hierfür zum großen Teil in einer kritiklosen, die praktischen
r !J schnell angreifenden, ohne genügende methodologische Vorunter*
[i Vorgehenden Arbeitsweise liegt, \"Qreilige praktische Schlüsse
lu »iciicn. muß aber die experimentelle Psychologie unter allen Umstlnden
vermeiden*
Auf die rein pädagogische Seite der Schukrmüdungsfrage wird nicht
398 SÜMungsbeHckU,
näher eingegangen. £s wird hier nur davor gewarnt, aus jeder Abnahme
der Leistungsfähigkeit der Schüler am Vormittage den Schluß xq adMn,
daß ihnen in intellektueller Hinsicht zu viel zugemutet wird. Auch andere
Faktoren kommen hier in Betracht, besonders Emotionen, Langeweile etc
Vom ärztlichen Standpunkt ist darauf hingewiesen, daß nicht alle nervösen
Erkrankungen, welche Schulkinder bekommen, auf Überanstrengung in der
Schule zurückgeführt werden sollen, da hier die Schädlichkeiten des hans-
lichen Lebens oft viel mehr maßgebend sind. Auch handelt es sich bei
diesen erkrankten Kindern sehr häufig um von Hause aus psychopathisd
belastete Individuen, die man, weim auch nicht gerade durch Zwang, so
gut es geht, von den höheren Schulen fernhalten müßte.
Goerke: Probleme der Kindersprache.
Darstellung des Entwicklungsganges der kindlichen Sprache und ihrer
Probleme an der Hand eines von Herrn und Frau Dr. Stern über die
geistige Entwicklung ihrer Tochter geführten und dem Vortragend»! xnr
Verfügung gestellten Tagebuches.
Man wird den Beginn der eigentlichen SprachbUdung beim Kinde dam
annehmen, wo dasselbe — nach Vollendung der vorbereitenden Stufen der
Sprachentwicklung, nämlich derjenigen der Schreilaute imd derjenigen der
artikulierten siimlosen Laute — zum ersten Male Laute oder Lautkompleze
verwendet, um einen geistigen Inhalt auszudrücken. Die Tatsache, daß
schon in den ersten Perioden der Sprachentwicklung bestimmte Laute (Zimgefi-
und Lippenlaute) bevorzugt werden, eine Tatsache, die auch späterhin bei
den Wortumgestaltungen eine gewisse Rolle spielt, findet weder in dem
Maupertuis*schen principe du moindre effort (Schultze*s Theorie) noch in
der Ament*sche«i Behauptung von der physiologischen Bevorzugung bestimm*
ter Laute eine genügende Erklärung. Sie ist vielmehr darauf zurudou-
führen, daß von den Weichteilen der Zunge und der Lippen dem Bewußt-
sein mehr Artikulationsempfindungen (Muskel-, Berühnmg^-, Lage-, B«*
wegungsempfinden zufließen als vom Gaumen imd Kehlkopf, daß infolge'
dessen die Association von Lautempfindungen und Artikulationsempßndungen
d. h. also Laut\x)rstellungen viel eher und leichter bei den Lippenlauten m-
Stande kommen werden als bei den Lauten des dritten Artikulationssystems.
Bevor die ersten mit der Absicht des Ausdrucks gebrauchten sprachlichen
Beneimungen auftreten, müssen Nachahmung des Gehörten und Ver-
ständnis der gesehenen Geberden sowie gehörten Worte nebeneinander
eine Zeitlang wirksam gewesen sein. Bei der Beobachtimg der ersten R^'
gungen eines kindlichen Sprachverständnisses kommt man leicht in VcX^
suchung, psychische Vorgänge, so, wie sie sich beim Erwachsenen abspielcT*
in das Seelenleben des Kindes künstlich hineinzutragen und dem Kind^
was denn auch viele Beobachter gemacht haben, geistige Fähigkeiten zux»-^
schreiben, die es in dieser Stufe seiner Entwicklung unmöglich haben kani^
die es sich erst durch das Sprechen und sehr viel später erwirbt. D^
Kind hat zu dieser Zeit noch keine abstrakten Vorstellungen, es kaxm al^
noch keine Association zwischen Wortvorstellung und Bedeutungsvorstellui^
stattfinden: wir sind vielmehr gezwungen, uns den Vorgang des crst^
kindlichen Sprachverständnisses so einfach wie möglich vorzustellen, naC^
lieh nicht als selbständige Reproduktion, sondern auf dem Wege des MHed^^
399
ejjpens, als Association elementarster Art von Gesichts* oder Gehörs*
ajuehmuiigen xnk bestimmten aufsuchenden Bewegungen oder mit Ge-
IserregungeQ. Alle ersten Wone des Kindes bedeuieci Wünsche oder
«ffungen des Gemüts, sind also zunächst nicht gegenständlicher Natur,
tr auch in den späteren Perioden der Sprachentwicklung, wenn das
Hl bereits viel gegenständliche Beieichnungen besitzt, zeigt sich ein starkes
erwiegen der Gemüts^ und Willensseite. So sind auch die ersten Fragen
regelmäßig Wunsch- oder Begehrungsfragen, in den ersten Uncilen
stets ein starker Gefühlston, ein Wunsch tum Ausdruck. Dem«
prechcnd ist der Sinn aller ersten Wörter, auch solcher, die uns als
Istaniiv oder Adjektiv erscheinen» ein verbaler oder interjektionaler. —
Frage, ob das Kind zuerst Individual« oder zuerst AUgemeinbegriffe
le» muß dahin beantwortet werden, daß das Kind nur scheinbar Ahn*
ikeiten verschiedener Gegetistände abstrahiert, daß es mit seinem Wone
15 anderes bezeichnet als der Erwachsene, nämlich nur eine bestimmte
e eines Gegenstandes, die es wiedererkennt, vielleicht auch apperzipiert.
% ersten Worte eines Kindes sind also Indi vi dualbegriffe, — Bei der
^bihftingslehre ist besonders das Problem der Worterfindung interessant.
e Erfindung von Worten im eigentlichen Sinne ist natürlich aus*
idilosseQ, doch werden wir nicht umhin können, gewisse Eigentümlichkeiten
kindlichen Sprechweise auf eine im Kinde liegende Ursache, auf
f sogenannte unwillkürliche Spontaneität zurückiuführen.
LipmaQü. Praktische Ergebnisse des experimetitellen
Untersuch uo gen des Gedächtnisses»
Die von E b b i n g h a u s inaugurierten experimentellen Gcdächtnisunter-
'ttyngeti der letzten 20 Jahre lassen meist die praktische Seite der bc-
idelten Fragen und gewonnenen ResuHatc außer acht oder gehen wenigstens
hl ausführlicher auf sie ein, — Der Vortrag skiMiert zunächst die Ver-
ihe selbst^ gibt die gewonnen Ergebnisse wieder und zieht schließlich
dieser die praktischen Nutzanwendungen, die für den Unterricht und
Lernen in Betracht kommen können. So werden folgende Thesen auf*
Itellti
1. „Beim Einzelunterricht hat die Lehrmethode sich zweckmäßig dem
b«r /est^u stell enden sensorischen Ce dächt nistypus des Schülers an*
Issen. — Beim Massenunterricht ist das nicht möglich,
3, Ein gegebener Lernstoff von mäßiger Länge und gleichmäßiger Letch*
^t wird im Ganzen schneller gelernt als im Teilen.
3, Die Wiederholungen werden bei einem schwierigeren Stoffe am
t«i möglichst verteilt.
4, Es ist unzweckmäßig, verschiedenartige Stoffe schnell hintereinander
lernen, ohne eine Pause einzuschieben.
5, In gewissen Graden ist das schnellste Lernen das ökonomischste.
6, Falsche Antworten sind tunlichst zu vermeiden.
7, Richtige Antworten erhalt man leichter, wenn sie auf mehrere gt-
Ee Fragen passen.
$. Eine richtige Antwort bleibt leicht aus, wenn mehrere Antworten
die gestellte Frage passen,"
Verein für Kinderforschuns:.
V. Versammlung.
Die diesjährige Versammlung fand am 11. u. 12. Oktober in Halle a. S.
statt, während die früheren Versammlungen im Anschluß an die seit mehrerai
Jahren in Jena bestehenden Ferienkurse abgehalten wurden. Der Gnind für
den Wechsel des Ortes war der, daß man die Bestrebungen des Vereias in
weitere Kreise tragen will, und wenn man hierfür üalle als einen redit
günstigen Ort angesehen hatte, so hat man sich gewiß nicht getausdtt,
wie das das zahlreiche Erscheinen der Freunde des Vereins aus Halle und
der weitesten Umgegend bewies.
Die Zahl der angemeldetai Vorträge war eine reiche. Diese behanddten:
1. Die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters, Prof Dr. Oppen-
heim, Berlin.
2. Das Kind und die Kunst, H. Laodmann, Oberlehrer des Padag.
Universitätsseminars in Jena.
3. Über die Bedeutung der Stinunungsschwankungen bei EpUepdkeni.
Univ.-Prof. Dr. med. Aschaffenburg, Halle.
4. Körperliche Ursachen geistig minderwertiger Leistungen, Kindeiaixt
Dr. Schmid-Monnard, Halle.
5. Psychopathische Minderwertigkeiten als Ursachen der Geseticsrcr-
letaungen Jugendlicher, Direktor Trüper, Jena.
Wegen Verhinderung am Erscheinen der Referenten konnten der 8. nnd
4. Vortrag nicht gehalten werden; ersterer wurde jedoch in die nacl>^'
jährige Versammlung verlegt, die in Leipzig stattfinden wird.
Direktor Trüper eröffnete die erste Versammlung mit dner knn^
Ansprache, in welcher er den Zweck des Vereins darlegte. Er fährte ct*^
aus: 22 Millionen Kinder im Alter vom 12.— 18. Lebensjahre gebe es i^
Deutschland, von denen Millionen weder von den Eltern noch von ^
Lehrern richtig verstanden würden und die deshalb viel Unrecht erieidd^
müßten. Noch mehr gelte das >'on den abnormen Kindern. Das xklitiS^
\'erständnis für die Entwickelung der Kindesseele wecken xu helfen, das f^
die Aufgabe des \'ereins. Das größte Interesse verdienten allerdings d*^
Kinder mit abnormen seelischen Erscheinungen; das schließe jedoch nic^^
aus, sich auch den leiblich und geistig normalen Kindern, die infolge iltf^
individuellen \'erschiedenheit eine bescxidere Behandlung erforderten, i^
gleichem Interesse zu widmen. Eltern, Lehrer, Geistliche, Arz^^
und Juristen sollten sich deshalb an den Bestrebungen des Vereins \^
haft beteiligen. Wenn man noch bedenke, daß von der erwähnten Kind^^
zahl circa 50000 jahrhch \x>r das Strafgericht gestellt werden, dann $6^
Sümitt^sheiickie^
401
da* noch mehr Grund dafür sein, das Kind und seine Seele fleiläiger als
Nsher m studieren. — Sodann begrüßte Stadtschulrat Brendel- Halle rm
Auftrage des Magistrats die Versammlung, indem er zugleich auf die seh werfe
Aufgibe des Vereins hinwies. Nkht jeder, meinte er, könne suchen und
findea; aber alle, die ein Herz für Bildung hätten, würden dera Vereine
Interesse entgegenbringen. Die Arbeit des Vereins, insbesondere seine
Beschäftigung mit den abnormen seelischen Vorgängen» verdiene die höchste
Anerkennung; er hoffe, daß der Einfluß des Vereins nicht ohne Erfolg für
die Entwickeliing der ganzen Pädagogik bleiben werde. — Haupllehfer
K tclhorn* Braunschweig begrüßte im Auftrage des Vereins der Lehrer
für Hilfsschulen Deutschlands die Versammlung und gab der Hoffnung
für einen Zusammenschluß beider Vereine Ausdruck,
Darauf hielt Prof. Oppenheim seinen Vonrag über »,Dic ersten
Anzeichen der Nervosität im Kindesalter/*
Die NeiT'Osität beim Kinde, so führte der Vortragende aus, reicht bis
la die ersten Lebenstage zurück. Die abnormen Gemütsreaktionen sind
iclioii Anzeichen von Nervosität, Sie treten mit großer Intensität auf^
wälirend das Gegenteil, die Apathie, seltener vorkommt. Auch die Dauer
der Reaktionen ist häufig sehr groß. Der außerordentlich schnelle Wechsel
*"on Lust- und Liniustgefühlen kann ebenfalls auf Nervosität schließen lassen.
Auch kommen perverse Reaktionen vor, indem nämlich Reize, die sonst
l-'nlustgefühle erregen, Lustgefühle hervomifen und umgekehrt» t. B, Ab-
neigung gegen schöne Farben, Gerüche und bestimmte Personen. Die
Schreckhaftigkeit ist auch ein Zeichen von Nervosität bei Kindern; sie ruft
Schrecklähmungen und Schreckstummheit hervor. Die Schreekhaftigkett
Ätt schon recht frühe auf; an 19 von 40 Kindern hat sie der Referent
|thon gleich nach der Geburt feststellen können. Nicht selten treten Schlaf-
Röningtn bei nervösen Kindern auf, /, B. Sprechen und heftige Bewegungen
WH Schlafe, häufiges Träumen und Nachtwandeln, Zwangsvorstellungen sind
. tffi »khefi Kindern auch vorhanden ; sie fürchten sich vor dem Alleinsein,
or dem Gewitter, vor einer Reise (Reisefurcht — Platzangst, Schmuttfurcht
Waschangst). Redner erwähnte hier eine Art Tic, welche ebenfalls bei
Knulem in beobachten ist. Solche Kinder blinzeln sehr stark mit den Augen
^d werfen den Kopf hin und her. Diese Erscheinungen können manchmal
normal gelten, wenn sie als Gewohnheiten vorkommen ■ deshalb ist Vor-
Mchi bei der Behandlung notwendig. Im Unterricht sind derartige Kinder
^iLTStrcut und zerfahren und ihre Leistungen daher mangelhaft. Auffällig ist
öer, daß manche Kinder eine Abneigung gegen gewisse Tiere und Nah-
iigsmtttel (Idiosynkrasie) Keigen. Zwar macht sich diese Erscheinung auch
gesunden Kindern gellend; allein die Heftigkeil, mit der sie bei jenen
iJ^treten, ist bedeutend größer. Manche nervöse Erscheinungen grenzen an
«iflesiiönrng. So ließ z* B. ein Kind seine Mutter nicht aus der Stube.
Aiigst um die Mutter war bis ans Krankhafte gesteigert* Nachdem das
Von dem Angstgefühl befreit war, stellte sich der normale Zustand
bei ihm ein. Zcrsireutheit und Nägelfcauen sind ebenfaÜs Zeichen
I Nervosität , Nägelkauen rührt nicht von Onanie her, wie man dies häufig
auffaßt. Die Nervosität beeinflußt auch den Blutkreislauf. Hierbei zeigt
|*^ch eitj öfterer Wechsel der Gesichtsfarbe un^ ein Kältegefühl be^nders
Zriüdiritt für pidigogtsche Psych oloßic» Ptlhologie und Hygiene. 1 1
402
mn dci; Händen (Absterben der Fmger)» Neigung ru Ofttimac^ bem
Sehen von Blut* i£U Erbrechem, namentüch inocg^ns lor Beginn des Schul"
anfange — suclt freudige Erregungen liihreti dajin tu Erbrechen - staitti
Schnupfen, heftiges Her^ldopfeii sowie starke Beweg ungeri ^ Tieileklt m
der Eisenbahn -> Schwinde) und Kopfschmerz sind mcht ^^elteti Zetcbro
der Nervosität im Kind^alter. Überempfindlich ist bei solchen Emdcfn
die Haut des ganzen Körpers. Das Beschneiden der Nagel vmd KSmmrti
diQs Haares bereitet ihnen oft große Schmerlen ^ Gan^^e Büschel gru
und morsche Nägel weisen auf m«ingelhafte Emähmng hin; ül' v
der VcrdauungskaDal bej derartigen Kindern in nicht normalem ZuÄtand
sjc leiden viel an Appetitlosigkeit, Aufstoßtm und Stühlver«toplung.
Harn geht ab, ohne daß es ein solches Kind merkt, und wenn es m Cfg
wart fremder Personen urinieren muß, leidet es oft an so starken psjrchrtv
Hemmungen, daß der Urtnabgang vollständig tinmögUch ist. Redöct schk
seine interessanten Ausführungen, indetn er darauf hinwies, daß die
wähnien Erscheinungen der Nervosität beim Kinde mttuitter tut Gdd,
anderer Krankheiten vorkommen können^ und daß man daher bei der
handiung gedachter Fälle sehr vorsichtig sein müsse; der Ann solhe
stets zu Kate gezogen werden. — Die Debatte über diesen VoTtnl
eherkfalls sehr anregend, Dr* Becher- Berlin, Leiter einer Kindeilteihtln?
v^ira Roten Kreuz, wies auf die eben genannte Anstalt und die des I>irekl«i
Trü per- Jena hin, in widchea man die Pra?ds ku dem Vortrage smdiert&
könne. 2^u bedauern sei, daß es noch sehr wenige derartige Auatallcn ge^
Darauf iiu' DarstcUtmg der Einrichtung der von ihm geleiteten Aost^t
näher eingehend, bemerkte er, daß diese nur eine Tagesansi alt sei tmd ito
nach die Kinder nur von morgens bis abends behalre. Die Kinder —
gegenwärtig 550 an der Zahl *** den verschiedensten Ständen afifdlQi^*
erhielten hier hauptsächlich Beschaftigimgen zwecks körperlicher Bc
Spielen, Bauen in Sandhaufen und Turnen. Dabei könne m&M
der Kinder am besten studieren, und dazu böte sich auch sonst
Gelegenheit besonders weim die Mütter die Kinder rur Anstalt lir
und von hier abholten; meist sehe man dann, daB diese gleichsafn
,^Abklatsch" ihrer Mütter seien. — Erxiehungsmspektor Piepe r-Daüdoff 4
wäiinte einen Angstfall, der bei einem Knaben wegen, eines in sehr
E^ttemporale in der Schule eingetreten war; der Knabe hatte vor Angst 1
Treppe in dem elterlichen Hause nicht hinabgeben können* Fcrnet bemetkie
Inspektor Pieper, daß die Schulen auch durch das häufige PlatiwedJsd«
den Schülern Angst einflößten, — Prof. Z i e h e n » Halle sprach Über Zwwag
und Wahnvorstenungen beim Kinde und hob besonders deren «\hiilicli
bervot. — Säoicäcsrat Dr. Berghan-Braunschweig, sowie Haup
Kiel hörn, Prof. Aschaffen bürg -Halle und Direktor Trüpai
ausführliche Beispiele mm sog. Waodertrieb. Über die Vi^
scheinuag war man verschiedener Ansicht; doch gelangte
der eins dmm igen Auffassung, daß sie nicht aUein auf epileptbci)efll
entstehen köntie.
Am zweiten Tag der V^ersammlung sprach zunächst Prof. Dr. AscM
leabnrg' über die Beden tung der Stimmungsschw l^
bei Epileptikern Der Vorti^gendc wollte natmentiich »l
SämtrtgsAtnkkie.
403
g bri EpikptTkcTii anilmerk^am machen: auf die pertodlschea
^imgen der Gcmütslage. Als eine sokhe bisher wenig beachtete
m sog. epileptischen Aeqtihalcnts bcjiei ebnete er die periodisch und
Beren Anla0 auftretenden Stimintjngsschwankijngeti, die bald mehr
ige VeTstimmung mit Angsi, Heimweh, Sorgen, bald mehr als eme
Hdxbarkett und innere Spanntrng sich feigen. Auch bei Normalen
lenttkh von körperlicheti Symptomen (Köpfweh, Blasse berw. Röte
chls, SchwctÄausbruch, Durchlall, Pupillenstörungen usw,) begleitet,
diesen vollständig fehh. Als weitere Erkennungszeichen, daß jene
:ptischem Boden entalandcn srnd, kommt hinzu, daß sie l. m be-
PctTodizifät^ 2, in der Reget ohne äußeren Anlaß auftreten, 3. daß
flen von, ruweilen mcht %'on Krampfanfällen begleitet sind, 4. durch
AllEoholex.ie9se in schwere Dämmerzustände sich versvandeln, bei
AJkoholenthalrung dagegen seltener und leichter erscheinen. Wenn
lige Kinder bei geringem Anlaß in schwere Zorn ausbräche oder zu
iT Traurig keil hinneigen, dann kann man annehmen, daß sie epilep-
ink sind- Damit »oll nicht gesagt sein, daß jede Verstimmung ein
von Epilepsie m; sie soUie aber doch ein Wamungssignal bedeuten
nigen. die dann gern pädagogisch eingreifen möchten, wo ärztliche
sin das Richtige schaffen kann. Die Ärzte bedürfen aber hierbei der
da sie ohne diese nicht richtig enischciden können, weil eben ihre
Beobacbeung der Krankheit nicht ausreichend ist. — Bei der Be-
g des Vorrrages hob EJr, Strohmeyer Jena hervor, daß bei den
thwankungen ein langsamer Verfall der intellektudlen und sittlichen
I beobacbfen sei. Der Alkohol sei eine der bedeutendsten Ursachen
e|>sieL Darm stellte Redner noch die Anfrage, wie Brom bei der
der Epilepsie wirke, Direktor Pieper deutete die pädagogische
an, indem er die Schwankimgen des Gemütszustandes nicht durch
als vidmehr durch freundliche Behandlung beeinflußt wissen wül.
m solle man solche Kinder unter gute Aufsicht stellen emd sie mit
bt vollständig verschonen. — Prof. Aschaffenburg stimmte
Fiihrungen Dr. Strohmeyers teils zu, wandte aber ein, daß nicht
in Verfall der geistigen Kräfte \'Orhanden und Brom ein recht
fies Mittel sei. Er warnte dann noch vor großer Strenge in der
sehen Behandlung, die noch häufig anzutreffen sei. Die Mithilfe
^r bei der Diagnose der Epilepsie könne man nicht entbehren. Es
sich bei letzterer zunächst weniger um eine vollständige als vielmehr
Wahrscheinlichkeitsdiagnose' mit dieser gelange man vorerst viel
- Dirdrtor T r ü p e r stimmte den vorhergehenden Ausführungen im
lleti lU und wünschte^ daß sich die Schulärzte mehr afs bisher mit
rfiiatrie des Kindes beschäftigen, daß sie auch auf dem Lande 30-
werden und jeder Kreis mindestens einen Schularzt erhält, wie diese
mg bereits im Meiningischen getroffen worden ist.
cbilten Vortrag hielt Direktor Trüper, Er sprach übet „Psycho-
thc Minderwertigkeiten als Ursachen der G es et i es-
Ittttgen Jugendlicher*'. Redner erinnerte zunächst an die be-
TatsQChe^ daß l*JOl fast 50000 Kinder oder Jugendliche im Alter
^ Jahren gerichtlich bestraft wurden. Aber noch viel größer «ei
11*
404 Si$9imgsberichte.
die Zahl derjenigen jugendlichen Sünder, die überhaupt nicht vor den Straf-
jichter konunen. Wie diese 50000 vor dem Gericht behandelt und damit
zugleich fürs spätere Leben beeinflußt waren» dürfe man nicht übenehen-
Überdies müsse man überlegen, daß sie dem Staate viel Geld kosten. Die
Hauptursache des Mißerfolges in dem h'iutigen Strafsystem liege in d^^
mangelnden Verständnis des Unfertigen und Pathologischen beim Kinde.
Zwar werde der Psychiater heute schon vor Gericht gezogen, aber nur höchst
selten, wenn es sich um kleinere Fehler handle. 1901 habe man in Deutsch-
land 22858071 Personen hn Alter von 12—18 Jahren gezählt; trotzdem get>e
es noch nicht einen einzigen Lehrstuhl, der sich mit dem Werden, Wachsen
und Gedeihen dieser 22 Millionen beschäftige. Könne man wirklich glaubexi,
daß ein Mensch in der Nacht vom 12. zum 13. Lebensjahre plötzlich die
Schwelle von der Unzurechnungsfähigkeit zur Zurechnungsföhigkeit üb«^r>
schreite? Einen anderen Übergang kenne aber das Gesetz nicht, ebea:90-
wenig eine verminderte Zurechnungsfähigkeit, und wo sei bei diesen tAf^^xh-
artigen Definitionen auch nur ein bescheidenes Plätzchen für alles WechselirMle
und Werdende in der Entwickelung der Kinder und Jugendlicher ? Da frai.^e
es sich doch wirklich, ob man den Brunnen erst dann zudecken müsse, wenn
das Kind bereits ertrunken sei! Direktor Trüper besprach hierauf einige
Fälle psychopathischer Minderwertigkeiten, die in neuester Z&X die Gerichte
beschäftigt und allgemein großes Interesse geweckt haben (Fall Dippol.d>
Fischer und H ü s s e n e r). £r zeigte an diesen Beispielen, namentlich ^n
Hüssener, woher diese Minderwertigkeiten kommen und führte als eine
Hauptursachc den zu frühen und hätifigen Alkoholgenuß an. Zur VerhutuaK
dieser durch die obigen Namen berührten Morde wäre es dadurch gekommen«
wenn man das Abnorme ihres seelischen Lebens schon frühe erkannt ua<i
eine entsprechende pädagogische Behandlung angewandt hätte. Redse*
hatte seinen längeren mit vielem Beifall aufgenommenen Ausführungen
folgende Thesen zugrunde gelegt: 1. Es gibt abnorme Erscheinungen utftO
Zustände im Seelenleben der Jugend, die nicht unter die Rechtsbegni^^
„Unzurechnungsfähigkeit** und „Geistesschwäche** fallen, die aber doct*
pathologischer Natur sind und bei manch-**^ zu Gesetzesverletzungen führen*
ja Ainbewußt drängen. 2. Diese Zustände entwickeln sich allmählich at^
kleinen Anfängen und können, rechtzeitig erkannt imd zweckentsprechend i<^
der Erziehung berücksichtigt, in den meisten Fällen gebessert werden. S^
können zugleich jugendliche Gesetzesübertretungen verhütet und ihre Zal»*
wesentlich vermindert werden. 3. Es ist darum im öffentlichen Interes*^-
dringend erwünscht, daß Lehrer, Schulärzte, Seelsorger und Strafrichter sic^
mehr als bisher dem Studium der Entwickelung der Kindesseele und ihre^
Eigenarten widmen, um der Entartung des jugendlichen Charakters rech*'
zeitig vorbeugen zu können. Namentlich ist es erwünscht, daß an d^^
Universitäten in Verbindung mit pädagogischen Seminaren Vorlesungen üb^^-
Psychologic und Psychiatrie des Jugendalters gehalten werden und daß in d^^
Volksschullehrer-Seminaren die künftigen Lehrer Anleitung zum Beobacht^^^
des kindlichen Seelenlebens erhalten. 4. In allen Schulen ist mehr ^\^
bisher der Erziehung des Gefühls- und Willenslebens Rechnung zu trag^^^^
und der einseitigen intellektuellen Überlastung vorzubeugen. 6. Bei^^^^
jugendliche Individuen wegen Gesetzesverletzung öffentlich vor den Str^*^'
Bffr^kie umd E^sprecfmm^en,
405
geteilt werden, sollt ea sie mnächsi einem „Jugendgericht**, bestehend
Leiter der betreff^tiden Schute, dem Lehrer des betreffenden Kindes,
^chulänte,, dem Geistlichen und dem V^ormundschafls rieht er, überwiesen
EU 6. Statt oder neben der Strafe als Sühne oder der bloßen Ein-
ng mm Schutie der Ce^eUschaft gegen die Übeltäter aoUie in be*
en Ajvstalien, von besonders vorgebildeten Pädagogen unter media i*
psychiatrischem Beirate geleitet, eine für Leib und Seele sorgfältig er*
Heilerxiehung Platz greifen. Die Fürsorgegesetze tragen bisher diesen
lieniDge.1 nicht genügend Rechnung.
t der Diskussion bemerkte Geh. Justizrat Prof, v. Liszt Berlin,
inchc Schuld des Gesetzgebers leider immer auf die Juristen abge-
werde. Zum Problem der jugendlichen Übeltäter habe die Krimi-
che \'ereinjgung schon V'orschläge gemacht, die den lebhaften Beifall
ledener Kreise fanden. Die Kriminalistische Vereinigung habe immer
Jrundsaiz vertreten, daß das Kind unter keinen Umständen vor den
kbter gehöre. £r bitte daher» These 5 abzulehnen. Darauf zog
Trüper die erwähnte These zunicke während die übrigen Leitsätze
amig angenommen wurden*
I den Vorstand wurden gewählt i Geh. Medizinalrat Dr. B ins wanger -
Prof. EbbinghauS' Breslau , Prof. Rein - Jena. Direktor Trüper-
Prof. Ziehen- Halle, Mcdizinalrat Leubus eher -Meiningen, Gym-
iirektor Altenburg-Wohlau imd Prof, Oppenheim^ Berlin.
ordhausen. C. Geisel.
Berichte und Besprechungen*
tlo. Lehrgang der Zukunftsschule nach psychologischen
^perimenten für Eltern, Erjtieher und Lehrer dar-
estelli. Leipzigs Scheffer igox. 319 S.
to. Der Hausleb ren Wochenschrift für den geistigen
erkehr mii Kindern. Erster Jahrgang 1901* Zweiter Jahr
ang 1902, Leipzigs Schcffer,
\ folgendem möchte ich die Leser dieser Zeitschrift auf einen abseits
Er großen Heerstraße wandelnden pädagogischen Reformer hinweisen,
jine Methode auf psychologische Gedankengänge» ja, psychologische
trimente" aufbaut, und dessen Bestrebungen vielleicht auch der wissen-
liehen Psychologie einige Ausbeute werden bringen können, freilich
sowohl durch seine praktisch-pädagogischen Ideen, wie durch gewisse
ixen hervorgegangene theoretische Ncbcninteressenj die der Erforschung
indersprache dienen.
ie Geschichte der Pädagogik ist vielleicht reicher als irgend ein anderes
rgebiec an den Erscheinungen der ,, ewigen Wiederkehr". So ist Otto,
Ehterf eider Lehrer» nicht so sehr, wie er selbst glaubt, ein Schüler Sl ein ^
i und Paulsens, sondern ein „Basedow revidivus". Der ganze In-
tuaUsnius des tS. Jahrhunderts lebt in ihm wieder auf, dem nüchterne
406
ie Wde aar der
%iJuaäsL iom m «endea and
li^rbriiciwa. Der spcöeil
da^ aocii für Otto Uoternckc xäcfac sopvoU
Lefarer, sondern dn HeatbLaantn des
M— dferegfafiaghen ailei SckwercB. eä 3icidcn alles Zt
AsOmc» des Umenicb» m Plandefei und Scherz, Spid wmd Spart. WiT«
Basedow lesie Sdnler die „Gaaecten" lesen KeA, so faraigt Otto msdn^sa
^Hamlehrer* oad seiaca Eaueiweiken (Font Bismaxcks LcbmiPiA E^
asir, ^ der Sprache der Zeirnjährigen'*, ..der ZvölQibngen*'. Wie B&sf.
dcrws Tocltter Emtlie das berühmte FarwfigMa för den Wert der nesui
SIeilMde war, so hat Otto an seinen eigenen Kindeim seine Mcdiode dnrdh
geführt. Wie Basedow die settsamsten spieiemchen Lnrituüuuen «rfmd
rar A«ls(acheinng des Ehrgeizes, so lieB Otto seine Srhilffr nach der Se-
koodemihr aufsagen imd in der GeschwindiglDeit Rekorde sddagen**. ihd
wie endlich Basedow und seine Schaler ans waamem Intciesse für 4ie
Jngencfitleratur jene viriberuhmten Bearfoeitnngen fnr die Jvgend lorailarff
^man denke nur an Campes Robinson), so stdlen Otto nnd die Seinen.
den Faust, die Odyssee, das Nibelungenlied in der Sprache der Kinder dar.
Die im „Lehrgang" geschildeite Bfetbode Ottos, die er an die Stdl«
des Elementarunterrichts setzen wül, ist die sokratiscbe: Bewußtmachnn^
des schon unbewußt Vorhandenen. Vor allem Lese^ und Schreibunterrick»^
muß ein Anschaunngs- und Sprachunterricht stehen, in dem die Scbölerr
aus wirklichen Objekten (nicht Bildern) und aus scheinbar zufallig g^'
sprocheneu Sätzen des Lehrers oder der Mitschüler alles entwickeln soUeCi^*
was darin an Begriffen, an Wortformen und an Lauten enthalten ist Durcl*
das Prinzip der Isolierung der Schwierigkeiten wird bewirkt, daß nid^^
unklar bleibt. Ja^ auch die Bezeichnungen müssen die Schüler selbst üoAttt,
was pur möglich ist durch Schaf fimg einer ganz neuen deutschen Teminologi^'
(Betspiele : der Vokal a heißt Offner, der Konsonant s Zafanbrise, daif Ot''
jekt heißt der Dulder, die zweite Person der Hörer, der Konjunktiv PraS-
heißt Jetztzettwunsch usw.) Auf diese Weise lernt das sieben- bis acbC'
jährige Kind im Anschauungsunterricht die Begriffe des Dinges, des Teilet»
des Merkmals, des Vorgangs, des Naturgesetzes (I), der Definidon (1)» \^
Sprachunterricht die Laute nach einem wissenschaftlichen (nämlich nic^
den Organen und deren Bewegungen angelegten) System, die FormenldK'^
und Syntax, und erhält so, wie Otto meint, aus eigenem Denken htfii^
wirklich jene formale Bildung, die das Gymnasiimi mit seinem neonjihrig^^
Lateinunterricht nicht erreicht. Ist erst diese formale Vorbildung da, so sif ^
für die Aneignung nicht nur des Lesens, Schreibens, Rechnens» sondern au^^
beliebiger Wissenschaften keine Schwierigkeiten mehr vorhanden. Wie<I^^
im Anschluß an Erlebnisse des Tages wird Nationalökonomie und S^^7
tistik, Straf recht und bürgerliches Recht usw. durchgenommen; ,,das O^
ßtrkki* mi*d Seipre^kumgtm.
407
1 Gesdlich|e^ und G^o^aphie fällt dem sportmäßigen Lem-
angenommen^ O. hatte recht, daß sich die nchlige Anwendimg
de, die meines Erachiens durchaus Ausfluß einer besonders i;c-
ersönliclien Begabung ist, veraUge meinem ließe, wäre sie wün-
? Besteht denn tatsächlich die Aufgabe des Unterrichts darin^
swußte nur ja bewußt ru roacben. in Regeln und unter nc"«?
i bringen? Ist denn die ungeheure kraftsparende Funktion des
(n und der Tradition, wodurch ja erst neue Kräfte für den Kul-
U frei werden, lucht ein Faktor, oiit dem der Unterricht rechnen
Seit und Kraft auf Neufindung %on längst Besessenem, auf Neu-
von längst Formuliertem zu wenden? Das muß die Wissenschaft
es ist der fundamentale imellektualistische Irrtum Ottos, daß
Wissenschaft im Kleinen sei; spricht er doch selbst von ».philo*
eschutten achtjährigen Kindern", von einer „im Unterricht cac-
erwachsenden Kategorieniafel**,
injelheiten d« Lehrganges ^ei nur weniges erwähnt. Das Prittxip
rung der Schwierigkeiten*' ist psychologisch durchaus nicht ein-
die gegenseitige Srülrwirkung verschiedener Elemente ist oft
ihre gegenseitige Hemmung, und so glaube ich trotz Otto, daß
B SchreibleseunterrJcht mit seiner gleichzeitigen Einprägung von
Laut und Schreibebewegung eine Arbeitserspamis gegenüber dem
jrlahren Ottos ist. — So geschickt und von guter psychologischer
eugeod im gan^n die Art ist, wie O. die Kinder die Begriffe
l entwickeln läßt^ so laufen auch hier Fehler mit unter. Der
r Ursache entspringt psych ologiseh nicht, wie O, noch im An-
Hume meint, der regelmäßigen Sukzession zweier Vorgänge,
m Bewußtsein, daß der eigene Wille sich in Tun umsetzen kann ■
öch nicht wundern, wenn seine Schüler die Nacht als Ursach©
und den Donner als Wirkung des Blitzes atiffassen. Falsch ist
s Behatjptung, daß im Deutschen das Partizip Präsentis nur der
che, nicht der Sprechspraehe angehöre; Ausdrücke wie „lebendes
ein reizendes Kind'\ ,,ein erhebender Anblick" usw, sind doch
nur gedruckt zu finden.
loch einige Worte über die ,,Hauslehrer*'bestrebungen Ottos.
:hcnschrift soll dazu dienen, Eltern upd Erziehern Anleitung zu
Verkehr mit den Kindern zvi geben. Geistiger Verkehr ist für
identbch mit verstandesmäßig utilitaristischer Aufklärung. Die
len Tagesereignisse^ politische und soziale Angelegenheiten und
timgen in «iner ihnen angcmcsseoen Sprache zugeführt
Die ihnen angemessene Sprache ist nach O, die Sprache, die sie
chen, diese aber kennen wir überhaupt noch gar nicht recht —
kommen wir zu der Stelle, wo Ottos Bestrebungen sich mit der
Kinderforschung berühren. Nach Otto beruht ein großer Teil
losigkeil der heutigen Kindererzichung darauf, daß Kinderenicher
dezbücher einerseits und die Kinder andererseits verscbiedetiö
iprechen, sich überhaupt nicht verstehen. Jede Altersstufe habe
.Sprache^ die a priori nicht konstruiert werden kann, sondern siu*
408 ßerükte und Bnprwktmgem,
diert werden muß ; das Kauderwdsch der Ammen und Kindermädchen hat
nichts zu tun mit der wirklichen Sprache der Kinder, zu denen sie spredien.
So stelh sich denn der Hauslehrei" die Au%abe, einerseits wirklich Auf-
zeichnungen von Sprach- und Schreibprodukten aus verschiedenen Alters-
stufen zu bringen, andererseits schon fortlaufend zu versuchen. Lese- und
Erzählungsstoffe in die Sprache bestinunter Altersstufen zu übersetzen. Der
letzte Teil des Unternehmens ist pädagogisch wieder überaus bedenklich.
Ist es wirklich wahr, daß Jugendlektüre in demselben Stil, mit den gieicben
kindlichen und kindischen Ausdrücken (,>^oitwiederholungen, ungelenkeit
Wendungen, Anakoluthen'*, vergL Vorwort zu Ottos Faust-Beaibeitimg X)
geschrieben sein muß, wie die Kinder sprechen, die es lesen sollen? Isc
das Lesen und Hören von Geschichten nicht eine andere Funktion als das
Selbstsprechen? Schon immer haben Eltern und Erzieher das intukive B^
dürfnis und mehr oder minder die intuitive Fähigkeit gehabt, das za Er-
zählende dem kindlichen Geiste anzupassen, ohne dabei den Hauptrdz des
teilweise Fremdartigen und Andersartigen, des nicfat ganz su B^;reifdides,
kurzum des Poetischen und Märchenhaften verioren gehen zu lassen.
Freilich war es ihnen selbstverständlich, stilistische Mängd, Sprachfdder, Un-
geschicklichkeiten, die der natürlichen Trivialsprache des Kindes anhafeen,
durch ihre Autorität nicht noch vorbUdlich zu machen. An der Sprache der
Erwadisenen und der Bücher, die die Kinder lesen, Idimmen diese hmaof
zu höheren Entwicklungsstufen, gerade, weil jene nicfat ganz ihre eigene
Sprache sprechen, die sie schon beherrschen. Mündliche und schrütüdie
Jugenderzählungen sind gewissermaßen „Kunst** für das Kind, hd)en es
über den Alltag und seine enge Welt hinaus, und Kunst muß mehr seb
als bloß ablauschender und abschreib^ider „Naturalismus**, den Otto aof-
drücklich für die Sprache seiner Erzählungen in Anspruch ninunt.
Ohne Vorbehalt darf man dagegen die Forderung Ottos begrüßen,
die auf das Studium d«r Kindessprache geht O. hat durchaus redit,
daß die verschiedenen „Altersmundarten**, wie er es nennt, genau ein gleicbes
Anrecht auf wissenschaftliche Fixierung und Analyse haben, wie etwa die
Stammesmundarten; und wie auch diese gegenüber der Schriftsprache sich
erst in letzter Zeit wissenschaftliche Beachtung erzwungen haben, so wird
es auch mit den Altersmundarten geschehen. Um den Hauslehrer in dieser
Beziehung zu entlasten, giebt O. vom Herbst 1903 ab ein „Archiv für
Altersmundarten und Sprechsprache** heraus, das zunächst
möglichst umfassendes Material an Aufzeichnungen von kindlichen Spradi-
Produkten, sodann aber auch die grammatische Bearbeitung dieses Materials
enthalten soll. Dieses Archiv wrird von der modernen Kindesfoischnng
aufrichtig willkommen geheißen werden, besonders, wenn sich O. entschlieflen
wird, durch Verriebt auf seine besondere phonetische und granunatiscbe
Terminok^e das Archiv auch für Nichtkenner seiner Methode lesbar xu
machen.
Breslau. W. Stern.
Eingesandt.
Wir erhielten folgendes £iQgesa.iidt:
,^Euer Hochwohlgaboren I In Ihrer Zeitschrift für pädagogische Psyclio-
logie etc. (5. Jahig.^ Heft 5, 1903) befindet sich eine Rezension über den
an unserer Anstalt eingeführten Kanon deutscher Dichtungen (S. 127 f.).
Der Herr Rezensent Siegberc Schayer gebt bei der Beurteilung
des Buches, das übrigeninur xum Gebrauch an unserer An-
stalt zusammengestellt ist, von ganz falscher Voraussetzung aus,
weön er meint, das Buch solle eine bajidliche Sammlung derjenigen Gedichte
geben, deren K e n n i n i s als unentbehrlich für den Schüler angesehen werde.
Dai Buch enthäli vielmehr solche Gedichte« die der Schüler auswendig
lernen, sowie immer wieder repetieren tnuB und so gewissermaßen aJs
acTT^ tU id mit ins Leben nimmt. Neben diesem Kanon haben die
Schüler selbstverständlich noch ein Lesebuch, das andere Gedichte enthilt,
deren Kenntnis als un entbehr tjch betrachtet wird, aUo auch die, die
der Herr Rezensent nicht missen möchte. E* ist unbegj'eifHch, wie ein
Kenner der Gyinnasjalgepflogenheiten, namentUch der von viel^i Anstalten
•iiiigeführten Kanones von Gedichten, zu einer so ganz verkehrten Ansicht
ber den vorliegenden Kanon gelangen konnte.
Ich ersuche, vorstehende Erklärung in der nächsten Nummer Ihrer
£eitschnfi gefälligst zum Abdruck bringen zu wollen,
^_^ Hochachtungsvoll
^^^^^ KgK Rektorat des Theresien-Gymiuuiums.
^^K J, Nicklas.
Hierru bemerkt Herr Oberlehrer Dr. S c h a y e r , dem wir von der
Erklärung Kenntnis gaben ;
j,Au5 der vorstehenden Erklärung entnehme ich gern, daß meine An^
schau ungen über die Auswahl der in der Schule tu lesenden deutschen
dichte weniger stark von denen der Verfasser des „Kanons" abweichen
ich bei meiner Beurteilung angenommen habe und habe annehmen
ü s s e n j weil eben in dem Büchlein kein Wort über seine Bestimmung
iJ^lten ist. Selbstverständlich ist es nicht, daß die darin ver-
gten Stücke 2um Auswendiglernen bestimmt sind^ dazu sind ihrer nach
;Q an preußischen Anstalten herrschenden Vorschriften wiederum
2 0 viele. Übrigens vermag ich auch unter dem veränderten Geskhts-
pisukte die Auslese nicht überall £u bUligen. Diese Auffassung sowie die
f, verkehrte Ansicht'' über den Zweck der Zusammenstellung ist nicht nur
meine persönliche, sondern sie wird von berufner Seite, der die »tGytn-
nasialgcpflogcnheiten*' in Bezug auf die Kanones wohl vertraut sind, voll-
Aul geteilt. Siegbert Schayer.
K>e
ei
sy\/A
Mitteilungen.
Dte semefaMcbaftllche BraUcliiiiit bekl#r QMchtocIitor I« Amfrika.
Wenig bekannt dürfte in Deutschland die Tatsache sein^ daA sid in
den Vereinigten Staaten von Amerika seit 1870 die für das dortige Volb-
Schulwesen gemachten Aufwendungen verdreifacht habei^ ja daß man gegen-
wirtig daselbst in einem Jahre zu dem bezeichneten Zwecke so viel aM>
gibt, wie Deutschland, England und Frankreich zusaüunen wahrend ^
gleichen Zeitraumes für ihre Kriegsmarine. Von jeher hat man aoßenkn
in der Union die großartigsten Privatspenden für Unterrichtszwecke gemacht;
z. B. seit 1893 bis jetzt 115—120 Millionen Dollars. Dies und vieles indev^
namentlich auch über das dortige, von unserem vielfach ganzlich abweickude;
Unterrichtsverfahren, die Handhabung der Disziplin und den gesamtes
Zustand des Schulwesens in den Vereinigten Staaten berichten Band XI
und XII des großen, vom britischen Unterrichtsministertum, Board of
education, herausgegebenen Sammelwerkes: Special Reports on Educational
Subjects. Volumes XI d, XII: Education in the United States of America.
London 1902. Eyre & Spottiswoode. 8». 1200 S. Preis 4V4 s. Bedeutende
Sachverständige, wie Thisclton Mark, M. E. Sadler, Fitch, Alice Ravenhill
u. a. haben an dem das Unterrichtswesen aller Kulturstaaten behandelnden
Werk mitgearbeitet.
Die coeducation, der gemeinsame Unterricht beider Geschlechter, ist
fast in allen Volks-, Mittel- und Hochschulen der nordamerikanischen Frei-
staaten eingeführt, sodaß auch unter den gesamten dortigen Lehrkräften
volle zwei Drittel weiblich sind und an der Universität zu Chicago sich
48 Prozent weibliche neben 52 Prozent männlicher Studierender befinden.
Unbedingt unterschreiben wir die von Dr. W. T. Harris angegebenen
Gründe des Vorherrschens der Koedukation in Nordamerika als richtig
und teilweise auch für deutsche Verhältnisse nicht ganz ungeeignet. Er tagt:
Sie (d. h. die Koedukation) ist naturgemäß, denn sie entspricht den Gewohn-
heiten und Empfindungen des Alltagslebens. Sie ist unparteiisch, denn sie
bietet beiden Geschlechtem die gleichen Bildungsmöglichkeiten. Sie ist
wohlfeiler als der gesonderte Unterricht.
Sie bietet den Lehrern und den Schuldirektoren bezüglich der Zu-
erkeimung, der Abstufung des Unterrichts und der Disziplin große Bequenr-
lichkeiten. Sie ist dem Geist, der Moral, den Gewohnheiten und der
Entwicklung der Schüler zuträglich. So weit Dr. Harris. Schon früher
haben wir darauf hingewiesen, daß im Waisenhaus zu Cempins im Seine-
departement seit zwei Jahrzehnten wit der Koedukation die besten Erfolge
erzielt sind, ebenso in der von Cempins aus angeregten Schule der Freidenker
bei Brüssel.
MitUütimj^rm .
411
Schon seit I616 Mnd in den Vereiiiigteii Staaten die Lehrmethoden,
n^memhcb in der Volksschule, griiitdHch umg^tattet. wenn auch gute nicbt-
ameriktnische Ideoi grundsätzlich daselbst nicht verworfen wurden. Haupt-
I sächlich hat sich in der Union und auch in Kanada die durchaus gesunde,
[ auch für nnier gesamtes Schulwesen richtige und ieichr anwendbare Auf-
fassung immer mehr Bahn gebrochen, daß die Volksschule die Grundlage
wachst nur für ein demokratisches, sondern für jedes Gemeinwesen bildet und
[ daher unbedingt von den Kindern der reichsten Leute, ebenso wie von denen
I der ärmsten, welche bekanntlich oft die vorzüglichsten Schiller sind, allein
' besucht werden muß. Die Mitschüler und Mitschülerinneii wählen sich in
Kr L'nion selbst einen sogenannten Klassenpräsidenten oder eine Klassen*
Ksidenttn, unserm Frimus oder Ordnungsschüler vergleichbar, welche Wurde
il öfter gani armen als reichen Kindern erteih Mird. Die Disziplin beruht
I in den Vereinigten Staaten nichts wie in Deutschland, auf dem kategorischen
I Befehl des Lehrers und dem Crundsatre Benc imperanti betie paretur. ?iondern
! auf der völligen Sympathie der lehrenden Person mit der lernendenj der
j Anlegung und Erklärung der ersteren, insbesondere aber der den Schul*
1' persollen seitens der Lehrer stets beigebrachten oder beizubringenden Auf-
fassung von der unbedingten Ersprießlichkeit des L^nterrichis für die Lernen*
- den, sowie ihrer Selbstarbeit und Geistesschulung auf Grund der Erfahrung.
So lernen die Schüler und Schülerinnen in gemeinsamer Arbeit durch Tun,
nicht durch abstraktes logisches Denken und Kombinieren.
I Sehr einlach wird in der Union die Frage des Religionsunterrichts
' behandelt und gelöst, indem in ihm überall nur die ethische Seite hervor-
gehoben wird. Welche Schwierigkeiten hat dagegen allen europäischen
Staaten von jeher und ganz besonders auch jetzt die Losung dieser Frage
t»ereitetl Fitch sagt darüber einfach]^ Die Geistlichen als solche haben
mit der Schule nichts zu tun. Die Verfassungen aller Bundesstaaten sprechen
\ die gänzliche Freiheit der religiösen Anschauung und des Religionsunterrichts,
sowie die gesetzliche Gleichstellung aller Bekenntnisse aus. Dabei muß nicht
' etwa angenommen werden, daß die Bibel in den nordamerikanischen Schulen
gar nicht benutzt wird; nur in 197 von 946 Lehranstalten war sie nach
dem Berichte der betreffenden Direktoren vom Religionsunterricht ganz aus-
geschlossen.
Aucli in Bürgerkunde wird in alkn Schulen der Union unterrichiet,
selbst ruweilen rwecks Erwerbung der im späteren Leben so wichtigen
Sprechfähigkeit Siadtvertretuugs- oder ähnliche Sitzungen mit fingierten
Tagesordnungen abgehalten, der Patriotisnnus durch Absingen nationaler
Lieder und Veranstaltung geschichtlicher Gedenkfeiern, an denen sich in
hervorragendem Maße auch die weibliche Jugend im Verein mit der männ-
lichen beteiligt, gekräftigt und so der Erziehung überall die Koedukation zu
Grunde gelegt.
Besonders wichtig ist auch der Umstand» daß m der Union die Frau
in der Schulverwaltimg eine wichtige Holle ^ielt, natürlich nur hinsichtUch
der Mädchenschulen. Übrigens werden auch in einer aJten» bisher noch nicht
aufgehobenen, preußischen Min ist erial Verordnung vom ^. Juni 1811, auf
wrkhe die Berliner Volksschullehrerin Fraulem Gädke in der Sitzung des
412
Mitttäungm,
khuU „
V^mils Berliner VolksschuilehrertunetL vom 19* Mai 1903 iitr ßegttmdüiig
ihrer Aufatellüngen mit Recht hingewiesen hat, die Schuldeputationen aui
drucklich aufgefordert, die Frauen bei zutreffenden MaBnahmen xu Rate
2U ziehen und die Hausmutter des Orteä für die Angelegenheiten der Schule
lu interessieren. Die Schuldeputationen, selbst der größten Siadte in Dci
land, enthalten dagegen oft nur zwei oder höchst etis drei Schuhnaniier,
daß die Frau in diesem Kollegium gar nicht gehört werden kann. Wdblidi«
Schulinspektoren gibt es, soviel wir wissen, innerhalb des Deutschen Rddies
bis jet^t nur in Baden und zwar in Offenburg.
Die Forderung, daß die Frau auch in Deutschland in der Sduii^
kommission Sit^ und Stimme habe* ist unbedingt anzuerkennen. Es itebt
feit, daß die den Mädchen früher mteil gewordene Unterweisung m der
Hauptsache Gemütsbildung war und vielfach auf rem äußerlich angeeignetcnj,
sehr bald wieder vergessenen Wissen beruhte, während doch die letUßO
Schuljahre für die Töchter, iiisbesondere die der arbeitenden Klassen, dit
wichtigsten sind. Daher würde es sich iinstTeitig empfehlen, tückti^
Lehrerinnen das Ordinariat in den oberen Mädchenklassen aniuvenrauen
Alle diese durchaus billigen Ansprüche würde nun auch die deutsche Ldircfiii
geltend machen können, wenn ihr gleich ihrer amerikanischen Kolkgia Siti
und Stimme in der Sc hui Verwaltung, d. h. in der SchuldeptHaüon ©to
dtm Schul vorstände eingeräumt würde,
W o H s t c i n. K a r I L d s c h ho r
4
nJlfsschtilen fflr scbwicltbefihigt« Klitd«r.
Bereits in den letzten ^ehn Jahren des vergangenen Jahrhundens siödüT
vielen größeren Städten Deutschlands, namentlich in Berlin, Breslau, MagtSc
bürg, Hannover, Posen, Lübeck» Braunscfcweig u.a. Hilfsschulen für schwadi j
befähigte Kinder ins Leben gerufen, die sich recht gut bewährt haben, Waä in ^
diesen Anstalten, die im allgemeinen nur von einer beschränkten AnfaU voo
Schülern und Schülerinnen besucht werden, gelehrt wird, steht noch unter
den Anforderungen der «infachen Volksschule, so jedoch, daß die betreffenden
Kinder immerhin noch das, was sie für ihr späteres Leben iinbedin|t %^
brauchen, genügend lernen, also wenigstens soviel, daß sie mittels cinf*
ihren Fähigkeilen angepaßten Unterrichts eine bescheidene Verwenduiig "»
der bürgerlichen Gesellschaft finden, d. h. sich ihren Unterhalt spatef «'^'"j
ständig, oder ziemlich selbständig erwerben kötmen« Es handelt sich also sic»|
um Kinder, die noch immer bildungsfähig, aber infolge von UnglüdaftÜc*'
Krankheiten oder erblichen Belastungen geistig rurückgeblieben sind ^^ ^
bei ihrer geschwächten Auffasiungs- und Denkfähigkeit dem Unterricl}^^ fl
in der Volksschule durchaus nicht zu folgen vermögen. Für blödsinnig« ^
an Krämpfen leidende Kmder wie notorische Idioten ist der Besuch ^^
Hilfsschule schon aus dem Grunde gänzlich ausgeschlossen, weil der Sta-irJ
auf diesem Gebiete schon selbst seit langer Zeit eigene, vortrcffhch f>^ i
gerichtete Heil- und Lehranstalten besitzt.
Die Einrichtung der Hilfsschulen ist hauptsächlich deswegen mit gt«fl<^j
Freude tu begrüßen, weil den VolksschuUelirern bei der vielfachen ii^'
MiiUüum^m,
413
\ ihrer Klassen die Zeit fehlt, sich mit den Schwachbefähigten ein*
ihender ru beschäftigen, wenn sie nicht andere Schüler dabei vcrnach-
isigcn wollen. Diese Wenigbegabten neigen nun, wie leicht erklärlich
;, wejj sie im Unterricht meist unberücksichtigt bleiben müssen, also iin-
scbäftigt sindf t\x Störungen aller Art, sind außerdem dem Hohn und
lott ihrer Mitschüler ausgesetzt und werden dadurch nicht sehen verbittert»
□(tsig und bashaft. Es werden daher und zwar stets mit Genehmigung der
Item und jiach vora^uf gegangen er ärztlicher Untersuchung, wie einer Prüfung
*T Fähigkeiten des betreffenden Schülers im Beisein der städtischen Schul*
^utation in die Hilfsschulen nur solche Kinder aufgenommen» welche eine
idercVolks schule zwei Jahre hindurch ohne Erfolg besucht haben. Dem Unter-
cbt wird ein für vier aufsteigende Klassen festgesetzter Lehrpian zugrunde ge^
gt. Im Deutschen werden die Kinder wenigstens soweit gefördert, daß sie
ießend und mit Verständnis lesen, die Sprache anderer verstehen und sich
arch die Sprache anderen verständlich machen lernen. Im Rechnen wird der
alilenkreis 1000 eingehend behandelt. Beim Unterricht in der Heimat-
iiode wird von den vier Jahreszeiten ausgegangen und dann zur Heimat^
adl und deren Umgebung vorgeschritten. Eingehend werden dann ledig-
£h die Heimat provinjt oder, wenn es klein ist, das Heimatbnd, nur kun
agegen Deutschland und die einzelnen Weltteile behandelt. Jm Geschichts*
[iterricht werden den Lernenden die bedeutendsten Personen und Ereignisse
er preußischen Geschichte vorgeführt, im naturkundlichen Unterricht die
tchtigsten Pflanzen und Tiere, im Singen eine Anzahl Lieder eingeübt. Der
en Schwachbe^bten lu erieilendc Unterricht im Zeichnen umfaßt Net^-
dehnen und freies Zeichnen, Außerdem wird Knaben und Mädchen wöchent-
eh Handarbeitsunterricht in zwei Stunden erteilt, auch Turn^ und Spiel >
:unden werden ihnen gegeben. Knaben, namentlich schwerfällige und
ngescbickte, sollen dadurch einigermaßen gewandt gemacht werden, Auge
od Hand 2ti üben und zu bilden, sowie in sich Formen- und Schönheitssinn
i wecken und zu pflegen. Die Mädchen lernen sticken, nähen» stopfen
Etd flicken. Überall ist die Behandlur^g eine durchaus individuelle. Vielfach
nd daher die Klassen in den Hilfsschulen vollständig durchgefuhri und
ie Stunden für Religion, Deutsch und Rechnen gleichgelegt, da die Er-
ihrung aufs deutlichste gezeigt hat, daß die Leistungen geistig schwacher
jiider in den etnielnen Fächern nicht selten sehr verschieden sind und auf
e angegebene Weise ein Austausch einzelner Kinder zwischen den ver-
Medenen Klassen der Anstak leicht ermöglicht werden kann.
■ Anfangs pflegte man in verschiedenen Städten die Hilfsschulen einer
Br mehreren Volksschulen anzugliedern, sehr bald aber erkannte man,
10 dies nicht der geeignete Weg sei, um die schwachbefähigten Kinder
fügend t\x fördern, und eröffnete daher verhältnismäßig schnell für die-
ilben selbständige, als gesonderte Organismen zu betrachtende Hilfsschulen
eigens zu diesem Zwecke angekauften städtischen Grundstücken-
Möge dies Verfahren die weiteste Nachahmung finden» denn — die
n bedürfen des Antes nicht, sondern die Kranken.
k:W ollst ein.
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Verlag von Hermann Walther, Verlagsbnchhandl., O. m. b. H., Berlin SW., KomwuMburtHiit. t
Druck : Deutsche Buch- und Kunstdruckerei O. m. b. H., Zonen— BcriUi SW. 11.
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44
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AbführnilttBl für Kinder und Erwachsene
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1903
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Ferdittiind Kemsies und Leo Hirsclilfiff.
Inhalt von Heft 6,
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gübiita« Kindefideal«« (ScKIum,)
JHIitelJuiiseii.
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Herausgegeben
von
Ferdinand Kemsies und Leo Hirschlaff,
Jahrgang V. Berlin, Dezember 1903.
Heft 6.
Hauptprobleme der kindlichen Sprach-
entwicklung
»ach eigener Beobaciitiing behandelt von
Heinrich Idelbergen
(Schluß,)
Nachdem ich bis dahin im allgemeinen die Entstehungs-
ursachen der scheinbaren Worterfindungen dargelegt habe,
möchte ich mich nunmehr noch etwas näher mit den Berichten
von Stumpf und Haie über angebliche Erfindung einer voll-
ständigen Eigensprache befassen, deren Beurteilung besondere
Schwierigkeiten macht. {Stumpf, Eigenartige sprachhche Ent-
wickelung eines Kindes; Zeitschrift für pädagogische Psycho-
kigie III*, 6, Horatio Hale^ the origin of languages, in den
Proceedings of the American Association for the Advancemem
of Science- VoL XXXV.) Es ist selbstverständlich nicht an-
gängig, diese Berichte in ihrer Ausführlichkeit hier aufju-
nehinen; ich gebe darum im folgenden Auszüge aus denselben
im Anschluß an Meumann (Meumann IL Seite 30 fi) und
Rzesnitzek (Rzesnitzek, a, a. O., Seite 18 ff.).
Der Psychologe Karl Stumpf beobachtete an einem seiner
eigenen Kinder die Entstehung einer vollständigen Sonder-
sprache, die sich immer mehr erweiterte und bereicherte,
obwohl das Kind völlig normal war. Die Ursache dieser
regelwidrigen Sprachentwickelung waren nicht aufzudecken
ZdtÄhnft f^f pitbgogiscbe Psychobtic. Pathologie und Hygiene. 1
^^^ '^^z^^^^^^robUme der kindlichen Sprachentwicklung, 427
*^^^ Stumm; dami lernten sie allmählich die eng-
xand ihre eigene Sprache verschwand.
sodann einen zweiten Fall, von welchem wir
n Untersuchung des Dr. Hun (Dr. E. R.
nent of Language in a Child, in Monthly
Medicine 1886) einen ausführlicheren
"^ ein Mädchen von 4^/2 Jahren in
^ahren war dasselbe noch derart
'aß es nur die Wörter „papa**
Zeit fing es an, nur selbst-
nd obgleich es verstand,
>ch die gehörten Wörter
nate jüngeren Bruder
. Im Hause wurde nur
.1, und es ist zweifelhaft, ob
^iie sprechen gehört hat. Trotzdem
^inen Wörtern einen starken Anklang
^iie. Mit „feu** (französisch gesprochen) be-
'*>Veuer, Licht, Zigarre, Sonne", mit „tout** „alle,
^^^-s" „nicht". „Peti — peti" als Name für den Bruder
!5^^inlich das französische „petit", und „ma" ist viel-
^■Orrumpierte französische Wort „moi". Das Kind
^^r „gar" für „Pferd", „deer" für „Geld", „beer"
■^^^j Schule", „peer" für „Ball", „bau" für „Soldat,
"^^^o" für „schicken, ausgehen, wegnehmen", „keh"
^^^^utzen", „pa — ma" für „schlafen gehen, Kopfkissen,
^^ Neigung zur Reduplikation zeigt sich in „migno —
^^ „Wasser, Wäsche, Bad", „gogo" für „Süßigkeiten,
>>Avaia — waiar" für „schwarz, dunkel, Neger". „Gummi-
^ichnet „Brot, Gemüse" und dergl., auch die „Köchin".
^^n auch ein Adjektiv werden, wie in „ne — pas — feu",
'^rm". Das 2feitwort „odo" besitzt eine verschiedene
^g, je nach der Stellung oder den begleitenden Wörtern ;
** bedeutet „ich will ausgehen", „gar — odo" „laß das
•onmien", „tout — odo" „alles ist ausgegangen". „Gaän"
it Gott, und bei Regenwetter laufen die Kinder
s Fenster und rufen: „Gaän odo migno — migno,
lo", d. h. „Gott, nimm den Regen fort und sende
onne". „Odo" vor dem Objekt bedeutet „nimm
(lach dem Objekt „senden". Damit sind auch dje An-
1*
426 Hemriek Idelberger.
Das Kind bildete eigene Ausdrücke für Gegenstände,
Eigenschaften, Eigennamen, Zahlwörter usw., die sämtlich
Verdrehungen und Entstellungen der Sprache der Er-
wachsenen zu sein schienen ; aus diesen entstanden dann später
ganze Sätze, die oft kaum noch an die Sprache der Erwachsenen
erinnerten und natürlich nur von den Personen verstanden
wurden, die täglich mit dem Knaben verkehrten. So sagte
das Kind : „ich olol hoto wapa" = Rudi hat mein Pferd um-
geworfen. Ich bedeutet dabei „mein", olol ist der Name für
Rudi, hoto heißt Pferd, und wapa ist eigene Umbildung aus
werfen. Oder : heda krei tück koko prullich wapa = Luise hat
mehrere Stücke Zucker in die Milch geworfen. Vergebens ver-
suchten die Eltern, dem Kinde die richtigen Ausdrücke bei-
zubringen ; selbst wenn die Mutter ihm Gedichte vorsagte und
den Schluß eines Verses ergänzen ließ, setzte das Kind die Worte
seiner Eigensprache ein, obwohl der Reim dadurch zerstört
wurde: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen, g^b sie wieder
her, sonst wird dich der Jäger holen, mit dem .... pupupa."
Im Laufe des dritten Jahres gab dann das Kind plötzlich, ohne
sichtbaren Anlaß, diese Eigensprache auf.
Der amerikanische Sprachforscher Horatio Haie hat andere
sprachliche Abnormitäten mitgeteilt, die sich aus der Isolierung
des Kindes erklären sollen. In dem einen Falle berichtet H.
von einem Zwillingspaare, das 1860 in einer Vorstadt von Boston
geboren wurde. Diese Kinder waren mütterlicherseits deutscher
Abstammung, aber die deutsche Sprache wurde in der Familie
nicht gesprochen. Im gewöhnlichen Alter begannen diese
Kinder zu sprechen, aber nicht englisch, sondern sie bedienten
sich einer eigenen Sprache, von deren Gebrauch sie sich auch
durch die Versuche einer fünf Jahre älteren Schwester nicht
abwendig machen ließen. Selbst die herkömmlichen Wörter
„papa" und „mamma** für „Vater** und „Mutter** sprachen sie
nicht aus, sondern hatten dafür ihre eigene Bezeichnung. Unter
sich verständigten sie sich mit derselben Lebendigkeit \md Leich-
tigkeit wie andere Kinder. Ihr Akzent schien der deutsche
zu sein; auch gebrauchten sie wiederkehrende Wörter, von
denen die Familie mit der Zeit einige unterscheiden lernte,
z. B. „ni — si — boo — a** für Wagen, wobei die Silben manchmal
so oft wiederholt wurden, daß daraus ein weit längeres Wort
entstand. Im siebenten Jahre zur Schule geschickt, blieben sie
HaupipröbUme der kindlichem Sprackemtwicklung,
431
die erste Woche stumm; dann lernten sie allmählich die eng-
lischen Wörter, und ihre eigene Sprache verschwand,
Haie erwähnt sodann einen zweiten Fall, von welchem wir
nach der eingehenden Untersuchung des Dr. Hun (Dr. E. R.
Hun, Singular Development of Language in a Child, in Monthly
Journal of Psychological Medicine i8S6) einen ausführlicheren
Bericht besitzen. Er betrifft ein Mädchen von 4^/g Jahren in
Albany* Im Alter von zwei Jahren war dasselbe noch derart
im Sprechen zurückgeblieben, daß es nur die Wörter ,,papa"
und ,,mama** sprach. Um diese Zeit fing es an, nur selbst-
gebildetc Wörter zu gebrauchen, und obgleich es verstand,
was man zu ihm sprach, so ahmte es doch die gehörten Wörter
nicht nach. Es hatte auch einen 18 Monate jüngeren Bruder
zur Aimahme seiner Sprache veranlaßt. Im Hause wurde nur
die englische Sprache gesprochen, und es ist zweifelhaft, ob
das Kind jemals die französische sprechen gehört hat. Trotzdem
haben mehrere von seinen Wörtern einen starken Anklang
an das Französische, Mit ,ieu'* (französisch gesprochen) be-
zeichnet es „Feuer, Licht, Zigarre, Sonne*\ mit ,,tout** „alle,
jedes**, j,ne pas" „nicht". ,,Peti— peti" als Name für den Bruder
ist augenscheinlich das französische „petit**, und „ma** ist viel-
leicht das korrumpierte französische Wort „moi"* Das Kind
sprach ferner „gar** für „Pferd**, „decr'* für ,,Geld**, ^,beer*'
für j.Bücher, Schule", „peer" für „Ball", „bau** für „Soldat,
Musik", „odo** für „schicken, ausgehen, wegnehmen", „keh"
für „beschmutzen**, „pa — ma" für ,,schlafen gehen, Kopfkissen,
Bett". Die Neigung zur Reduplikation zeigt sich in „migno^
migno" für „Wasser, Wäsche, Bad", p>gogo"* für „Süßigkeiten,
Zucker*', „waia—waiar** für „schwarz, dunkel, Neger". „Gummi-
gar" bezeichnet „Brot, Gemüse** und dergl„ auch die ,, Köchin",
,,Feu" kann auch ein Adjektiv werden, me in „ne^ — pas — ^feu",
„nicht warm". Das Zeitwort „odo" besitzt eine verschiedene
flgdeutung, je nach der Stellung oder den begleitenden Wörtern ;
l^odo" bedeutet „ich will ausgehen", „gar— odo" „laß das
Pferd kommen**, „tout— odo** „alles ist ausgegangen". „Gaän*'
bedeutet Gott, und bei Regenwetter laufen die Kinder
6 das Fenster und rufen: „Gaän odo migno—migno,
odo*\ d. h, „Gott, nimm den Regen fort und sende
Sonne**, „Odo** vor dem Objekt bedeutet „nimm
nach dem Objekt „senden**. Damit sind auch dje An-
428 Heinrich Idelberger.
fange einer Syntax gegeben, die wir auch in der Verbindung
„mea waia — naiar** „dunkler Pelz** (mea = Katze, Pelz) finden,
wobei das Adjektiv dem Substantiv folgt. Die Worte „papa",
„mamma** werden in ihrem gewöhnlichen Sinne gebraucht; in der
Verbindung „papa — mamma** bezeichnen sie „Kirche, Gebet-
buch, Kreuz**. „Bau = Soldat** bezeichnet auch einen Bischof,
seitdem die Kinder einen solchen in seiner Mitra gesehen hatten.
„Gar — odo** bezeichnet eigentlich „laß das Pferd kommen*';
seitdem aber die Kinder gesehen hatten, daß, wenn der Vater
einen Wagen gebrauchte, derselbe eine Bestellung aufschrieb und
nach dem Stall schickte, so fingen sie an, „gar — odo** auch
für Bleistift und Papier zu benutzen. Außer diesen beiden Bei-
spielen gibt Haie noch andere höchst interessante Belege dafür,
daß sich das kleine Kind scheinbar die Sprache selbst schafft
und nur durch das Aufdrängen der Sprache der Umgebung
an der Weiterbildung der eigenen Sprache verhindert wird.
Auch der Archidiakon Farrar unterstützt diese Ansicht, wenn
er sagt : „Die vernachlässigten Kinder einiger kanadischer und
indianischer Dörfer, die dort tagelang allein gelassen werden,
pflegen selbst eine Art von lingua franca zu erfinden, die teil-
weise oder gänzlich allen unverständlich ist.** (Romanes, Die
geistige Entwickelung beim Menschen, Seite 263. Entnommen
aus Meumarm II. Seite 33.)
Zu diesen Berichten Stumpfs und Haies möchte ich folgen-
des bemerken. Professor Stumpf glaubt die von der Sprache
der Erwachsenen vielfach ganz abweichenden sprachlichen Bil-
dungen seines Kindes als willkürliche, absichtliche Formationen
ansehen zu müssen, zumeist erzeugt durch das Bestreben des-
selben, mit der Sprache zu spielen. (Vergl. hierzu Stumpf,
a. a. O., S. 420, 422, 423 (Fußnote), 430 (Fußnote), 44^
und 479.) Nun ist die Gewohnheit, hin und wieder mit der
Sprache zu spielen, — in Verbindung mit jugendlichem Über-
mut — ein Faktor, welcher gar häufig Kinder veranlaßt, sprach-
liche Ausdrücke und Wendungen der Erwachsenen in komischer
Weise zu entstellen ; doch macht sich derselbe regelmäßig erst
in einer Zeit geltend, in der das Kind die Sprache seiner Um-
gebung mehr oder weniger beherrscht. Für das Kind in den
ersten Sprachanfängen — und darum handelt es sich im Falle
Stumpf — kommt aber eine derartige willkürliche, mit Bewußt-
sein und bestimmter Absicht ausgeführte Umbildung nicht in
il^upi^roltkmt der JldmUkheft Spr4i€hentii*tcHung,
429
Frage* Es bat vollauf damit m tun^ die Sprache der Envach*
senen aufzufassen und nachzuahmen ; sein Verhalten hierbei
ist ein durchaus passives. Daß sich das sprechenlemende Kind
nun gar durch ein solches Spielen systematisch eine derartig
umfangreiche und entwickelte Sprache, wie die berichtete,
schafft, erscheint mir nach meinen Beobachtungen unmöglich.
Daß die angeborene Spraclidisposition die Schöpferin dieser
cigentümUchen Sprache gewesen sei, halte ich nach meinen
obigen Darlegimgen über die Entstehungsursachen angeblicher
Wonerfindungen deshalb für ausgeschlossen, weil foitgesßtzt
die mannigfaltigsten sprachUchen Entwickelungsreize durch die
Sprache seiner Umgebung auf das Kind einwirkten und eine
Betätigung der ersteren in der fraglichen Richtung ausschließen
mußten. (Über den Einfluß der natürlichen Sprachveranlagung
auf die Sprachen! Wickelung werde ich später noch sprechen.)
Stumpf selbst, der das Kind täglich beobachtete, faßt die be-
richteten eigentümlichen Sprachbildungen nicht als spontane
Erzeugung auf; verschiedenfach ist er imstande, die direkte
Beeinflussung seitens der Erwachsenen nachzuweisen; wo ihm
dies nicht möglich ist, glaubt er, wie oben erwähnt, ein ab-
sichtliches Umformen annehmen zu müssen. — Nach meinem
Dafürliallen hegt der erste Anlaß zu dieser eigentümUchen
Sprach bildung sicherlich in der Unvollkoramenheit des Kindes
(ungenauem Hören, mangelhafter Beherrschung des moto-
rischen Sprachapparates imd unvollkommener Beobachtung),
Die plötzliche Aufgabe dieser abnormen Sprache macht es aber
unmöglich, anzunehmen, daß das Kind dieselbe nur dem un-
genauen Hören etc, verdankt ; das lange Festhaken an derselb^m
macht weitere Erklärungsgründe notwendig, und als solche
sind nun wahrscheinlich der Eigensinn des Kindes, seine Selbst-
gefälligkeit, sein Bestreben, etw^as Extraes zu leisten (Marotte)
anzusehen* —
In den von Haie berichteten Beispielen scheinbarer Sprach-
erfindung möchte ich die Eigentümlichkeit der Sprachproduk-
tionen lediglich auf die im Kinde liegenden Hemmimgsursachen
zurückführen. Eine vollständige Isolierung dieser Kinder hat
wohl nicht stattgefunden, wenigstens nicht in dem Maße, daß
jede sprachbildende Anregung von seilen der Erwachsenen
Fiusgeschlossen gewesen wäre; nur eine absichtliche Sprach
iiflussung scheint unterblieben zu sein. Eben darum aber
mm
430 Heinrich Idelberger.
halte ich auch — wiederum gestützt auf meine allgemeinen Aus-
führungen über die Entstehung scheinbarer Worterfindungen —
die Annahme für die richtigere, daß bei den uns von Haie
vorgeführten Kindern, wie ich schon sagte, die vermeintlichen
spontanen Wortbildungen durch die kindliche Unvollkommen-
heit hervorgerufen worden sind, im übrigen aber diese Sprach-
prozesse, wie auch sonst, rein assoziativ verlaufen, der assDzia-
tiven Analogie und Übertragung folgen. In der Tat verraten
ja auch alle diese Wörter bei genauerer Betrachtung deutlich
die Verstümmelung und andere Verwendung von Wörtern, die
die Kinder gehört haben. Noch bemerken will ich, daß ich
den Angaben Haies (bezw. Huns) insofern mit einem leisen
Zweifel begegne, als bezüglich des zweiten Falles auch berichtet
wird, die Mutter habe zwar die französische Sprache gelernt,
dieselbe aber niemals in der Unterhaltung gebraucht. (Stumpf,
a. a. O., Seite 446.) Sollten nicht die offenbar dem Französischen
entlehnten Ausdrücke „feu", „tout", „ne — pas" etc. auf mütter-
liche Anregung zurückzuführen Isein ? Sollte also die Bemerkung
Haies, das Kind habe niemals die französische Sprache reden
hören, nicht ewta auf einem Irrtum beruhen?
In den voraufgehenden Ausführungen habe ich auch an
einer Stelle der Sprachdisposition Erwähnung getan, jener ver-
erbten Anlage zur Sprachbildung, welcher die Verfechter einer
Worterfindung diese spontane Worterzeugung zuschreiben. Ich
habe dargelegt, daß sie sich in dieser Richtimg nicht geltend
macht. Da drängt sich uns derm die Frage auf : Ist ihr über-
haupt ein Einfluß auf die kindliche Sprachentwickelung zu-
zuschreiben ?
Daß zunächst der Mensch eine erbliche Disposition zur
Sprachentfaltung mitbringt, ist nicht zu leugnen. Wir müssen
dies vor allem aus entwickelungsgeschichtlichen Gründen an-
nehmen ; wir können es aber auch daraus folgern, daß sich indi-
viduelle sprachliche Eigentümlichkeiten und Sprachfehler ver-
erben und auch dann geltend machen, wenn Kinder dem Ein-
flüsse ihrer Eltern entzogen sind. (Memnann.) Auch die Tat-
sache, daß eine besondere rethorische Begabung gar häufig
in aufeinanderfolgenden Geschlechtem auftritt, wird mit als
ein Beweis für das Vorhandensein einer erblichen Sprachver-
anlagung gelten können. Wie wir uns nun diese Disposition
zum Sprechen zu denken haben, oder welche Bedeutung der-
Hüuptpr&hlems dsr kindl$£ßmt Spra^hentwrdbluH^,
431
selben wahrscheinlich in der phylogenetischen Sprachentwicke-
lung zukommt : diese Fragen sind für uns in dem gegenwänigen
Zusammenhang gleichgühig. Bei Behandlung des Problems
der Worterfindung interessiert es ims nur» etwas über den
faktischen Einfluß derselben auf die ontogenetbche Sprach-
entwickelung zu erfahren. Da könnte denn zunächst die Frage
aufgeworfen werden; Sind die Eigentümlichkeiten der Kinder-
Sprache, wie sie sich in den verstümmelten Nachahmungen
des Kindes, falscher Anw^endung derselben etc. ausprägen, etwa
auf eine Aktivität dieser Disposition zurückzuführen? Auf Grund
meiner Beobachtungen muß ich hierauf antworten, daß sich
dieselben lediglich aus der UnvoUkommenheit des kindlichen
Organismus' imd Bewußtseins erklären. ,,Sein ungenaues Hören
bewirkt^ daß es die Worte falsch auffaßt, seine mangelhafte
Beherrschung des motorischen Sprechapparates, daß es die
imgenau aufgefaßten Worte verstümmelt wiedergibt, seine un-
vollkommene Beobachtung, daß es nicht erkennt, auf welche
Objekte der Erwachsene seine Bezeichnungen richtet/* (Meu-
mann IL, a* a. O, Seite 33,) Eine sprachschöpferische Tätig-
keit des Kindes ist in diesen Eigentümlichkeiten jedenfalls nicht
m erkennen.
IWenn nun die Sprachdisposition einerseits — wie nach-
lesen " eine spontane Worterzeugung nicht ermöglicht,
ererseits auch ein Einfluß derselben in den soeben erwähnten
Qiarakteristika der Kindersprache nicht nachweisbar ist, so
müssen wir fragen: Ist diese nicht zu leugnende Naturanlage
heute denn ganz bedeutungslos für die kindliche Sprachent-
wickelung ? Zeigt sich in der letzteren nicht ein Moment, welches
als Erfolg einer dispositionellen Betätigung aufgefaßt werden
J^nnte ?
^ Als ein solches Moment ist sicherlich die spontane Laut-
erzeugung und die Bildung von LallwÖrtem anzusehen. Denn
fast jedes Kind bringt in der Periode des spontanen Lallens
massenhaft Laute hervor, wie das Krähen, Girren, Plappern,
Schnalzen, Wimmern, Schmatzen, Quieken, Zwitschern,
Krackein, Gohlen, Kutern etc., welche die Personen seiner Um-
gebung nicht sprechen, die es also niemals von diesen gehört
haben kann und w^elche später auch wieder verschwinden» Auch
das hohe Maß von Energie, welches das Kind in den ersten
Lebensjahren auf die Aneignung und Ausbildung seiner Sprache
432 Heinrich Idelberger,
verwendet, werden wir auf Rechnung dieser vererbten Anlage
setzen dürfen.
Im übrigen ist ein Einfluß dieser Disposition auf die
ontogenetische Sprachentwickelung nicht zu erkennen; er wird
vollständig aufgehoben durch die äußeren Sprachentwickelungs-
reize, die in der Hauptsache von der Sprache der Erwachsenen
ausgehen. Die Schwäche der Anlage diesen Entwickelungs-
reizen gegenüber wird durch die Tatsache gekennzeichnet, daß
die äußere Beeinflussung den spontanen und dispositionellen
Entwickelungsfaktoren zeitlich bedeutend vorgreift und die
Sprache vorzeitig hervortreibt. Dies erhellt besonders daraus,
daß einesteils der Einfluß der Erwachsenen auf die kindliche
Sprachentwickelung beobachtungsgemäß nahezu vom ersten
Lebenstage an beginnt, andernteils die spontane Sprechtätigkeit
der mehr oder minder sich selbst überlassenen Kinder später
hervortritt als die Sprache der von den Erwachsenen beein-
flußten Kinder. „Kinder armer imd imbemittelter Eltern lernen
später sprechen als die gleichalterigen Nachkommen von Eltern,
die sich mehr mit ihren Kindern beschäftigen können oder
wollen. Die älteren Kinder derselben Familie lernen in sehr
vielen Fällen später sprechen als die jüngeren, und ihr Wort-
schatz ist in der gleichen Zeit ärmer. Psychologisch beobachtete
Kinder pflegen ihre Sprache zu verfrühen gegenüber anderen
normalen Kindern.** (Meumann I., a. a. O. Seite 67.) In An-
betracht dieser Erscheinung bezeichnet Wundt die Sprach-
bildung unserer Kinder als eine verfrühte Entwicklung. (Aus
Meumann I., a. a. O. Seite 68.)
„Es ist leicht von diesen Überlegungen aus einem Einwände
zu begegnen. Man könnte sagen, es entscheide doch nicht
allein der Zeitpunkt, in dem sich die Disposition des Kindes
zur Sprache geltend macht, sondern in erster Linie die Kräftig
keit dieser Disposition, ihre Widerstandsfähigkeit, ihre plastische
Macht gegenüber dem Einfluß der Erwachsenen. Allein es ist
leicht zu sehen, daß die Kraft der Disposition eben durch das
Zeitverhältnis zwischen ihrem Hervortreten und den äußeren
Entwickelunsantrieben bedingt sein muß. Durch die Früh-
zeitigkeit der Einwirkung der äußeren Einflüsse ist dieSchwäche
der Disposition gegeben.** (Meumann I., a. a. O. Seite 68.)
Im weiteren Verfolg dieser Erwägungen liegt sodann der
Schluß nahe, daß diese natürliche Anlage im Laufe der Jahr-
Hauptprobleme der kindUcken Sprachentwicidung. 433
tausende durch ihre geringe Betätigung alhnählich verkümmert
ist, so daß sich dieselbe in Bezug auf Kräftigkeit und daraus
resuhierenden Einfluß auf die Sprachentwickelung heute nur
noch als ein Rudiment ihrer Ursprünglichkeit darstellt. —
Die Lautentwicklung und deren äussere
Bedingungen.
Anhangsweise möchte ich noch etwas näher auf die rein
lautliche Seite der Sprache des Kindes eingehen und zwar
iie Frage der Lautentwickelung in der Periode des spontanen
Lallens imd deren äußere Bedingungen behandeln.
Welche artikulierten Laute das Kind zuerst spricht, welche
in der sprachlichen Entwickelung sodann folgen und welche den
Schlußstein in dem Lautgebäude bilden, ob die Laute bei ihrer
Entwückelung überhaupt eine bestimmte Reihenfolge innehalten,
3b die Lautfolge etwa einem bestimmten Gesetze unterworfen
5ei: alle diese Fragen sind oft erörtert worden. Besonders
lebhaft hat sich die Diskussion in dieser Richtung gestaltet,
seitdem Fritz Schnitze tatsächlich ein nach ihm benanntes Gesetz
ier Lautentwickelungsreihe aufgestellt hat in der Form, „daß
die Sprachlaute im Kindermund in einer Reihe hervorgebracht
werden, die von den mit der geringsten physiologischen Anstren-
gung zustande kommenden Lauten allmählich übergeht zu den
cnit größerer, und bei den mit größter physiologischer An-
strengung zustande gebrachten Sprachlauten endet.** (F. Schnitze,
Die Sprache des Kindes. Seite 27. Entnommen aus : Rzesnitzek,
Zur Frage der psychischen Entwickelung der Kindersprache.
Seite 8.) Nach diesem Schultzeschen Gesetz soll also die
Erwerbung der artikulierten Laute durch das Kind dem Prinzip
des kleinsten physiologischen Kraftmaßes folgen, wonach die
Lippenlaute zuerst und später die Zahn- und Gaumenlaute auf-
treten. Dieses Prinzip ist dann später auch von Gutzmann
[Gutzmann, Die Sprache des Kindes und der Naturvölker. Aus
.\ment Seite 57) vertreten worden,*) welcher behauptet, die
*) Nach Fertigstellung des Manuskriptes dieser Abhandlung finde ich
Im „Archiv för die gesamte Psychologie" herausgegeben von E. Meumann,
i. Band« 1. Heft, Referate Seite 9 folgende die Frage der Lautentwicklung
betreffende Bemerkung Gutzmann's: ,J£s treten unter diesen Lalllauten
sämtlidie Laute der späteren Sprache auf. Aus den Beobachtungen aller
Autoren susammengenommen läBt sich dieser Schluß zweifellos ziehen. Ich
434 Heinrich Idelhcrger,
Lippen- und Zahnlaute würden auf der Stufe des Lallens, die
Gaiunenlaute aber erst auf der Stufe der Wortbildung erlernt.
Preyer (Die Seele des Kindes, 4. Auflage, Seite 367 ff.; ent-
nommen aus Meumann IL Seite 20). Meumann (Meumannll.
Seite 19 ff.), Ament (Entwickelung von Sprechen und Denken
beim Kinde. Seite 56 ff.) und Rzesnitzek (Zur Frage der psychi-
schen Entwickelung der Kindersprache. Seite 9 und 10) haben
sich nun gegen dieses Schultzesche Gesetz der Lautentwicke-
lungsreihe gewandt. Letzterer hebt besonders noch hervor, daß
sich dasselbe auch beim Artikulationsimterrichte Taubstummer
keineswegs bewahrheitet. Im übrigen will ich auf die Einwände
der genannten Autoren nicht weiter eingehen. Meine Aufgabe
soll vielmehr darin bestehen, dieses Gesetz an der Hand von
Beobachtungen auf seine Richtigkeit hin zu prüfen, imi auf
diesem Wege festzustellen, wie sich die Lautentwickelung tat-
sächlich vollzieht.
Zur Lösung der bezeichneten Aufgabe habe ich bei meinem
Sohne Kurt alle neu auftretenden Lalllaute und Lalllautverbin-
dungen aufgeschrieben. Die Mitteilungen, welche die übrigen
Kinder betreffen, enthalten im wesentlichen nur die dominieren-
den Lallwörter. Ich teile die Aufzeichnungen, nach den Lebens-
monaten der einzelnen Kinder geordnet, mit.
L Kurt Idelberger. Die ersten artikulierten Laute waren
gegen Ende des dritten Monates vernehmbar. „Ngö" (nasales
„n" [tönend oder weich], „g" [tönendes, weiches] sehr leise
als Verschlußlaut gesprochen.)
4. Monat: „nga", „cha" (gutturales ch wie in „auch"
5. Monat: „ngr** (palatales „r", übergehend nach ch)
„ngra", „angra".
6. Monat: „mbö— mbö" („m" langgezogen, tönendes oder
habe nicht einen einzigen Laut auffinden können, der in dieser reflektorisdieD
Lallperiode nicht aufträte. Das Eine ist aber doch wohl sicher, daß die
größte Zahl der Lalllaute sich in dem ersten und zweiten Artikulationsgebiet,
also in Verknüpfungen der Konsonanten b, p, m, d, t, n, w mit verschiedenen
Vokalen vorfindet Gegenüber Ament muß betont werden, daß Gutzmann
nie bestritten hat, daß Gaimienlaute in der zweiten Periode der kindlichen
Sprachentwicklung sich vorfinden, er hat nur darauf hingewiesen, daß die«-
selben gewöhnlich selten sind imd in den meisten Fällen so weit verloroi
gehen, daß die Nachahmung, wenn das Kind anfangt, seine Aufineiksttnkeit
auf die Sprache der Umgebung zu lenken und seine eigene Spradie an
dieser aufzubauen, in den weitaus meisten Fällen Schwierigkeiten macht"
Hauptprobleme der kmdiichen SprachentwicHung, 435
weiches „b") „mba", „baba**, „mbaba", „wa", „m — wa"; (die
Lallwörter der vorigen Monate verschwinden allmählich).
7. Monat: Dasselbe wie im 6. Monat. Neue Laute waren
nicht zu verzeichnen.
8. Monat: „da", „nda", „ada", adadadada". (Die Re-
duplikation „baba** war in dieser Zeit ganz verschwunden).
„Ära", „rarara" (r ist auch jetzt noch zum größten Teil palatal),
s-Laut (ähnlich dem englischen th ausgesprochen, mit der
Zungenspitze zwischen den Zähnen.)
9. Monat: „ä — dei — wo — jei"; „ch — ch — ch" (palatales ch,
ausgesprochen wie in „ich"); „ja" (j übergehend in palatales
ch, wie in „ich") „wauwau", „wau — we", „ma" (ein einziges
Mal gesprochen).
10. Monat: „heidididä", „häch" (ch wie in „ich") „jädä",
„eija", „ida", „meia", „daudau", „ngw" (die letztere Laut-
verbindung wurde nur ein einziges Mal gehört). Das dominier
rende Lallwort in diesem Monat war „papa" (tonloses [hartes] p).
11. Monat: durch Vorschieben der Zunge zwischen die
Zähne bringt er einen „l"-ähnlichen Laut hervor. Derselbe
verschwand bald wieder.
„Didileide — deiderdei" („r" sehr schwach gesprochen),
„ditsch", „dida", „je — jetsch", „jitsch", „jei — jitsch". Kurt hatte
das Licht ausblasen gelernt und bringt nun bei dieser Verrich-
tung einen „{"-ähnlichen Laut hervor. — Die dominierenden
Lallwörter in diesem Monat waren „deida" („deide") und
„wawa" („wauwe").
12. Monat: „täte" (tonloses [hartes] t), „ämä", „ma". (Der
Laut „m" war seit dem 9. Monat ganz verschwunden. Er
wurde auch in diesem Monat nur zweimal — » in den verzeichneten
Lallwörtem — gehört. Im übrigen sprach Kurt allemal, wenn
man ihm das Wort „mama" vorsprach, „baba" oder „wawa"
nach) — „jei", „leideleideleidelei". (In dieser Verbindung tritt
dieser früher schon verzeichnete „l"-ähnliche Laut wieder auf
xmd zwar etwas geläufiger. Die Zunge schiebt er immer bei
Aussprache desselben zwischen den Zähnen vor. Der Laut
verschwand von da ab wieder.) „Blalab" (ein einziges Mal
gehört). „Hich", „ditsch", „zz", „dot". Die dominierenden,
Lallwörter im 12. und 13. Monat waren: „baba*', „wawa"
(„wowo"), „dada^ und „ada". —
436 Heinrich Idelberger.
IL Heinrich Nau.
7. Lebensmonat: „dada", „hä", „ätsch".
8. Monat: „ra" (palatales r), „äw", „1" (langgezogen),
„rarara**, „mama", „gra" (tönendes, weiches „g", palatales „r"),
„heid", „heid", „häd", „eija" (j kaum hörbar), „ba", „ada",
„nda**, „ngö".
9. Monat: „hawa — hawe", „m — ^m — ^m", „ch" (guttural),
„gar**, „ngar— ngar**. Die dominierenden Lallwörter in diesem
Monat sind „baba" und „dada".
10. Monat: „nei", „deidei", „oma", „ma", „hoho*', „hoit",
„anna**.
11. Monat: „randerand", „reidereid**, „wawa".
12. Monat: „unge** („onge"), „la**, „ff".
13. Monat: „goug**, „mimi", „nenne**, „memem**, „liei".
III. Gretha Schiocker.
4. Monat: „a**, „cha** (ch guttural, wie in „auch") „e*'.
5. Monat: „ngr** palatales r, Zwischenlaut zwischen r und
gutturales ch), „ngra**.
6. Monat: dasselbe, „s** (ganz leise).
7. Monat: „f**, „ba**, „wa**, „baba**, „wawa".
8. Monat: „dada**, „mbaba**, „wauwa", „heidei".
9. Monat: „adadeita**, „mama**, „we — we".
IG. Monat: „ata**, „täde**, „nana**, „reirei**, „didi**.
II. Monat: „lala**, „leidelei".
IV. Irene Spohr.
3. Monat: „ba**, „mä**, „cha** (ch wie in auch**).
4. Monat: „acha**, „b6**, „wäh**, „awah**.
5. Monat: „ao**, „ää**, „wäwä**, schreit einige Lautein
verschiedener Höhe.
6. Monat: „awa**.
7. Monat: „fä**, „mama**, „nda**.
8. Monat: „häwä**, „deidei**, „heidei", „mbö".
9. Monat: „baba**, „wauwa**, „didi".
V. Walter Jost.
4. Monat: „ara** (gutturales r), „gr** (g -» Verschluß-
laut), „ra**.
5. Monat: „agr**, „ngr**, „ngra".
Hauptprobleme der kindlichen Sprackentwicklung. 437
6. Monat: „angra", „rara**.
7. und 8. Monat: „mamam", „bababa".
9. Monat: „deidei", „ada", „nene", „mei".
IG. Monat: „wa", „dada", „2zz**, „ttt ", „haw**, „hawe**,
loto**.
VL Heinrich Zorbach.
3. Monat: „ngö", „nga".
4. Monat: „r" (palatales r), „ngong**, „goch", „ach**.
5. Monat: „aga**, „acho**, „ao — ao**, „arch** (palatales r),
a**, „aua**, „ngara**.
6. Monat: „haw**, „dada**, „gr** (palatales r).
7. Monat: „ada**, „bw**, „of**, „uo**.
8. Monat: „bf**, „an** (nasales n), „buf**, „han** (nasales n),
ida**.
Was lehren uns nun diese Beobachtungen bezüglich der
lutentwickelung ?
Die ersten artikulierten Laute treten gegen Ende des dritten,
Anfang des vierten Lebensmonates hervor. Es sind anfäng-
:h zumeist Kehl- und Gaumenlaute — häufig mit starker
isaler Färbung — in Verbindung mit den Vokalen a, ä, ö.
ie Artikulationen sind äußerst schwach und nur von dem
imerksamen Beobachter erkennbar. Außer den angegebenen
tikulierten Lauten erzeugt das Kind spontan eine außer-
dentlich große Zahl unartikulierter Laute. Man kann nun
e Zeit vom Ende des dritten bis Ende des sechsten Monats*,
welcher die unartikulierten Laute bei weitem überwiegen,
> eine erste Lallperiode ansehen. Sie erhält ihr eigen-
mliches Gepräge dadurch, daß unter den artikulierten Lauten
B Kehl- und Gaumenlaute vorherrschen.
Dies hat offenbar einen physiologischen Grund.
Der aus der Lunge durch die Bronchien austretende Luft-
rom schlägt zuerst an Kehle, Nasenrachenraum und Gaumen
i, und diesen Artikulationsstellen ist dadurch am frühesten
e Möglichkeit zur Übung in der Lautbildung gegeben. Zunge
id Lippen besitzen zu dieser Zeit noch eine derartig geringe
otilität, daß sie für die Artikulation vorerst nicht in Frage
►mmen können.
Gegen Ende des sechsten Lebensmonats ist die lautliche
iiederung so weit vorgeschritten, daß das Kind zum über-
438 Heinrich Iddherger,
wiegenden Teil artikulierte Laute erzeugt. Nunmehr beginnt
eine Lallperiode^ welche Professor Meumann ausschließlich als
diejenige des spontanen Lallens bezeichnet. Ich möchte sie
aus einem Gnmde^ auf den ich sogleich zu sprechen konune,
als eine zweite Periode des spontanen Lallens
ansehen. Sie dauert durchschnittlich bis zum zwölften Lebens-
monat. In derselben werden sowohl Lippen- und Zungen-
laute als auch Gaumenlaute von dem Kinde gesprochen.
In Bezug auf die Häufigkeit ihter Anwendung domi-
nieren nun in dieser zweiten Lallperiode hn Gegensatz
zu der erwähnten ersten entschieden die beiden erst-
genannten Lautgruppen, die Lippen- und Zimgenlaute. Es sind
vor allem die Lautverbindungen ba, pa, da (dei), ma, wa und
die entsprechenden Reduplikationen, die zu großer Geläufig-
keit ausgebildet werden. (An dieser Stelle sei bemerkt, daß
meinem Sohne Kurt das Lallwort ma (mama) auffallenderweise
äußerst schwer fiel. Obwohl ihm dasselbe aus leicht erkenn-
baren Gründen von der Mutter oftmals vorgesprochen wurde,
so gelang ihm die Wiedergabe nur zweimal, im zwölften und
dreizehnten Lebensmonat. Vergl. die Bemerkung dortselbsti)
„Schon hier erklärt uns die Kindersprache das Rätsel
warum über den ganzen Erdkreis bei allen Völkern das Wort
für Vater und Mutter gebildet ist aus einem Vokal in Verbindung
entweder mit einem Lippen- oder einem Zimgenlaut imd daher
überall lautet: Papa, Mama, Baba, Wawa, Fafa, Nana,
Dada usw. Es sind das die ersten artikulierten Silben, die das
Kind zu bilden vermag, und es ist sehr begreiflich, daß die
Eltern diese ersten an sich sinnlosen Lalllaute des Kindes,
gewissermaßen seine erste Anrede an Vater und Mutter, auf
sich bezogen und davon ihren Namen empfingen. Hinsichtlich
der europäischen Sprachen ist diese Tatsache hinlänglich be-
kannt; es zeigt sich aber auch, daß in 57 bei Lubbock an-
geführten Negersprachen der Vatemame labial Papa, Baba,
Wawa, Fa, Fafe, in 17 Negersprachen lingual Da, Dada, Tada,
Ada, Oda lautet; daß der Muttername in 15 Negersprachen
labial als Ba, Ma, Mama, Ama, Oma, in 33 Negersprachöi
lingual als Na, Nanna, Ne, Ni, Nde erscheint." (Fritz Schultze,
Die Sprache des Kindes. Seite 24 und 25. Entnonmien aus
E. Rzesnitzek, Zur Frage der psychischen Entwickelung der
Kindersprache. Seite 8.) Das Vorherrschen der Lippen- und
HaupipfvhUtfU der Mndit£k£n SprucktHiwiddung,
439
Ztmgenlautc erklärt sich wohl einesteils aus der zunehmenden
Beweglichkeit der Lippen und der Zunge infolge der Saug-
bewegung des Kindes, wodurch gerade die Laute b, p, w, m
und d physiologisch am besten vorbereitet werden, andernteils
macht sich hierbei auch der Einfluß des Sehens geltend, insofern
dadurch dem Kinde die Lippenbewegungen und Zahnstellungen,
die zur Erzeugung bestinunter Laute erforderlich sind, leichter
bekannt werden. Auf diese letzte LTrsache möchte ich nach
etwas näher eingehen und allgemein die Frage auf werfen:
Beobachten die Kinder etwa in der Zeit vom
7- — 13. Lebensmonat überhaupt beim Vor-
sprechen die MundstcUungen der Erwachsenen:
Daß das Kind in dieser Periode des spontanen Lallens nach
4mn Sprechenden hinsieht, ist bekannt; nur das ist durch eine
oberflächliche Beobachtung nicht feststellbar, ob es nach dem
Munde oder nach den Augen schaut, Professor Dr. G. Stanley
Hall behauptet mit Bezug hierauf: „Wenn das Kind aufgefordert
wird, die Sprache eines Erwachsenen nachzuahmen, 9^ schaut
es auf die Augen, aber niemals auf den Mund/* (Dr. G. Stanley
Hall, Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und Päda-
gogik; überset2t von Dr. StimpfL Internationale Pädagogische
Bibliothek, herausgegeben von Chr. Ufer, Bd. IV,, Seite 55*]
Allerdings sieht das Kind beim Sprechen auch für Momente
nach den Augen der Erwachsenen; dieselben üben durch ihren
Glanz einen derartig starken Reiz auf das Auge des Kindes aus,
daß uns dies in Anbetracht der passiven Natur der kindlichen
Aufmerksamkeit schon erklärlich erscheint. Aber auch die
Lippenbewegungen des Sprechenden geben einen starken Reiz
ab, und schon aus theoretischen Überlegungen müßte man
darum ein Beobachten derselben durch das Kind wahrnehmen.
Tatsächlich bestätigt uns denn auch die aufmerksame Beob-
achtung diese Annahme, ja das Kind beobachtet beim Vor*
sprechen viel häufiger und längere Zeit hindurch die Mund-
Stellungen der sprechenden Personen als die Augen derselben.
Bei den ersten Versuchen, welche ich zwecks Beantwortung
der obigen Frage in Gemeinschaft meiner Frau an meinem
Sohne anstellte, kam es mir darauf an, den von den Augen des
Sprechenden ausgehenden optischen Reiz zu eliminieren, um
zu sehen, ob der von der Bewegung der Lippen ausgehende
Reis überhaupt imstande ist, die Aufmerksamkeit des Kindes
440 Heinrich Idelberger,
ZU fesseln. Dies geschah dadurch, daß der Sprecher (meine
Frau oder ich) einfach die Augen schloß oder (bei dem ersten
Versuch) sich seitlich so zum Gaslicht setzte, daß die Augen-
höhlen verdunkelt waren. Später, nach einiger Übung in diesem
Experimentieren, war ich imstande, auch bei geöffneten Augen
jedesmal zu entscheiden, ob das Kind nach diesen oder dem
Munde sah. Wenn man nämlich ein Kind beim Vorsprechen
vor sich hinsetzt, daß die Entfernung der beiderseitigen Augen-
paare ca. 20 cm beträgt, so läßt sich aus dem Auf- und Abwärts-
wandern des kindlichen Blickes jedesmal ersehen, welches der
beiden Objekte von dem Kinde fixiert wird. Je größer die Ent-
fernung wird, desto schwieriger ist es, die Blickrichtung des
Kindes und ihre etwaige Veränderung festzustellen. Zum Be-
weise der Tatsache, daß das Kind in der Periode des Lallens
beim Vorsprechen nach dem Munde sprechender Personen hin-
sieht, teile ich nunmehr einige hierauf bezügliche detaillierte
Beobachtungen nach den seinerzeit gemachten Aufzeich-
nungen mit.
3. Oktober 1902. (Achter Lebensmonat.) Meine Frau sitxt
in der Wohnstube seitlich zur Gaslampe, so daß die Augen-
höhlen verdunkelt sind. Sie spricht Kurt, welcher ca. i m
(einen Meter) von ihr entfernt ist, nachdem sie ihn vorher erst
verschiedenemal angerufen hat (Bubi oder Bubchen), mit auf-
fallenden Lippenbewegungen das Wort „Papa" mehrerenul vor.
Der Junge verfolgt mit größter Aufmerksamkeit die wechschi-
den Mundstellungen. Nach einiger Zeit — noch während seine
Mama vorspricht und auch im direkten Anschluß daran —
macht Kurt ohne hörbaren Laut diese Lippenbewegungen nach.
10. Oktober 1902. (Neunter Monat.) Das Experiment vom
3. Oktober 1902 wird in der Weise wiederholt, daß Mama beim
Vorsprechen die Augen schließt. Kurt beobachtet die Lippen-
bewegungen und ahmt dieselben zunächst lautlos nach; dann
aber stößt er einigemal das Lallwort „baba** hervor.
11. Oktober 1902. (Neunter Monat.) Meine Frau, Kurt (auf
dem Arm der Mutter) und ich befinden uns im „guten Zimmer'*.
Die erstere fragt : „Wo ist der Wau — wau ? Kurt sucht mit den
Augen und entdeckt das ihm bekannte kleine Porzellanhundchen
an seinem Platz auf dem Büffet. Er reicht danach und nimmt
es in die Hand. Seine Mutter spricht ihm bei geschlossenen
Augen mit deutlicher Lippenbewegung einigemal vor: „wau—
Hauptprobleme der kindlichen Sprüchentwicklung, 441
Mrau". Mit weit geöffneten Augen, dem Ausdruck des Staunens
und der Verwimderung auf dem Gesicht, sieht Kurt nach ihrem
Munde. Auf einmal bricht es aus seinem Munde hervor : „wau —
wau". Die beiden Silben werden etwas langsam, abef mit scharfer
Artikulation gesprochen. — An demselben Tage wird der Ver-
such noch verschiedenemal in der Weise wiederholt, daß die
Mutter die zurHervorbringimg der genannten Silben notwendigen
Lippenbewegimgen stunun vormacht. Fast inmier ahmt Kurt
dieselben stumm oder sprechend nach.
i8. Oktober 1902. (Neunter Monat.) Ich spreche Kurt,
als er eben zur Ruhe gelegt werden soll, „gute Nacht" vor.
Kurt sieht abwechselnd nach meinem Mund und meinen Augen,
wie ich aus dem Auf- und Abwärtswandem des Blickes fest-
stellen kann.
27. Oktober 1902. (Neunter Monat.) Die Mutter spricht
Kurt das Wort „Mama", das er bis dahin noch niemals ge-
sprochen hat, und welches sie aus einem leicht ersichtUchen
Grunde gern hören möchte, vor. Er sieht mit Aufmerksam-
keit nach dem Mimde des Sprechenden und übt noch während
des Vorsprechens xmd nachher still für sich die ge^henem
Lippenbewegimgen. Ein einziges Mal bringt er die Verbindung
„ma" hervor, später nicht wieder. (Siehe oben das Verzeichnis
der Lallwörter aus dem neunten Lebensmonat I)
5. November 1902. (Zehnter Monat.) Ich rufe, Kurt auf
dem Arm tragend, imvermittelt : wau — wau, konmi I Kurt sieht
— ohne aufgefordert zu sein — auf meinen Mund. Ich spreche
sodann das Wort „Feuerchen". Kurt beobachtet ebenfalls die
Mtmdstellimgen und versucht, dieselben nachzuahmen ; er bringt
hierbei einen halb „ei", halb „eu" klingenden Laut hervor.
Nach einiger Zeit fängt Kurt aus irgend einem Grunde an zu
weinen. Ich wiederhole einigemal das zuletzt genannte Wort
und Kurt imterbricht für einige Augenblicke sein „Konzert"
und fixiert die Lippenbewegungen.
5. Dezember 1902. (Elfter Monat.) Kurt sitzt mir gegen-
über auf dem Sofa. Ich strecke verschiedenemal meine Zungen-
spitze aus dem Munde vor und bewege dieselbe hin imd her.
Kurt beobachtet dieses Spiel der Zunge^ längere Zeit. Auf einmal
streckt er auch seine Zunge ca. ^/2 cm zwischen den Zähnen
hervor. Diese Gepflogenheit behält er lange Zeit bei.
II. Dezember 1902. (Elfter Monat.) Kurt greift beim
ZcHiohrift ffir pidagosische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 2
442 Heinrich Idelherger.
Vorsprechen mit den Fingern in den geöffneten Mund. (Das-
selbe teilte mir auch Frau Jost von ihrem Kinde mit.)
21. Dezember 1902. (Elfter Monat.) Es wird Kurt mehrere-
mal — mit eingeschobenen Pausen — vorgesprochen. Er sieht
allemal ohne vorheriges Anrufen nach dem Munde des
Sprechers.
Diese detaillierten Mitteilungen dürften zur Beantwortung
unserer Frage in bejahendem Sinne genügen. Zum Cberfluli
verweise ich noch auf Frage 5 der zu Anfang in dem
Abschnitt „Beobachtungen über die Energie der Aufmerksam-
keit" aufgezeichneten Versuchsreihen, unter welcher ich auch
Angaben über die Zeitdauer der Beobachtung der Mund-
stellungen seitens des Kindes gemacht habe. Daß das Kind
die Lippenbewegungen der Erwachsenen beim Vorsprechen
beobachtet, konnte ich auch bei den andern mir zur Verfügung
stehenden Kindern feststellen und wurde mir auch durch Frau
Jost, Frau Dr. med. Spohr und Herrn Dr. med. Rauch bestätigt.
Selbst Kinder in höherem als dem fraglichen Alter sehen beim
Vorsprechen schwieriger Wörter allemal nach dem Munde des
Sprechenden. (Beobachtet bei Albrecht Herzog und Elis.
Schwarzhaupt.) Nach meinen Ausführungen in der aufgeworfe-
nen Frage: Beobachten die Kinder vom 7. — 13. Monat die
Mundstellungen der Erwachsenen beim Vorsprechen? wird man
es mir darum schon verzeihen, wenn ich mir mit Bezug auf
die oben zitierte Mitteilung Halls zu bemerken erlaube, daß
dieselbe, trotzdem Hall einen „Beitrag zur Beobachtung kleiner
Kinder'* liefern will, von allem andern eher als von Beobachtung
kleiner Kinder zeugt. —
Nachtrag
zu dem Problem der ersten Wortbedeutungen
beim Kinde.
Als „Nachtrag" lasse ich — vier Monate nach Fertig-
stellung der vorstehenden Abhandlung; September 1903 —
hierunter noch die Aufzeichnungen folgen, welche die sprach-
liche Entwickelimg und zwar die Entstehung der Wortbedeu-
tungen meines Sohnes Kurt I. vom 15. — 19. Lebensmonat be-
treffen und welche zum größten Teile meine Frau während
meiner Abwesenheit von meiner Familie niedergeschrieben hat.
Die Anordnung und Deutung des Materials wird hier wie dort
nach denselben Gesichtspimkten geschehen.
I. wauwau (Vergl. i wauwau Seite 18 ff.)
454. Tag. Kurt sieht seine braunen Pelzschuhe und spricht
„wauwau**. (Da sein kleines Tuchhündchen ebenfalls braun ge-
färbt ist^ so hat vielleicht die Farbe eine Verwechselung herbei-
geführt.)
466. Tag. Es wird ihm sein neugeborenes Brüderchen
gezeigt; lachend deutet er darauf und begrüßt es als „wauwau**.
577. Tag. Ich habe Kurt in den zoologischen Garten mit-
genonunen. Die Tiere machen ihm natürlich große Freude.
Löwe, Tiger, Leopard, Wolf Schakal etc., alle zu den Familien
der Hunde und Katzen gehörigen Tiere, nennt er „wauwau**.
2. a-a. (Vergl. 2. a-a Seite 19 ff.)
493. Tag. a — a wird auch jetzt noch von Kurt gebraucht,
um auf etwas aufmerksam zu machen. So sieht er sein Briider-
2*
444 Heinrich Idelberger.
chen, zeigt mit verwundertem Gesicht nach ihm hin und spricht
die angegebene Reduplikation.
494. Tag. Desgleichen als er zertretene Kirschen auf dem
Boden gewahrt.
545. Tag. Das Dienstmädchen hat das Wohnzimmer auf-
gewaschen. Kurt zeigt auf den Boden und spricht „a — a, anna".
(Anna hieß nämlich das Mädchen.)
574. Tag. a — a dient seit einigen Wochen nur noch ak
Ankündigung seines Bedürfnisses der Kot- oder Urinabson-
derung.
3. baba (VergL 6. baba Seite 22 ff.)
451. Tag. Meine Frau hält Kurt mein Portrait vor; er
deutet darauf und spricht ,,baba''.
465. Tag. Auf der Straße ertönt die Schelle eines Fahr-
rades. Kurt, welcher der Meinung ist^ sein Papa habe die
elektrische Hausschelle in Bewegung gesetzt^ ruft freudestrah-
lend sein ,,baba".
473. Tag. Sobald man ihm irgend etwas Geschriebenes
vorhält, wird ihm dieses Wort entlockt.
546. Tag. Kurt und seine Mama sind seit einigen Wochen
auf dem Lande. Ich besuche dieselben dort. Nach meinem
Weggange von ihnen antwortet er stets auf die Frage: Wo ist
der Papa? ,,baba ada wal" » Papa ist fort in den Wald. Bei
meinem Weggange bin ich nämlich seinen Blicken in der
Richtimg auf dem ihm bekaimten Wald zu entschwunden.
4. ada (VergL 7. ada Seite 24. 25.)
560. Tag. Es dient als Bezeichnung für „Fortgehen" und
drückt, reduplizierend gebraucht, den Wunsch aus, fortzugehen.
57 1 . T a g. Kurt sieht Stubenfliegen auf dem Gesicht seines
schlafenden Brüderchens sitzen; er sucht sie zu verscheuchen
und spricht dazu „mütsch ada*'. (Mütsch « Mücke. Vergl. Nach-
trag 30. mütsch.)
5. obba (VergL 8. obba Seite 25 ff.)
456. Tag. Kurt patscht mit seinen Händchen auf den
Stuhl und spricht „obba" ^ ich will auf den Stuhl gehoben
werden.
Hauptprobleme der kindUchen Sprachentwicklung. 445
467. Tag. Er sucht seine Mama, die im Bett liegt, durch
nama, obba, obbal" zum Aufstehen zu veranlassen.
531. Tag. Sein Onkel hält ihm die Hände fest. Kurt
rieht weinend „obba, obbal"
545. Tag. Er gebraucht es, als er Papas Uhrkette los-
ißen will.
569. Tag. Dieser sprachliche Ausdruck wird auch heute
•ch verwendet und zwar sobald er irgend jemand zum Auf-
ihen vom Stuhl, vom Sofa etc. bewegen will. Gewöhnlich faßt
die betreffende Person bei Äußerung seines Wunsches an
* Hand.
6. du-du (Vergl. 11. du-du Seite 27.)
468. Tag. Mit „du — du" benennt er jetzt nur noch sein
ilzemes Schaukelpferd, während er die Pferde auf der Straße
n nun an als „dada" bezeichnet. (Vergl. Nachtrag 14. dada.)
484. Tag. „du — du" ist ganz verschwunden.
7. bibi (Vergl. 12. bibi. Seite 28.)
454. Tag. Kurt hat von seiner Großmama ein kleines
>nhündchen erhalten, auf welchem man pfeifen kann. Das-
Ibe hoch in der Hand haltend, kommt er zur Mama und ruft
bittendem Tone: „bibi, bibi". (Mama soll darauf pfeifen.)
491. Tag. Fräulein H. Seh., welche vis-a-vis wohnt, hat
art öfters in den Hof zu den Hühnern mitgenommen. Heute
wahrt er dieselbe vom Fenster der Wohnstube aus auf der
raße imd schreit „bibi, bibil" (Sie soll ihn wieder zu den
iihnem tragen.) Dieser Vorgang wiederholt sich am 518. Tag.
577. Tag. Alle Vögel im zoologischen Garten (Papagei,
ite, Storch, Reiher, Gans, Schwan, Rabe, die verschiedenen
agvögel) bezeichnet er mit „bibi."
8. da (Vergl. 13. da Seite 29.)
452. Tag. Meine Frau hat Kurt einen leichten Klapps
f die Hand gegeben. Er hält ihr darauf dieselbe hin imd
rieht „da". (Er will wohl damit sagen: dahin hast du mich
schlagen, da tut's weh.)
493. Tag. Et gebraucht dieses Wort als er das ausgezogene
huhchen seiner Großmutter hinreicht. (Sie soll ihm dasselbe
^der anziehen.) Vergl. auch Nachtrag 28. man, 544. Tag.
446 Heinrich Idelberger,
9. tnama (Vergl. 14« matna Seite 29. ff.)
45 1 . T a g. I . Kurt stellt seiner Mama einen kleinen Holz-
Schemel vor die Füße und begleitet diese Tätigkeit mit der
angegebenen Reduplikation. (Die Mama soll die Füße darauf
stellen.)
2, Kurt sieht einen Kamm auf dem Waschtisch liegen
und erkennt seiner Mama durch „mama" das Eigentumsrecht
auf denselben zu.
473. Tag. Blumen, welche er gefunden, bringt er seiner
Mama hin und bittet durch sein „mama" scheinbar um Abnahme
derselben.
491. Tag. Als meine Frau vom Spaziergang mit ihm
zurückkommt, erzählt er seiner Großmutter mit großem Ver-
gnügen : „mama ada" = ich war mit Mama fortgegangen.
509. Tag. Wenn meine Frau dem einige Wochen alten
Brüderchen zu trinken gibt, so erscheint das „mama" in
folgender Verbindung : „mama mimi biderbibi" — Mama gibt
dem Brüderchen zu trinken.
565. Tag. Die Großmama ist mit ihm spazieren gegangen.
Auf dem Heimweg in der Nähe unserer Wohnung angekommen,
spricht er: „mama heim" = wir gehen jetzt heim zur Mama.
570. Tag. In besonders guter Stinummg bezeichnet er
seine Mama als „duter mama" = gute Mama.
10. mimi (Vergl. 15. mimi Seite 29.)
480. Tag. Alle Flüssigkeiten : Kaffee, Milch Wasser etc.
in Tassen und Gläsern benennt er mit diesem sprachlichen
Ausdruck. (Ist dagegen Milch, Kaffee etc. verschüttet worden,
so bezeichnet er dieselben als „a — a**.) Das Begehren nach diesen
Getränken gibt er durch oftmalige Wiederholung desselben
zu erkennen.
504. Tag. Seit einigen Tagen wird es in weinendem lone
hervorgebracht, sobald er übler Laune ist.
11. na (nein)« (Vergl. 17 na-na Seite 30.)
481. Tag. Wenn Kurt irgend etwas nicht tun oder haben
will, so schüttelt er verneinend das Köpfchen und spricht „na"
(langgezogen).
564. Tag. Statt „na" gebraucht er nunmehr nach Vorsagen
seiner Mama „nein". Er setzt dasselbe mit geringen Ausnahmen
HauptprobUme der kindlühen Sprachentwicklung. 447
an das Ende seiner kurzen Sätze 7. B. ,,mama ada nein" » die
Mama soll nicht fortgehen. (Die Bejahung drückt er dadurch
aus, daß er die ihm vorgelegte Frage teilweise wiederholt;
2. B. Frage: Will Bubi Brei essen? Antwort: „bub bei". Das
Wort „ja** spricht er noch nicht.)
12. ama (oma).
454. Tag. Mit „ama** bezeichnet er die Großmutter. Es
wird außerdem reduplizierend als Ausdruck eines jeden
Wimsches gebraucht, dessen Erfüllung Kurt von der Groß-
mutter erwartet. {^^^xn2i ada** bedeutet : Die Großmutter ist fort-
gegangen, dagegen „ama ada, ada** = Großmutter, ich will mit-
gehen.)
577. Tag. Kurt und ich fahren in der elektrischen Straßen-
bahn; eine einsteigende ältere Dame mit grauem Haar nennt
er ebenfalls „ama**.
13. muh«
463. Tag. Eine Abbildimg der Kuh in seinem Bilderbuch
bezeichnet er als „muh**.
480. Tag. Er verlangt sein Bilderbuch überhaupt mit
diesem Worte. (Er will das Bild der „muh** sehen.)
503. Tag. Seit dem 15. Juni 1903 (496. Lebenstag) weilt Kurt
mit seiner Mama und seinem kleinen Brüderchen auf dem
Lande. Sobald er ein Rind sieht, spricht er voll großer
Freude „muh**.
520. Tag. Sobald er das Hom des Kuhhirten ertönen
hört, entlockt ihm dies ebenfalls diese sprachliche Äußerung.
(Er hat schon einigemal die Erfahrung gemacht, daß auf das
Blasen hin die Kühe die Dorfstraße hinunter spazieren.)
577. Tag. Das Kamel im zoologischen Garten nennt er
ebeitfalls ^,muh".
14, dada. (Vergl. Nachtrag 6 dudu.)
473. Tag. Die Pferde auf der Straße nennt er seit heute
>,dada**. (Nachahmung von Raragäulchen, wie ihm das Pferd von
der Großmutter benannt worden ist.) Sein Schaukelpferd be-
2eichnet er noch mit „dudu**.
484. Tag. Heute nennt er auch sein Schaukelpferd „dada".
448 Heinrich Idelherger,
15. bu-bub.
482. Tag. Wenn man auf ihn deutet und fragt: Wer ist
das? so antwortet er „bü".
Im 17., 18. und 19. Monat nennt er sich' selbst stets „bub",
niemals aus eigenem Antrieb mit seinem Taufnamen, obwohl
ihm dieser auch häufig vorgesprochen worden ist, z. B. 569. Tag.
Ich fasse Kurt an dem Beinchen und frage: Was habe ich
denn da? Antwort: „bub bei".
16. biderbibi.
489. Tag. Sein kleines Brüderchen nennt er „biderbibi".
(Nachahmung von Brüderchen.) Vergl. Nachtrag 9. mama,
509. Tag.
531. Tag. Auf die Frage der Großmutter: Wo ist die
Mama? antwortet er: „biderbibi". (Bei dem Brüderchen.)
17. ah*
518. Tag. Er gewahrt sein Brüderchen, welches er einige
Stunden nicht gesehen hat, und spricht: „ah biderbibi"! (Aus-
druck der Verwunderung.)
18. bitsch.
518. Tag. Dies Wort wird gebraucht, sobald er etwas mit
aller Wucht hinwirft.
524. Tag. I. Wenn er überhaupt etwas hinwirft oder ihm
etwas hinfällt, so begleitet er diesen Vorgang mit „bitsch".
2. Er schlägt die Kühe mit der Peitsche und spricht dazu
„bitsch".
19. wei (Nachahmung von zwei.)
526. Tag. Kurt bringt zwei Bierfläschchen ins Wohn-
zimmer und spricht „wei, mama, wei".
528. Tag. Der Anblick der Kuhherde veranlaßt ihn zu
derselben ÄuiBerung. „wei" — oder „wei dei" (zwei, drei) — ist
von dieser Zeit an Bezeichnung einer jeden Mehrheit von
Dingen ; das erste Zahlwort. Einzahl und Mehrzahl werden in
seiner Sprache dadurch unterschieden, daß er, sobald die erstere
vorliegt, stets nur den einfachen Namen des Gegenstandes nennt,
in der Mehrzahl dagegen demselben noch sein Zahlwort bei-
fügt und zwar gewöhnlich nachfolgen läßt; z. B. eine Kuh
Hauptprobleme der ktndüchen Spro/cherUwicklung. 449
jißt kurzweg „muh", zwei oder mehrere Kühe bezeichnet er
s „muh wei".
20. dall.
528. Tag. Kurt sieht die Kühe in den Stall gehen und
bricht „muh ada dall".
533. Tag. I. Auf die Frage: Wo sind die muh? antwortet
allemal prompt: „muh dall".
2. Den Namen „Karl" ahmt er ebenfalls so nach.
21. beitsch«
529. Tag. Durch oftmalige Wiederholung verlangt er
ermit nach der Peitsche. Desgleichen ist es Benennung
jrselben.
542. Tag. Auf die Frage: Womit bekommt die „muh"
:hläge? antwortet er: „beitsch" (mit der Peitsche).
569. Tag. Emen Stecken nennt er „beitsch".
574. Tag. Desgleichen einen Gummischlauch.
577. Tag. Ein von ihm zxun Schlagen benutztes kurzes
olzlineal ist ebenfalls eine „beitsch".
22. mimibei.
531. Tag. Den Teller mit Brei, Suppe imd Milch nennt er
limibei". Gleichzeitig reduplizierend Ausdruck seines Be-
ihrens.
23. ha-hü.
531. Tag. Kurt ahmt auf diese Weise den Fuhrleuten
ch, die mit „har — hü" das Ochsengespann dirigieren. Er
rieht dasselbe sehr laut und setzt dazu ein außerordentlich
chtiges Gesicht auf.
24. aber.
533. Tag. Nachgeahmte Benennung für „Robert".
25. ema.
533- Tag. Bezeichnung für „Emma".
26. anna.
533. Tag. Benennung für „Anna".
450 Heinrich liUlberger.
27. wiwi.
533. Tag. Bezeichnung für „Willy".
Die vorgenannten Nachbarkinder: „dall** (20.), „aber",
„ema", „anna" und „wiwi** weiß er in der Folgezeit sehr wohl
zu unterscheiden und richtig zu benennen. (Verschiedene
Kleidung und Größe l)
28. mau.
544. T a g. Kurt hat gestern eine Maus unter den Schrank
laufen sehen. Heute bückt er sich, um unter den Schrank sehen
zu können und spricht: „da mau**.
578. Tag. In der Abenddämmerung fürchtet er sich und
kommt weinend zu seiner Mama gelaufen : „mama mau**. (Sobald
man ihm seit seiner ersten Begegnung mit der Maus von der
,,mau** spricht, macht er stets ein ängstliches Gesicht.)
29. duL
544. Tag. Er patscht mit seinen Händchen auf den Stuhl-
sitz und spricht : „dul obba** = ich will auf den Stuhl gehoben
werden.
569. Tag. Er nimmt mich an der Hand und führt mich
zu einem Stuhl mit den Worten : „da baba dul** = Papa soll sich
auf den Stuhl setzen.
577. Tag. Kurt möchte auf den Tisch sehen. Da er
seit zwei Tagen allein auf einen Stuhl steigen kann, so rückt
er sich einen solchen aus einer entfernten Ecke an den Tisch
heran und spricht dazu „n dul** = ich hole mir einen Stuhl.
30. mütsch.
546. Tag. Er gebraucht es, als er mit großer Freude
den Stubenfliegen auf dem Tisch nachjagt.
551. Tag. Auf eine an der Fensterscheibe hin und her
fliegende Biene weist er mit demselben sprachlichen Aus-
druck hin.
573. Tag. Eine auf der Erde laufende Ameise verfolgt
er mit seinen Fingerchen und ruft dazu „n mütsch, n mütsch!"
Vergl. auch Nachtrag 4. ada, 571. Tag.
31. wal.
Vergl. Nachtrag 3. baba, 546. Tag.
Uaupiprobienu der kindlichen Sprachentwicklung, 451
32. bobo.
547. Tag. Auf die Frage: Wohin bekommt der Bub
[lebe? antwortet er, indem er auf sein Gesäß zeigt: „bobo".
33. hieb.
550. Tag. Bezeichnung für Hiebe; z. B. „mama hieb nein**
ich will keine Hiebe von der Mama.
34. bell.
550. Tag. Dient in seiner Reduplikation als Ausdruck
ines Verlangens nach gekochten Kartoffeln.
35. ball.
551. Tag. Kurt verlangt damit nach seinem Gummiball.
572. Tag. Eine Eisenkugel nennt er „ball".
574. Tag. Seine Mama hält eine ungekochte Kartoffel
der Hand. Kurt verlangt dieselbe mit „mama, ball, balll"
578. Tag. I. Das gerollte Wachstuch nennt er ebenfalls so.
2. Er bezeichnet mit diesem Worte ein mit Papier gefülltes
ickchen, welches von den beiden Knaben H. und O. Seh.
s Fußball benutzt wird.
36. well.
552. Tag. Bezeichnung für Löffel.
37. WU2.
552. Tag. Benennung für Wurst.
573. Tag. Kurt reicht beim Mittagessen, indem er das
ort spricht, nach dem auf dem Tisch stehenden Braten.
38. bei.
555. Tag. Kurt ist durch die Brennesseln marschiert,
einend kommt er zu seiner Mama, zeigt auf sein Bein imd
rieht reduplizierend „bei" (= am Bein tut's weh). Vergl.
achtrag 15. bub, 569. Tag.
39. bei der (bei dr).
556. Tag. Als ihn seine Großmutter, nachdem sie ihn
Bett gebracht hat, verlassen will, schreit er „ama bei der"
die Großmutter soll bei mir bleiben. Wenn er früher eben-
452 Heinrich Idelherger.
falls nicht allein bleiben wollte, hat ihn dieselbe nämlich mit
den Worten getröstet: Sei nur ruhig, die „Ama** ist bei dir.
578. Tag. I. Kurt spricht : „mama ada nein, mama bei der"
= Mama soll nicht fortgehen, Mama soll bei mir bleiben.
2. Ich beobachte Kurt, der mich nicht bemerkt hat, wie er
zu seinem Gummimann spricht: „mama ada, baba ada, bider-
bibi ada, ama ada, bub bei der**.
40. mit.
557. T a g. Meine Frau will ausgehen, Kurt bittet sie : „mama
mit" = Mama ich will mitgehen. (In der Folgezeit stets im
Sinne von „mitgehen** oder „mitnehmen** gebraucht.)
41. huter.
557. Tag. Bezeichnung für Zucker. Desgleichen als Aus-
druck des Verlangens nach demselben verwendet.
42. hut,
558. Tag. Hut ist Bezeichnung für seinen Leinen- und
Strohhut und seine Mütze.
43. wadder oder mimiwadder.
563. Tag. Wasser nennt er seit einigen Tagen „wadder"
oder „mimiwadder**.
44. wa,
565. Tag. Meine Frau hat sein kleines Brüderchen auf
dem Schoß. Kurt spricht zu ihr : „biderbibi wa** (= lege das
Brüderchen in den Wagen I und fährt nach einiger Zeit fort:
„wa hol** = ich will den Wagen holen, geht hin und zent
an dem Kinderwagen. Er will nämlich selbst auf den Schoß
der Mama!
45. bett.
567. Tag. Kurt sieht beim Aufwachen sein Brüderchen
in Mamas Bett. Er teilt mir dies mit den Worten mit : „bider-
bibi mama bett**.
46. dtir.
567. Tag. Als Kurt am Abend in dem dunkeln Schlaf-
Hauptprobleme der kmdiichen SprachentwicHung, 453
tnmer zu Bett gebracht wird, bittet er seine Mama, die Türe
ich der erleuchteten Wohnstube zu offen zu lassen: „mama
ir auf!"
577. Tag. Er will das Fenster geöffnet haben und sagt
)enso.
47. auf.
Vergl. Nachtrag 46. dür.
48. eime.
570. Tag. Sein kleines Blecheimerchen nennt er so. Er
gt „dul eime" = ich stelle den Eimer auf den Stuhl.
49. hol und hole.
570. T a g. Nach dem Abendessen bekommt er gewöhnlich
)ch ein kleines Täßchen Milch. Er erinnert seine Mama
;ute daran, indem er spricht: „mama hole mimi".
50. duter.
Vergl. Nachtrag 9. mama.
570. Tag. Ebenso legt er dem „baba", dem „biderbibi" und
:r „ama" zeitweise das Attribut „duter" bei.
51. butt.
571. Tag. Er hat eine Tasse auf den Boden fallen lassen
id zeigt auf die Scherben hin mit den Worten : „da baba butt".
5a. am.
573. Tag. Bezeichnung für Arm.
53. han.
573. Tag. Bezeichnung für Hand.
54. all.
574. Tag. Sobald Kurt seinen Teller oder seine Tasse
s auf den Boden geleert hat, kündigt er dies seit einigen
ochen fast regelmäßig durch: „all — all" an.
55. dein.
774. Tag. Als er von dem mit mir unternommenen Spazier-
454 Heinrick Idelberger.
gang nach Hause kommt, erzählt er seiner Mama: „wadderdein
bitsch" = ich habe einen Stein ins Wasser geworfen.
']']']. Tag. Steinkohlen bezeichnet er ebenfalls als „dein".
56. beipf.
775. Tag. Benennung für Bleistift, Federhalter und das
in seiner Hülse befindliche Fieberthermometer.
57. buderbod.
775. Tag. Ein Stück trockenes Brot, sowie das mit Butter
und Gelee beschmierte, ferner den ganzen Brotlaib nennt er
„buderbod". Gleichzeitig dient diese Bezeichnung als Ausdnick
seines Begehrens nach Brot.
58. bedch.
776. Tag. Kurt sitzt am Tisch in seinem Stühlchen und
bittet mich mit den Worten : „hole baba bedch", ihm ein her-
untergefallenes Brötchen wieder aufzuheben.
59. abel (abl.)
776. Tag. Bezeichnung für Äpfel und Birnen.
778. Tag. Kurt möchte eine auf dem Tisch liegende
Kastanie haben, reicht darnach und spricht: „abel will".
60. will.
Vergl. Nachtrag 57. abi, 778. Tag.
61. weif.
778. Tag. I. Mit diesem Wort verlangt er heute beim
Mittagessen nach den auf dem Tisch stehenden Frikandellen.
2. Er bezeichnet jetzt hiermit Fleisch, während „wuz" nur
noch zur Benennung von Wurst dient. (Vergl. Nachtrag 37-
wuz.)
Die Aufzeichnungen der sprachlichen Produktionen meines
Sohnes Kurt I. aus der Zeit vom 15. — 19. Lebensmonat sind
geeignet, weitere Belege für die Richtigkeit unserer dargelegten
Auffassung von der Entstehung der ersten Wortbedeutungen
beim Kinde abzugeben. Die Beobachtung zeigt nun, daß der
Wunschcharakter beim Gebrauche der hier mitgeteilten Worte
nicht mehr in dem Maße prävaliert, als dies nach unsem früheren
Aufzeichnungen (Seite 25 ff.) bei den allerersten kindliche«
Hauptprohletne der kindUchtn Sprachentwicklung. 455
sprachlichen Äußerungen der Fall war ; die Sprache des Kindes
dient vielmehr in weit höherem Grade der Bezeichnung, sie wird
mehr und mehr intellektualisiert. Nur emotionell- volitional
wird von den hier aufgeführten 6i Worten überhaupt kein
einziges mehr verwendet; die meisten derselben treten je nach
den Umständen als Ausdruck und Mitteilung eines Begehrens
bezw. Gefühls oder als Bezeichnung von Gegenständen, Tätig-
keiten, Eigenschaften und Beziehungen auf; einige derselben,
wie bobo (32.), wal (3i.)> am (51.) und han (52.) dienen an-
scheinend nur dieser letzteren sprachlichen Funktion. Bei den
intellektualisierten Wörtern vollzieht sich die Bildung der Wort-
bedeutungen überall auf Grund der Assoziations- und Reproduk-
tionsgesetze. Die Verwendung dieser ersten als Bezeichnung
dienenden Kindesworte läßt nun auch hier erkennen, daß es sich
nicht um eine Benennung der Gegenstände mit der Fülle ihrer
Merkmale handelt, sondern daß nur die augenfälligen Teile
derselben von dem Kinde benannt werden, daß also nur Teil-
vorstellungen die ersten intellektuellen Wortbedeutungen aus-
machen. Vergl. 7. bibi, 10. mimi, 12. ama, 13. muh, 21. beitsch,
30. mütsch, 35. ball, 37. wuz, 42. hut, 46. dür, 55. dein, 56. beipf,
57. buderbod, 59. abell (Mit Rücksicht hierauf könnte man
die assoziativ-reproduktive Sprachstufe auch als die Stufe
der partiellen Benennung bezeichnen.)
Mit dem wachsenden Interesse, welches das Kind den
Dingen und Vorgängen entgegenbringt, und der sich steigernden
Auffassungsfähigkeit einerseits, sowie dem zunehmenden Wort-
schatz und der fortgesetzten Korrektur, welche das Kind bei
seiner Wortverwendung durch die Erwachsenen erfährt, anderer-
seits macht sich bei den ersten sprachlichen Produktionen des
Kindes langsam ein Bedeutungswandel geltend, demzufolge die-
selben allmählich zur Bezeichnung des geistigen Inhalts ver-
wendet werden, welcher die Wortbedeutung der betreffenden
Worte der Erwachsenen ausmacht. Die ersten Spuren dieses
Sprachprozesses treten uns auch in der sprachlichen Entwicke-
lung Kurts entgegen. Vergl. hierzu 10. mimi und 43. wadder,
2^7. wuz und 61. weif. Der Gebrauch des Wortes „wadder** für
Wasser bedingt natürlich eine Einschränkung in der Ver-
wendung der ursprünglichen Bezeichnung „mimi**, bezw. eine
Umfangsverengerung der ursprünglichen Bedeutung derselben.
'Ebenso verhält es sich mit wuz und weif.)
456 Heinrich IdeXbergtr,
Von größtem Interesse für mich ist die Beobachtung, daß
Kurt in dieser Sprachperiode das erste Zahlwort (vergl. 19. wei)
sinnvoll verwendet, wodurch zum erstenmal Zahlbeziehungen,
die Beziehungen einer Mehrheit von Dingen zur Einheit be-
zeichnet werden.
In den Aufzeichnungen des Nachtrags tritt noch mehr als
in denjenigen des Hauptteils (Seite 18 ff.) die Eigentümlichkeit
hervor, daß das Kind mit seinen ersten Worten vorzüglich Tätig-
keiten und Vorgänge bezeichnet.
(In grammatischer Beziehung sind die hier mitgeteilten
Beobachtungen besonders deshalb interessant, weil sie uns die
sprachliche Entwickelung vom einfachen Satzwort (Wunsch-
wort) zu dem aus mehreren flexionslos nebeneinandergestellten
Wörtern zusammengesetzten Satz verfolgen lassen. Vergl.
39. bei der.)
Kinderideale.
Einige experimentelle Beobachtungen von
Marx Lobsien.
(Schluß.)
Welches Gebäude unserer Stadt ist das schönste?
Knaben.
Marne
Stufe
Sa.
I
II
III
IV
V
Schloß
12
28
11
17
29
97
Universität*
*
5
9
Schule
1
2
8
2
13
Kirche*
2
4
19
9
5
39
Marine-Akademie*
5
3
8
Ober-Landesgericht
1
1
1
3
Pr. Lebensversicherung*
3
3
Krapps liOgierhaus*
1
2
3
Hofbrauhaus*
Ober-Eealschule*
1
1
Automatenrestaurant
1
1
Bahnhof*
1
1
1
3
Bathaus
8
6
4
13
Gymnasium*
Unser Haus
2
1
2
5
Die mit * bezeichneten sind Gebäude von architektonischer Schönheit.
Zdtedirifl fOr pldagosische Ptycliologie, Patbologie und Hygiene. 8
458
Mmrx Lohntm.
MSdchen:
Name
Stufe
Sa.
I
n
m
IV
V
Schloß
4
16
7
17
14
58
Universität*
2
6 1
7
IS
Schule*
1
8 1 16
10
5
40
Kirche*
26
14
25
6
15
86
Marine-Akademie*
Ober-Landeegericht
Pr. Lebensversicherang*
Krupps Logierhaas*
1
1
Hofbräohans*
Ober-Realschule*
Automatenrestaurant
Bahnhof*
4
1
1
6
Rathaus
5
5
Gymnasium*
1
1
Unser Haus
8
8
Wiederum ist die Auswahl bei den Knaben nicht unwesent-
lich größer als bei den Mädchen. Die Knaben wählten ins-
gesamt 14 Gebäude aus, davon 9 architektonisch schöne, die
Mädchen entschieden sich für 9, davon 7 hervorragend schöne
Gebäude. Ihr Auge scheint mehr durch Gesichtspunkte der
Schönheit bei der Wahl bestimmt zu werden, die Knaben wählen
mehr das Große, Überragende. Vor allen Dingen schätzen
sie das Schloß. Es ist ein altes, grauelss einförmiges Gebäude;
aber daß es groß ist, daß es die Wohnung des Prinzen Heinrich
und zeitweilig Aufenthaltsort des Kaisers ist — dasi macht es
ihm zum Ideal aller Gebäude. Dann folgt die Kirche, hinter
der die Schule weit zurückstehen muß. Hier mischen sich
offenbar hemmende Gedankenreihen ein, auch bei den Mädchen,
trotzdem ihr Schulhaus ein schönes, elegantes, modernes Ge-
bäude ist. — Ordnet man die Zahlen nach den aufeinander-
folgenden Stufen, so gewahrt man, daß Schloß und Kirche
nahezu regelmäßig in der Wertschätzung abwechseln.
Xmdendeale,
459
In weit intimerer Beziehung steht das Kind zu dem Spiel;
ie Untersuchung wird dort hoffentlich reichere Beute bringen.
Welches Spiel ist dir das liebste?
Kna
ben.
Name
Stuf
B
Sa.
I
n
nr
IV
V
Ballspiel
24
25
16
31
23
119
Ränber und Soldat
8
8
5
21
Indianer
6
5
2
15
Versteck
2
5
6
4
17
Laufspiel
1
2
1
1
5
Kartenspiel
2
1
3
Knobelspiel
1
1
Pickerspiel
1
1
Halmar
Sdhwarzer Peter
1
1
Scliach
3
3
Brettspiel
3
3
Fuchs ans dem Loch
7
7
Affenspiel
1
3
1
5
Lotto
l
1
Katz nnd Hans
4
11
15
Jakob, wo bist dn?
1
1
liOtzten
7
7
Kegeln
1
1
Kreisspiel
8*
460
Marx Löhtkn,
Mädchen.
Name
Stufe 1
Sa.
1
II
m
IV
V
Ballspiel
30
34
23
15
9
111
Räuber nnd Soldat
Indianer
Versteck
13
4
3
1
21
Laufspiel
1
1
Kartenspiel
Enobeispiel
1
1
Pickerspiel
Habnar
1
1
Schwarzer Peter
1
1
Schach
Brettspiel
1
1
2
Fachs aus dem Loch
Affenspiel
Lotto
16
16
Katz nnd Maus
2
2
Jakob, wo bist du?
Letzten
2
2
Kegebi
Kreisspiel
1
1
7
3
12
Puppe
4
1
14
19
21 Spiele wurden im Ganzen als Lieblingsspiele bezeichnet,
doch habe ich gleich verschiedene Lauf- und Ballspiele zu-
sanimengeordnet, weil eine spezielle Angabe bedeutungslos
schien. Die Spiele lassen sich in zwei Gruppen einteilen: in
Freiluft- und Zimmerspiele. Ich gebe zu, daß die Zeit, da die
Versuche angestellt wurden, die Wahl der Zinunerspiele be-
günstigte. Ich zähle ii Freiluft- und lo Zimmerspiele, genauer,
bei den Knaben lo und 9, bei den Mädchen nur 5 Freiluft*
und 9 Zimmerspiele. Die Lieblingsspiele der meisten Mädchen
sind Zinunerspiele.
JÜmderidealfi
461
Von allen Spielen wird das Ballspiel weitaus am häufigsten
s Idealspiel bezeichnet, fast sechsmal übertrifft die Zahl die
ichstgrößte. Wenden wir die alte Berechnungsweise an, dann
ssen sich die Lieblingsspiele in folgender Weise ordnen :
Knaben:
Mädchen:
BaU
119
Bau
111
Bäuber und Soldat
21
Versteck
21
Versteck
17
Pappe
19
Indianer
15
Lotto
16
Katz und Mans
15
Kreisspiel
19
Die wilden Lauf- und Raufspiele charakterisieren den
iahen, die geordneten, säuberlichen Kreisball-, Fangeball-,
>ttospiel und vor allen Dingen did Puppe das Mädchen. Der
labe will mit seinem Spiel hinaus in Freiheit und Ungebunden-
it, das Mädchen ins Haus, zur Ordnung und Gesittung. Das
Fährt man zwar in erster Linie aus der Art und Weise, wie die
dele betrieben werden, aber ebenso deutlich aus den Namen
r bevorzugten Spiele.
Auf den einzelnen Altersstufen dominieren folgende Spiele :
Stufe
Name
I
Ball — Versteck
II
Ball
in
BaU — Lotto
IV
BaU
V
Puppe
li den Knaben dominiert überall das Ballspiel.
Kmderideaie,
463
Mädchea.
Name
Stufe
Sa.
I
II
m
IV
V
Baden
Spielen
\\
5
3
11
Sägen
Schnitzen
\
1
Lesen
1 1
1 1 1
Gartenarbeit
i
l
1
Hansarbeit
3 13 1 24
18
34
92
Malen und Zeichnen
1 2
2
Fahren
Essen
Geldverdienen
Spazieren
Schnlarbeitmachen
Mosik
Einholen
Handarbeit
35
35
20
14
12
116
Schlafen
i
3
3
462
Marx Lohsim.
Welche Beschäftigung ist dir die liebste?
Knaben.
Name
Stuf
e
Sa.
1
II
IM
IV
V
Baden
1
1
2
Spielen
10
34
3
8
50
SägeD
3
3
Schnitzen
2
3
3
13
4
25
Lesen
6
2
3
11
Gartenarbeit
6
4
5
4
2
21
Hausarbeit
3
11
9
10
33
Malen und Zeichnen
4
2
6
Fahren
4
2
10
16
Essen
1
1
(Jeldverdienen
1
1
Spazieren
1
1
Schniarbeitmachen
1
1
Musik
Einholen
3
20
23
Handarbeit
Schlafen
KmderidetUe,
463
Mädchen.
Name
Stuf©
Sa,
I
II
m
IV
V
Baden
Spieleo
:i
6
3
11
8äeen
Sclmitzon
Lesen
l
1
Hauaarbeit
3
13
24
IS
34
H2
lialen und Zeichne a
'
%
2
FaKren
Essen
Geldverdlenen
Spazieren
^chTÜarbeltmaciieii ,
Muäik
EinkoLen
Handarbeit
35
35
20
14
13
116
Schlafen
3
3
464
Marx Lohsien.
y
Hier fällt wieder die weit größere Mannigfaltigkeit der
Lieblingsbeschäftigungen auf Seiten der Knaben gegenüber dea
Mädchen auf. Wie im Spiel so treibt auch die Beschäftigung
den Knaben aus dem Hause hinaus. Der Lieblings-
beschäftigungen der Mädchen gibt es eigentlich nur zwei und
beide weisen in das Haus hinein, Haus- und Handarbeiten
sind ihm die liebsten Beschäftigungen. Im Hause schnitzt,
sägt, malt und zeichnet der Knabe, Schularbeit machen aber
ist keinem Kinde eine angenehme Beschäftigung. Der Knabe
will baden, fahren, Geld verdienen, draußen umherstreifen;
er mag gern für die Mutter einholen. Ordnen wir die Lieblings-
beschäftigungen nach ihren Werten, so ergibt sich:
Knaben:
Mädchen:
Spiel
50
Handarbeit
116
Haasarbeit
33
Hausarbeit
92
Schnitzen
25
Spielen
U
Einholen
23
Gartenarbeit
21
Fahren
16
Lesen
11
Der Knabe hat mehr das Bedürfnis sich im Spiel in Un-
gebundenheit zu vergnügen als das Mädchen. Übrigens finden
wir hier schon Andeutungen von Wunschidealen, ich denke an:
Essen, Geldverdienen, Spazierengehen. Auf den einzetoen
Altersstufen dominieren:
Knaben:
Stufe
Name
I
Spielen*
II
Spielen
III
Hansarbeiten
IV
Schnitzen
V
Einholen
*) Hier wirken sicher Wanschideale, da die Not dee Lebens schon
manchen in ihr Joch spannt.
lämdgriäeaUi
465
Mädchen.
Stufe
Name
I
Handarbeit
n
Handarbeit
III
Hans- und Handarbeit
IV
V
Hausarbeit
Es ist interessant zu verfolgen, wie die jüngeren Mädchen
der Hausarbeit, die älteren in der Handarbeit ihre an-
nehmste Beschäftigung sehen. Der Wandel findet im ii. — 12.
:bensjahre statt. Sicher wirken auch hier Wunschideale; für
inches Mädchen, das am Erwerben des täglichen Brotes sich
tbeteiligen muß, ist die Handarbeit eine Erholung. Im großen
d ganzen aber entspricht das Ergebnis der Erfahrung, daß
1 das 12. Lebensjahr herum ein Wandel vor sich geht. Das
ädchen, das sich vorher dem Knabencharakter näherte, wird
zt sittsamer und häuslicher. Dem jüngeren Mädchen aber
das angestrengte Stillsitzen nicht angenehm, lieber geht es
den mannigfachen häuslichen Verrichtungen der Mutter
r Hand.
Welches Buch ist dir das liebste?
Diese Untersuchung muß mit dem Umstand rechnen, daß
inches Kind für Bücher nichts oder nur wenig anzulegen ver-
ig. Zwar kommt die Schülerbibliothek aushelfend zu statten,
er es soll erkundet werden, welches Buch, welche Art von-
ichem dem Kinde am liebsten ist. Die Schülerbibliothek
thält keineswegs inmier die Bücher^ an denen das Kind Ge-
len findet. Ich versuchte daher in einer Nebenuntersuchung
erkunden, wie viele Bücher, schätzungsweise, das Kind ge-
;en imd strich die Namen derjenigen, die eine zu geringe
iswahl hatten. Einwandfreier wäre gewesen, wenn ich mir
ältliche Bücher, die es gelesen, hätte aufzeichnen lassen,
imerhin bleibt die Auswahl des Liehlingsbuches sehr ab-
466
Marx LöMen.
hängig von äußeren Umständen, von der Einwirkung des
Hauses.
Dankenswertes erstreben hier die Prüfungsausschüsse für
Jugendschriften, auf manches Elternhaus wirken sie gewiß
fördernd imd ratend ein. Aber es ist auch an der Zeit, daß
sie sich über ihren Erfolg vergewissem. Es genügt keinesnvegs,
daß man sich über einen größeren Absatz freut, sondern es
Knaben.
Name des Baches
Stufe
Sa.
I
II
UI
IV
V
Eobinson
2
10
3
4
1
20
Indianergeschichte
16
11
7
3
2
39
Eealienbach y . Kahnmeyer Scholze
2
5
3
6
15
Natnrknndl. Bnch
2
Bibel •
1
3
21
1!
Märchenbuch
3
18
18
25
22
81
Nansen: Im ew. Eise
1
Sagen
3
1
Der Bnrenkrieg
1
2
Seeabenteuer
1
3
Weltgeschichtsbnch
1
1
Schullesebach
3
4
Bilderbuch
1
1
Zeitung
1
Eulenspiegel
1
Münchhausen
1
Erzählungen von Schmid.
l
kommt Vor allen Dingen darauf an, das Kind zu fragen. Das ge-
schieht am einfachsten durch eine umfängliche Erhebung wife
die vorliegende. Sie erbringt den zahlenmäßigen Beweis, was
das Kind liest und vor allen Dingen, was es mit Vergnügen liest,
ob es noch in den alten Räuber- und Indianergeschichten steckt
oder weiter Igekommen ist. Diese Erhebung müßte in be-
stimmten Zwischenräumen wiederholt werden und würde einen
Kmdend^aU,
467
sichern Maßstab für den Erfolg der mühevollen Arbeit geben.
Ich befürchte, daß manches Buch, das mit psychologischen imd
starkem literarisch-kritischen Verständnis am grünen Tische
ausgewählt worden ist, die Jugend kalt läßt. Das Kind hat hier
entschieden auch eine Stimme; Anstalten, die sich Klassen-
lektüre leisten können, wären für das Experiment besonders
wertvoll.
Mädchen.
Name des Bnches
Stufe
Sa.
I
II
III
IV
1
V
Bobinaon
6
7
7
8
28
Indianergeechichte
Beidienbaoh
NatorknndL Bach
Bibel
12
'•
12
Märchenbach
12
17
33
28
28
118
Namen: Im ewigen Eise
Sagen
Borenkrieg
Seeabenteaer
Weltgeachichtsbach
2
2
Leeeboch
2
1
6
9
Bilderbach
2
1
3
Zeitnng
1
Ealenspiegel
1
Münchhaosen
Erzählangen v. Schmid.
Ich stelle gleich die Ergebnisse der folgenden Frage hier-
her, die eine schätzungsweise Angabe über die Zahl der ge-
lesenen Bücher verlangt. Sie sollen zwar zunächst nur den
Nachweis erbringen, daß ich berechtigt war, einige typische
Momente aus den beiden vorseitigen Tabellen herauszukehren,
sind aber daneben ein interessanter Beleg für die vagen Zahl-
schätzungen nicht nur der Kinder auf den niederen Unter-
468
MüTx Lohsun,
richtsstufen. Mancher Bube hat eine Zahl von Büchern an«
gegeben, vor der ein gelehrter Professor erröten miiß •— woW
i,tausend und noch mehr". — Er mußte sich gefallen lassen,
daß ich ihm wenigstens eine Null abstrich, um seine Auf-
gabe einigermaßen verwerten zu können — , ja einer hatte gar
soviele Bücher gelesen, daß keine Zahl ihm groß genug schien,
sie anzugeben. So können diese Zahlenangaben nur auf ganz
untergeordneten Wert Anspruch erheben, aber die oben an-
gedeuteten Aufgaben erfüllen sie vollständig.
Durchschnittliche Angabe für jedes Kind.
Stufe
Kinder
I
II
m
IV
V
Enabeu
154
64
20
12
10
Mädchen
19
13
11
6
5
Zwar war oben bei den Mädchen niemals, wohl bei Knaben
mit dem Wert ii das Lesen als Lieblingsbeschäftigung an-
gegeben, aber auf eine größere Neigung, sich mit Lesen zu
beschäftigen, kann obiges Ergebnis nicht zurückgeführt
werden; die Neigimg zum Überschätzen ist, entsprechend der
Charakteranlage des Knaben, ins Starke und Große seine Ideale
zu verlegen, bei diesen auch wesentlich größer als bei den
Mädchen. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die Zahlen-
angaben der Mädchen genauer seien als die der Knaben, viel-
mehr sind sie nach untenhin ungenau, im allgemeinen lu
niedrig gegriffen.
Blickt man auf die allgemeinen Werte, so erkennt man,
daß Märchenbücher allen andern ganz wesentlich vorgezogen
werden. Bezeichnend aber ist, daß das Interesse für Märchen
stetig abnimmt. Bei Mädchen wird das angedeutet durch die
Zahlen 28, 28, 33, 17, 12, bei Knaben durch die Zahlen 22,
25, 18, 13, 3. Die eigentlichen Märchen jähre sind also die
Zeit vom 9. bis 12. Jahre. Dann erwacht deutUch das Be-
dürfnis der Kritik. Die eingehendere Beschäftigung mit der
objektiven Welt diszipliniert die kindliche, schweifende Phan-
tasietätigkeit und macht dem naiven Märchenglauben ein Ende.
KmderideaU, 469
Das ist in erster Linie bei den Knaben der Fall. Das ändert
notwendig auch die Idealgestaltung. Die Distanz zwischen Bild
und Wirklichkeit wird geringer. Der Drang zum Forschen und
Finden greift ein, doch bleibt dabei das alte Kraftbewußtsein.
So erwacht der Drang in die Feme, wo die Phantasie noch
schalten kann: das ist die Periode des Robinson (Knaben 20,
Mädchen 28) und seiner Kehrseite, der erbärmlichen Indianer-
geschichte. Der Burenkrieg interessiert, Nansens Forscherfahrt
ins nördliche Eismeer und die mancherlei Seeabenteuer. Die
eigentliche Robinsonperiode ist die Zeit vom 12. bis 13. Lebens-
jahre (10, bezw. 7). Daneben erwacht dann ganz natürlich das
Bedürfnis einer objektiven Weltbeobachtung, naturkundliche
(Schmetterlings-, Pilzkunde usw.), weltgeschichtliche Bücher er-
regen ein ernsteres Interesse.
Arg ist es mit dem vielumstrittenen Schullesebuch bestellt,
es wurde nur drei-, bezw. siebenmal als liebstes Buch bezeichnet.
Die Zahl 6 und teilweise 4 ist darauf zurückzuführen, daß ein
neues Buch eingeführt wurde — und das Neue erregt stets
Interesse. Diesen geringen Daten gegenüber wird man be-
schämt, wenn man in hohen Tönen reden hört von dem, was
das Lesebuch sein soll: ein Volksbuch im edelsten Sinne des
Abortes, an dem das Kind erst lesen lernen soll, das es nimmer
aus der Hand gibt, in dem es noch als Erwachsener mit Ver-
gnügen liest. Wie kläglich demgegenüber der Erfolg! Und
dabei bedenke man den schier unersteigbaren Berg vorhandener
Lesebuchliteratur: Wie viele Lesebücher, wieviel Reformvor-
schläge bis in die jüngste Zeit hinein. Ist inrnier noch nicht
die Kindesnatur genügend und richtig gewürdigt worden ? Oder
liegt es an der Behandlung, dem ewigen, öden Lesen imd
Erklären desselben Stoffs, desselben Buches zwei, drei Jahre,
ja fast die ganze Schulzeit hindurch? Hinweg, wenigstens in
den oberen Klassen mit dem Lesebuche auch in der Volks-
schule und frisch hineingegriffen in unsere nationale und
moderne realistische imd schöngeistige Literatur. Sie ist ja
zehnpfennigsweise zu haben I
Auch die Bestrebungen der Jugendschriftenbeurteiler sind
in den beiden Anstalten auf wenig fruchtbaren Boden gefallen.
Mit der ganzen Naivität unserer Altvorderen verzichten die
Kinder auf den Namen des Verfassers, sie interessiert nur
sein Werk. Ich habe aber Gelegenheit genommen, eine ganze
470
Marx LoMen.
Reihe von Büchern einzusehen — elende WarenhausHteratur
und nur 8 von den Prüfungsausschüssen empfohlene Bücheir
werden als Lieblingsbücher bezeichnet, 8 von 359 1 Das soll
selbstverständlich kein Vorwurf sein, ich wollte nur eine Tat-
sache herausheben und hoffe dringend, daß es anderem
günstiger aussehen möge. Man sieht aber wieder, wie schwer
beste Absichten, ernstes, selbstloses Arbeiten, selbst wo es dem
Besten dient, den Kampf mit i bis 2 Pf., die man ersparen
könnte, aufnehmen vermag.
Im einzelnen ordneten sich die Bücher in der Wertschätzung
in folgender Reihenfolge:
Knaben:
Mftdchen:
Märchen
81
Märchenbnöh
118
Indianergeechicliten
39
Robinson
28
Eobinson
20
Bibel
12
Eealienbnch
14
SchoUeBebnch
3
Scbnllesebüch
7
Die Bibel wurde von mehr Mädchen als Knaben geschätzt.
Die Zahl 14 geht auf die Neuanschaffung. Auf Stufe IV und
V der Knaben wird sie dreimal als Lieblingsbuch bezeichnet,
trotzdem sie dort gar nicht benutzt wird. Es ist eben das
große, dicke Buch, das interessiert, ganz unabhängig von
seinem Inhalte! Wir sehen hier wieder die Vorliebe für das
Große und Starke.
Auf den einzelnen Altersstufen dominieren folgende Bücher:
Knaben:
Stnfe
Name des Bnches
V
Märchen
IV
Märchen
lU
Märchen, Indianer
n
Märehen und Bobinnon, IndiaDer
I
Indianergeschichte.
KmderidtoU,
471
Mädchen:
Staf e
Name des Buches
V
MArchen
IV
M&rchen
m
M&rchen, Robinson
II
MArchen, Bibel, Robinson
I
Märchen, Bibel, Robinson.
Welches Tier ist dir das liebste?
Knaben.
Name des Tiers
Stufe
Sa.
I
n
m
IV
V
Pferd
18
29
17
25
8
97
Hand
11
14
21
17
70
Katze
3
2
3
8
16
2
3
Kanarienvogel
2
1
1
1
6
Hühner
2
1
3
8
Tauben
3
1
1
6
Schaf
1
1
1
4
Mans
1
1
Ziege
1
2
4
14
Esel
1
1
3
Papagel
Kuh
472
Marx LohHen,
Mädchen.
Name des Tiers
Stufe
Sa.
I
n
m
IV
V
Pierd
1
1
1
3
Hond
22
13
13
19
18
85
Katze
16
2
8
15
21
62
Kaninchen
4
2
6
Kanarienvogel
6
6
Hühner
7
2
9
Tanben
2
2
Schaf
3
2
4
9
Mans
1
1
Ziege
1
3
11
1
16
Esel
1
1
Papagei
1
4
4
9
Knh
2
3
5
Die Zahl der Lieblingstiere ist sehr gering. Man muß aber
bedenken, daß die Stadtjugend den Dorfbewohnern gegenüber
sehr im Nachteile ist. Wer hat einen Fuchs, einen Dachs
usw. in Natur gesehen, der Unterricht muß meist zu künstlichen
Veranschaulichungsmitteln greifen — und was sind diese gegen-
über der Natur. So finden wir in den obigen Tabellen lediglich
solche Tiere genannt, die sich bei uns im Hause aufhalten,
kein einziges wildes Tier. Es fehlt zu jenen das intime Ver-
hältnis, wie es auf dem Lande zwischen der Jugend und der
Natur vorhanden ist, es fehlt an unmittelbarer Beobachtung.
Einige charakteristische Unterschiede zwischen Knaben und
Mädchen fallen sofort ins Auge : Lieblingstiere der Knaben sind
Pferd und Hund, der Mädchen zumeist Hund und Katze.
Wir ersehen dort wieder die Vorliebe für das Große und
Starke, hier für das Kleinere und Zierliche. Bezeichnend ist,
daß die meisten Mädchen nicht Hund, sondern Hündchen ge-
schrieben haben, die Knaben niemals. Der Wertschätzung nach
ordnen sich die Lieblingstiere folgendermaßen:
lOukndeaU. 473
Knaben:
Pfeid
97
Hnnd
70
Katze
16
Ziege
Hühner
14
8
Tanben
6
M&dchen:
Hündchen
85
Katze
62
Ziege
Hühner
16
9
Papagei
Schaf
9
9
K^niwr.li^^n
6
Kanarienvogel
6
Pferd, Hund und Katze ragen in der allgemeinen Wert-
Ltzung weit über die andern Tiere hinaus. Die aufeinander-
enden Altersstufen zeigen wenig Unterschiede. Bei den
iben sehen wir auf Stufe V das Interesse für den Hund,
der IV. für das Pferd, auf der III. für den Hund, auf
IL und I. wieder für das Pferd dominieren. Bei den
ichen finden wir weiter verbreitetes Interesse für die Katze
Stufe V, hernach steht der Hund, auf Stufe II und III
it imwesentlich, im Vordergrunde — diese Tabellen be-
jen, wie weiter oben schon bestätigt wiurde, ein bedauerlich
nges Interesse für die Natur, die Hauptsache liegt in dem
Igel an unmittelbarem Anschauen und Erleben. Wie groß
i die Zahl der Lieblingsblumen sein?
Wie heißt deine Lieblingsblume?
Von vornherein muß bemerkt werden, daß hier die Aus-
1 für die Kinder unserer Stadt ungleich größer ist, nicht
daß reale Anschauimgsobjekte für den Unterricht leicht
»eschaffen sind, sehr viele Kinder haben auch Gelegenheit in
städtischen Prachtgärten eine Reihe von Pflanzen kennen
lernen und zu pflegen; auch hat man besondere private
anstaltungen getroffen, um die Liebe zur Blumenzucht zu
iben.
Zdtschrift ffir pidagogiache Psychologie. Pathologie uad HygicM. 4
474
Marx LoiMeH,
Knaben.
Name der Pflanze
Stufe
Sa.
I
n
m
IV
V
Hose
35
28
15
31
22
131
Tulpe
7
8
5
7
27
Veilchen
5
3
5
3
16
Waldmeister
2
2
Nelke
8
.
1
9
Mohn
1
1
2
Kornblume
1
5
6
Lilie
4
1
1
6
Obst (Kern)
3
5
1
6
15
Erdbeere
1
4
5
Levkoye
1
1
Kartoffel
1
2
3
Zuckerrübe
4
4
Stiefmütterchen
3
2
5
Goldlack
1
1
Wasserrose
Sonnenblume
Georgine
1
1
Narzissen
Reseda
Bühr' mich nicht an
KfndefideaU,
475
Mädchen.
Name der Pflanze
Stufe.
Sa.
I
n
m
IV
V
Rose
27
33
25
16
27
128
Tulpe
2
4
1
2
2
11
VeÜchen
7
4
8
2
21
Waldmeister
Nelke
6
4
5
15
Mohn
1
1
2
Kornblume
1
6
1
8
LÜie
2
1
3
6
Obst (Kern)
1
1
Erdbeere
1
2
2
5
10
Levkoje
Kartoffel
2
2
Zuckerrübe
Stiefmütterchen
5
GtoldhM^k
2
3
Wasserrose
2
2
Sonnenblume
Georgine
1
1
Narzisse
1
1
Beseda
Rühr* mich nicht an
1
1
476 Marx ZoMm.
Die ausgesprochene Lieblingsblume der Knaben wie der
Mädchen ist die Rose und zwar dominiert sie auf allen Alters-
stufen vom .9. bis 14. Lebensjahre hin. Die übrigen sind
folgendermaßen zu ordnen:
Knaben:
Tulpe
27
Veilchen
16
Obst
15
Nelken
9
Lilie
6
Eomblome
6
Mädchen:
VeÜchen
21
Nelke
15
Tulpe
11
Erdbeere
10
Kornblume
8
LiHe
6
Auffällige Unterschiede offenbaren sich hier nicht.
Was willst du werden?
Auf die Frage: Was willst du werden? bekonunt man
sehr oft die Antwort : Ich weiß es nicht. Mancher hat sich schon
früh für einen bestimmten Beruf entschieden^ mancher aber
malt sich im Wunschideale ein unmögliches Zauberbild aus,
des, was er werden will. Dieser will einst Kaiser werden, weiß
nicht in welchem Reiche, dieses kleine Mädchen wiU Mutter
werden, jene Schwester, jene Kaiserin, jene kann sich nichts
herrlicheres denken als Verkäuferin sein in einem Konditor-
laden; dieser Bube will Hauptmann werden, jener Zirkus-
direktor, jener der liebe Gott. Das alles sind Wimschideale
schweifender Phantasie, die trotzdem manchmal von längerer
Dauer sein können.
KiHdetideaU,
477
Knaben:
Name des Berufs
Stafe
Sa.
I
n
m
IV
V
Zinmiennann
5
4
4
7
6
26
Maler
2
5*
3
1
11
Tischler
1
6
4
3
3
17
Schlosser
5
6
9
7
27
Bildhauer
1
1
2
Maurer
4
4
4*
5
2
19
Musiker
1
1
2
Koch
1
1
2
4
Schreiber
1
3
2
6
Kunstmaler
1
1
Förster
1
1
Töpfer
1
1
Schauspieler
!•
1
B&cker
1
1
1
2
4
9
Mechaniker
1
1
Kutscher
1
3
1
1
6
Buchbinder
1
1
2
Uhrmacher
1
1
Seemann
13
6
6
9
34
Kaufmann
1
1
3
5
Soldat
2
4
6
Lehrer
3
3
478
Morx LöbsUn,
Mädchen:
Beruf
Stufe
Sa.
I
n
in
IV
V
Bachhalterin
4
3
4
2
12
25
Lehrerin
4
2
7
7
20
Schneiderin
15
15
18
15
16
79
Kindermädchen
1
2
4
5
12
Mamsell
2
3
Dienstmädchen
5
4
16
Stenographistin
1
1
Köchin
14
12
1
2
31
Verkäuferin
1
1
2
6
Plätterin
1
5
2
1
10
Haushälterin
1
Schauspielerin
1*
1
Waschfrau
1
1
Bäckerin
1
1
1
3
1
2
7
Schwester
1
1
Tüchtige Hausfrau
1
1
Ein Blick auf diese beiden Tabellen belehrt, daß klar
und bestinmit abgegrenzte praktische Berufe von der über-
wiegend großen Mehrzahl aller Kinder, selbst der Mädchen,
verzeichnet wurden; wir finden nur sehr wenig vage Zukunfts-
ideale. Das hängt zweifelsohne damit zusammen, daß die äußere
Lebenslage dieser Kinder die Frage: Was willst du werden?
viel nachdrücklicher und früher aufdrängt, während dielündcr
wohlsituierter Eltern sorgloser dahinleben.
Durch eine Nebenfrage wurde veranlaßt, auch den Stand
des Vaters anzugeben, denn die Annahme lag nahe, daß die
Kinder in der Angabe ihres Idealberufs durch den des Vaters be-
einflußt werden möchten. Das Ergebnis war überraschend. Ich
habe auf den Tabellen dort ein Kreuz gemacht, wo Über-
einstinmiung mit dem Berufe des Vaters, bezw. der Mutter nach-
weislich war, ich zähle bei den Knaben nur drei, bei den Mäd-
KmdeHdeak, 479
eben nur einen Fall^ die übrigen haben alle einen andern
Beruf gewählt. Sie sind also in negativem Sinne beein-
flußt worden. In den meisten Fällen dürfen wir uns da)s so
erklären, daß die Eltern mit den Mühen und Erfolgen ihres
Berufes unzufrieden sind und dementsprechend auf ihre Kinder
einwirken. — Andererseits ist bezeichnend, daß die Kinder
ganz selten über die Berufsarten hinauswählen, die ihnen, ent-
sprechend ihren pekimiären Verhältnissen, zu erreichen mög-
üch ist. Die Kinder erwählen sich mit Vorliebe folgende Be-
ruf sarten :
Knaben:
Mädchen:
Seemann
34
Schneiderin '
79
Schlosser
27
Köchln
31
Zimmermann
26
Buchhalterin
25
Manrer
19
Lehrerin
20
Tischler
17
Dienstmädchen
16
Maler
11
Kinderm ädchen
12
Bfieker
9
Plätterin
10
Schreiber
6
Putzmacherin
7
Kutscher
6
Verkäuferin
6
Soldat
6
III.
Memoriertypen.
Nähere Betrachtung etwaiger individueller Zusammenhänge
zwischen Gedächtnis- und Anschauungstypen imd den kind-
lichen Idealen sollen hernach angestellt werden; hier erst
einige Vorbemerlamgen I Die Angelegenheit der Gedächtnis-
und Anschauungstypen hat noch nicht entfernt die ge-
bührende Würdigung erfahren, erst neuerdings erfährt
sie ernste Betommg. Rein theoretisch sind drei
verschiedene Typen zu unterscheiden: der akustische, der
optische oder visuelle und der motorische Typus; ich sage
theoretisch, weil in Wahrheit bei dem gesunden Menschen ein
einziger Typus allein sich nirgends feststellen läßt, selbst der
Blinde spricht vom Sehen. In Wahrheit sind stets alle drei
vorhanden, aber nicht in gleichem Grade. Meistens überragt
ein Typ derart, daß die andern in den Hintergrund, doch
niemals zur vollkommenen Bedeutungslosigkeit herabgedrückt
480 Marx ZoMtn.
werden. Wir können also streng genommen nur Mischtypen
unterscheiden mit einseitiger Betonimg dieser oder jener Seite.
In diesem Abschnitte koncunt es mir nur darauf an, zu er-
kunden, welche Typen innerhalb einer Klasse vorherrschend
sind und ob die einzelnen Altersstufen Unterschiede, bczw.
Wandlungen zeigen. Man darf nämlich nicht glauben, daß
diese Typen unverrückbar festliegen, zwar in ihren ausgepräg-
teren Besonderheiten wohl, nicht aber bei minimaleren Energie-
distanzen der einzelnen Seiten. Hier hat äußere Beeinflussung,
hat Übung und Unterricht einen ganz wesentlichen Einfluß.
So „schreibt Balduin von sich, daß sein Deutsch sprechmo-
torisch und akustisch sei, da er es durch Konservation in
Deutschland gelernt habe, während sein Französisch, das er in
der Schule durch Lesen und Schreiben von Exerzitien gelernt,
optisch und schreibmotorisch sei". Nicht ganz zustimmen aber
kann ich Lay (Experimentelle Didaktik — Nemnich — Wies-
baden 1903, S. 226), wenn er behauptet: „Der Unterricht kann
den Schüler, der seinen angeborenen Dispositionen^ nach Hörer,
Seher oder Motoriker ist, auf einzelnen Gebieten zu einem
andern Typus umgestalten, den gemischten Typus einseitig in
den akustischen, optischen oder motorischen Typus überführen.
Nur der zweite Teil dieser Behauptung ist richtig, der erste
falsch. Ererbte Dispositionen lassen sich durch den Unter-
richt nicht vernichten, er kann sie zwangsweise eindämmen,
aber sie haben immer noch Gelegenheit genug, sich ihrer Natur
entsprechend geltend zu machen. Zunächst füllt der Unter-
richt nur einen Teil des Tages und der kindlichen Beschäfti-
gungen aus, und auch während derselben gibt es Schlupfwinkel,
die dem Lehrer verborgen bleiben, denn es spielt sich nur
ein Bruchteil des kindlichen Geisteslebens vor seinen Augen
ab. Aber während des Unterrichts bedeutet ein einseitiges
Verfahren, das den Typus unbeachtet läßt, tief- und weit-
greifende, gewaltsame Eingriffe in die natürlichen Dispositionen
und Tendenzen vieler Schüler.
Der Methoden, den Typus zu bestinunen, gibt es
mehrere, ich möchte mich hier mit einer zwar nicht ganz ein-
wandfreien, aber für die vorliegende Aufgabe ausreichenden
einfachen Weise begnügen: das Examen. Ich ließ die
Schüler die drei Fragen beantworten: Wer lernt zu Hause
laut? Wer lernt leise? Wer denkt an die Stelle im Buche, w
KmderideaU,
481
zu Lernende gedruckt steht? Es kam darauf an, die
js liehe Art und Weise des Memorierens zu erkunden,
n hier folgt das Kind, ungezwungen durch den Unterricht,
en natürlichen Dispositionen. Das Befolgen dieser natür-
en Dispositionen bedeutet Kraft- und Zeitersparnis, also
jichterung der Arbeit für das betreffende Individuiun.
Wurde die erste Frage mit : Ja beantwortet, so konstatierte
akustischen, die zweite motorischen, die dritte
tischen Typus; daneben mußten die Mischtypen fest-
tellt werden. Den akustischen Typus bezeichne ich mit a,
optischen mit o xmd den motorischen mit m. Es sind
folgende Mischtypen möglich: aom, ao, a, m, om, a, am.
Die folgende Tabelle weist den Klassentypus für Knaben
Mädchen auf.
Knaben:
Stufe
Typus 1
aom
ao
a
m
om
0
am
I
3
8
2
7
16
8
n
1
4
3
25
5
13
ni
2
3
10
13
3
14
Gesamt
3
6
17
5
45
24
35
Die Stufen IV und V mußte ich als wertlos streichen.
M&dchen:
Stufe
Typus 1
aom
ao
a
m
om
0
am
I
3
20
13
13
n
2
2
4
13
1
21
lU
6
15
5
22
IV
2
5
12
3
21
Gesamt
2
4
18
70
22
77
Der motorische Typus strengerer Art fand sich bei d«i
dchen überhaupt nicht, bei den Knaben nur fünfmal. Die
482
Marx Lohsien.
weitaus größte Schülermasse verteilt sich auf die Mischtypen
om und am und zwar scheinen mehr Mädchen im allgemeinen
am zuzuneigen, mehr Knaben om.
Ein weiteres, als zu zeigen, welcher Typus am meisten,
welcher am wenigsten vertreten sei, können die obigen
Tabellen nicht leisten. Fassen wir die einzelnen Stufen als
Klassentypen auf, so offenbart sich deutlich, daß auch nicht
eine Klasse der andern gleicht, nur in den allgemeinsten
Zügen läßt sich Übereinstimmung erblicken, doch ist das Be-
obachungsmaterial zu gering, um höhere Resultate zu geben.
Bei den Knaben glaube ich im allgemeinen größeren Typen-
reichtum konstatieren zu können, wir finden fast alle vertreten.
Bei den Mädchen fällt die schärfere Betonung des motorischen
Typus m ganz aus. Einzelne Klassenunterschiede der beiden
Geschlechter in den Gesamtwerten zeigt folgende Zusammen-
stellung, in der die Knabenwerte rechnerisch, also nicht
auf Grund von Beobachtungen ergänzt sind:
Gesamtwerte:
Ge-
schlecht
Typus 1
aom
ao a
m
om
o
am
Knaben
5
10 28
8
75
40
58
Mädchen
2 1 4 1 18
70
22
77
Die Kurvendarstellung zeigt für beide Geschlechter fast
durchgehende Übereinstimmung.
IV.
Die Methode für die dritte ergänzende Untersuchung
bestand darin, daß die Schüler veranlaßt wurden, während je
drei Minuten aufzuschreiben : i. Was ist dir angenehm? 2. Was
ist dir unangenehm? 3. Was ist dir lächerlich? 4. Was ist
dir wunderbar? Sie mußten so schnell wie irgend möglich
alles, was zur Beantwortung der Frage dienen konnte, niedcr-
. schreiben. Die Schüler waren so gewissermaßen noch ungc-
Kinderideale. 4i53
bundener in ihren Entschließungen, wie voher. Das Ergebnis
mußte einer sorgfältigen Sichtimg unterzogen werden. Dem
ersten Blick schien sich ein Gewirre von Angaben darzubieten;
aber bald offenbarte sich mancherlei Gesetzmäßigkeit. Manche
Angaben liegen zwar seitab am Wege und wollen sich einer
strengeren Ordnung schwer fügen, so wenn dem einen lächer-
lich ist, „das Buch auf den Kopf halten und dann lesen",
wunderbar, daß „die Bahn mit ,elektrischitäf laufen kann",
unangenehm „Pferdefleisch, Schuhe putzen, Haarekämmen und
gekochte Eier", wunderbar, „daß der Storch die Kinder tragen
kann", lächerlich, „daß er sie überhaupt bringt", daß die „Frauen
keinenSchnurrbart haben und der Unterricht bis 5 Uhr nach-
mittags dauert", daß „der Hund auf vier Beinen läuft und wir
nur auf zweien", wunderbar, daß „die Henne Eier legt" und
die Maus mit Haaren bedeckt ist" — so möchte man schier
verzweifeln, in dieses tohu vabohu auch nur einigermaßen Ord-
nimg zu schaffen. Gleichwohl ist sie in allgemeinen Zügen
möglich. Es empfiehl sich, zu dem Zwecke alle Antworten
in zwei Gruppen zu teilen, die physische und die psychische
und sie dann einzelnen Untergruppen zu unterwerfen. Diese
bilden kein zusammenhängendes, abschließendes System, son-
dern beschränken sich lediglich auf das vorhandene Beob-
achtungsmaterial. In ersterer Gruppe beobachtete ich mo-
ralische, ästhetische und soziale Werte auf der physischen Seite
I. solche Wünsche, die die elementarsten Lebensbedürfnissie
(Nahrung, Kleidung, Bad und Ruhe) angingen, 2. solche, die
darüber hinausgehen, (Spiel, Ordnung und Reinlichkeit,. Spiel-
zeug, Musik, Arbeit und Sport).
Es ist zu bedenken, daß hier nicht wenig Wtmschideale
begegnen. Das Ergebnis stelle ich in umstehender Übersicht dar.
Deutlich offenbart diese Tabelle, wie nahezu alles, was
dem Kinde angenehm ist, nicht auf Seiten des Psychischen,
sondern des Physischen liegt, zumal bei dem weiblichen Ge-
schlechte: Nahrung, Spiel und Bad — das sind die drei Ge-
biete, um die seine Wunschideale sich lagern. Sie repräsen-
tieren sich in den Gesamtwerten:
Knaben : 73 : 64 : 29,
Mädchen : 1 1 : 34 : 56.
Bezeichnend ist, daß bei den Knaben das Interesse für
Nahrung kulminiert, bei den Mädchen für das Baden. Da
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KifuUrideaU, 485
Interesse für Spielzeug a\if Vorliebe für die häuslichen Spiele
ichließen läßt, so scheint es erlaubt zu sein, diesle Werte zu
Midieren. Man findet dann:
Knaben : 73 : 77 : 29,
Mädchen: 11 : 119 :56.
Mithin verschieben sich die Werte zugunsten des Spiels
nicht unwesentlich.
Wo als besonders angenehm Nahrungsmittel angegeben
werden, finden sich auf der Unterstufe zumeist Obst und
Näschereien verzeichnet, der eine verrät seine Leidenschaft
für Pfannkuchen mit Stachelbeeren, der andere für Butter-
milch, jener wünscht schlechthin sein Leibgericht. Weiter nach
oben finden sich Angaben, wie : Immer essen imd trinken, tüchtig
essen. In der Kleiderfrage stinunen die Zahlenangaben nahezu
iiberein, während aber die Wünsche der Mädchen auf schöne
Kleider oder Schmuck gehen, ist der Junge schon zufrieden,
wenn das Loch in der Hose gestopft ist oder die Stiefel der
Sohlen nicht ermangeln, der Sinn ist auf das Praktische imd
Notwendige, dort auf den „Glanz und den Schimmer" früh-
zeitig gerichtet. Das Interesse für das Spiel ist auf den
niederen Altersstufen — die Werte für Spielzeug mit eingerech-
net — weiter verbreitet, als auf den oberen. Für Arbeit und
Sport finden sich bei den Mädchen keine Werte. Unterricht,
überhaupt irgendwelche wissenschaftliche Beschäftigung, wurde
nur dreimal als angenehm verzeichnet. — Hauptergebnis der
Tabelle bleibt, daß die Kinder im Alter von 9 bis 13 Jahren
ungezwungen ihre Ideale auf engem physischen Gebiete
angeben. Möglich, daß Mängel in der äußeren Lebensgestal-
tung eine Reihe von Wunschidealen wecken, aber eine Statistik
darüber belehrt, daß bei den Volksschülem in solchem Umfange
keine Beeinflussung zu befürchten ist, daß der wahre Kindes-
sinn ganz dadurch unterdrückt werde.
Was ist dir unangenehm?
Die Antworten auf diese Fragen liegen bei Knaben in
14 Fällen — bei den Mädchen nie! — auf moralischem, sonst
inmier auf physischem Gebiete. Die einzigen moralischen Defekte,
die als unangenehm bezeichnet wurden — das sichl zumeist mit
486 Marx Lobsien,
verwerflich berührte — waren das Lügen und das Stehlen, die ein-
zigen Dekalogsverbote, die für das Kindesleben von besonderer
Bedeutung sind. Auffällig ist, daß hier wieder die Mädchen voll
kommen versagen. Offenbar liegt darin eine Bestätigung der
auch sonst genugsam betonten Erfahrung, daß das straffe
Rechtsbewußtsein bei den Mädchen nicht in dem Maße klar
vorhanden ist wie bei den Knaben. Dem Mädchen fehlt der
objektive Sinn, es verwechselt Person und Sache, oder viel-
mehr, es legt seine Persönlichkeit in die Dinge hinein und
fühlt — wie die Spinne im Netze — oft sich selbst ge-
troffen, während die Sache gemeint war; es ist z\xc Sophistik
von vornherein geneigt, zum Konzessionenmachen und Räso-
nieren, während der gesunde Knabe sich dem Rechte beugt.
Ich sagte, daß ich lediglich eine Bestätigung dieser Erfah-
rung in den obigen Daten erblicke, sie als Ergebnis aus den
wenigen Daten herauszukehren, wäre bedenklich.
Wenden wir ims den Antworten zu, die ins Gebiet des
Physischen fallen. Auf der Grenzzone liegt die Strafe. Die
Antworten lassen nicht erkennen, welche Art Strafe als unan-
genehm empfunden wird, ob lediglich die. körperliche Züch-
tigung oder die in Worten, ob Unterschiede gemacht werden
bezüglich der Veranlassung, ob Strafe für ein moralisches Ver-
gehen schwerer empfunden wird, als für Nachlässigkeit und
Trägheit. Zumeist wurde Schläge, Stock oder einfach Strafe
hingeschrieben, an der Wand stehen einmal, Schelte nie; so
scheint es, daß zumeist der physische Schmerz Veranlassung
war, die Strafe als unangenehm zu bezeichnen. Daß aber
dieser allein die Veranlassung nicht sein kann, folgt aus
dem Umstände, daß der physische Schmerz — zumal bei dem
weiblichen Geschlechte — so ungemein leicht der Vergessen-
heit anheimfällt.*) Die begleitenden Umstände, nicht zuletzt
die Reizungen des Ehrtriebes spielen eine bedeutsame Rolle.
Das wird hier auch dadurch bestätigt, daß nach unten hin die
Angaben, daß Strafe unangenehm sei, sich stark verringern,
zumal bei den Knaben. Gerade das jugendliche Alter ist für
den physischen Schmerz stark vergeßlich, nicht etwa, weil es
*) Vgl. die Untersuchungen Prof. v. Tschiflch in Ztsohr. f. PftychoL
u. Physiologie der Sinnesorgane, 1. Bd. und Marx Lobsien: Über den päda-
gogischen Wert des physischen Schmerzes. Päd.-psyohoL Stadien 1904.
KmdendeaU. 487
gegen denselben weniger empfindlich ist, sondern weil die
Nebenumstände das noch wenig entwickelte Ehrgefühl gar nicht
oder nur schwach anregen. Ich stelle die Reihen hierher:
ö: L
23
16
IL
24
12
HL
17
10
IV.
5
10
V.
3
2
Zwei Bedenken will ich jedoch nicht verschweigen : i . Auf
der Unterstufe ist Art und Zahl der Strafen verschieden von
denen der Oberstufe. 2. Es fehlt hier eine Angabe darüber,
wie stark das Individuum die Strafe in der Reihe der unan>
genehmen Empfindimgen wertet. Es ist für eine Nachprüfung
der Versuche dringend zu empfehlen, die Schüler nach Ab-
lauf der drei Minuten, das Unangenehmste unterstreichen zu
lassen, daß sie womöglich eine absteigende Reihe durch Ziffern
andeuten. Im einzelnen wurde außer dem eben genannten
das in umstehender Tabelle angegebene als unangenehm be-
zeichnet
Außerdem fand ich in zwei Fällen angegeben: Gesell-
schaft, wogegen einer die Langeweile als unangenehm bezeich-
nete. Starke Abneig^ung gegen Personen, Tiere und Pflanzen
findet sich lediglich auf den imteren Stufen weiter verbreitet,
stark durch das Gefühl der Furcht bestimmt. Wir finden an-
gegeben : den Teufel, den Chinesen usw., an Tieren : Schlange,
Maus, Ratte, Ziege, Ameise, Raupe, an Pflanzen: Brennessel
imd Kartoffel. Siebenmal fand ich das Rauchen als unan-
genehm verzeichnet, offenbar bei solchen Knaben, die noch
stark in den Anfangsgründen dieser Kxmst staken. Die Schule
war in 14 Fällen kein angenehmer Aufenthaltsort, besonders
der Nachmittagsunterricht bis fünf Uhr findet Kritiker. Eigen-
artig ist die Furcht der Mädchen vor dem Naßwerden, trotz-
dem das Baden bei ihnen sehr beliebt ist, — den Knaben ficht
das nicht an. Der Himger wurde nur in zwei Fällen als un-
angenehm bezeichnet, die Furcht vor dem Gewitter dreimal,
der Aufenthalt im Dunkeln einmal.
488
Marx Lobsün,
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KmäeritUaU, 489
Was ist dir lächerlich?
„Lächerlich" wird in einem doppelten Sinne verstanden:
einmal im Sinne von komisch, dann im Sinne von töricht.
Im ersten Falle hat das Kind an den Vorgängen herzliche
Freude, im zweiten Falle stellt es sich über sie, indem es sie
belächelt. Dem Inhalte nach sind es fast nur Situationen,
die als lächerlich bezeichnet werden. Sie lassen drei Gruppen,
soweit ich sehe, unterscheiden: i. komische Situationen,
2. solche, die Mangel an Mut verraten, 3. solche, über die
der Schüler aus andern Gründen sich erhaben fühlt. Zur ersten
Gruppe gehören: Loch in der Hose, der Zirkusaugust, das.
Kasperle, der Hampelmann, nicht zuletzt der berühmt-berüch-
tigte kleine Kohn, schwarz zur Schule kommen, wenn kleine
Kinder laufen lernen, wenn der Hund die Wurst stiehlt und nicht
ertappt wird. Zur zweiten Kategorie gehören: Weinen, Feig-
heit, Furcht vor dem Wasser, „sich anstellen**. Zur dritten
Art endlich rechne ich : das Wahrsagen, mit der Puppe spielen,
der „Buschermann** — an den glaubt der Schüler nicht I Auch
das Zaubern ist ihm lächerlich, ja ein Schüler der zweiten
Stufe ist unverbesserlicher Gegner des Kopemikus, daß die
Erde sich dreht, können ihm die exaktesten Beweise nicht
glaubhaft machen — er steht doch einmal auf dem Kopfe und
ist noch niemals in den Weltenraum hineingefallen! So sind
Angaben dieser Art geeignet, die naive kindliche Kritik zu
offenbaren. Die Angaben der Mädchen unterscheiden sich nur
wenig von denen der Knaben, nur tritt das kritische Moment
auf den oberen Stufen zurück (ein blasiertes tritt hie und da
dafür ein, wie Puppe spielen, plattdeutsch reden u. a.). Auf
den unteren Stufen offenbart sich Sinn für komische Situa-
tionen aus dem Tierleben, der Affe, der Papagei, das Eich-
hörnchen wecken Lächeln, desgleichen, daß sich die Katze
putzt oder versteckt, der Bär tanzt. Auch offenbart sich in
den Angaben häufiger der BHck der Mädchen für das Kleine
und Kleinliche, es lacht, wenn die Nachbarin einen Klecks
macht oder zwei Zöpfe hat oder mit dem Haar spielt. — Im
allgemeinen ist auch hier der Rahmen, innerhalb dessen die
Kinder sich bewegen, recht eng und bietet zu weiteren
Schlüssen als den eben angedeuteten keinen Anlaß. Es er-
übrigt sich mithin eine übersichtliche Darstellung.
Zeitschrift für pädagoeiscfae Psychologie, Pathologie und Hygiene. 5
490
Marx Lobsün.
Was ist dir wunderbar?
Die Angaben sondern sich ungezwungen in zwei Haupt-
gruppen: metaphysische und physische, die letztere in An-
gaben logisch-wissenschafthcher und naiv-kindlicher Art.
Stufe:
physisch
metaDhvsifioh
log.-wiss.
naiv kindL
Knaben
L
Daß die Erde sich dreht.
Hypnotismas nnd Sug-
gestion. Schöpfung. Elek-
trizität.
Rätsel. Wahrsagen.
Zaubern. Beiltanz.
n.
Berge auf Mond. Erde
eine Ki^el. Hund hat
Sinnen. Verstand. Henne
Eierlegen. VögelfUegen.
Lernen.
desgL
etwas Neues.
HT.
Daß Wunden heilen.
Elektr. Bahn. Zwerg-
gestalt.
Spiel.
Liebe Gotbes
IV.
Traum. Vulkan. Müde
sein. Tiere sprechen.
Märchen 19
Hauseinsturz
V.
Wilde Tiere 6. Himmel.
6. Luftballon. Blitz. Auto-
mobil.
Storch Kinder
tragen kann.
Mädchen
I.
Natur.
Märchen. Puppe.
Kleid.
Gott in der
Natur. Wunder
Jesu.
n.
Daß alles grün ist.
Zirkus. Seiltanz.
Bruder Stube fegt.
Puppen. Blumen.
Jesu Wunder.
ni.
Regenbogen.
Baden. Theater.
Sonnenschein.
Regenbogen.
IV.
Kleider. Schuhe.
Der große und der
kleine Klaus.
Blumen.
Wunder Jesu.
V.
Regen fällt.
Seiltanz.
Tod, Wunder
Jesu.
Metaphysische, hier immer religiöse, Vorstellungen erregen
weit weniger das Verwundern als physische Vorgänge und
Dinge. Bei den Knaben findet sich nur einmal die ganz in-
konkrete Angabe: die Liebe Gottes, so daß wir annehmen
Kinderideale, 491
dürfen, daß irgend eine Klangassoziation mit wunderbar, etwa :
„Wunderbar ist Gottes Liebe" die Vorstellung geweckt hat.
Die Mädchen scheinen mehr geneigt zu sein, über metaphy-
sische Dinge sich zu verwundem, sie geben zumeist konkrete
Wunder des Herrn an.
Auf physischem Gebiete stehen sie den Knaben weit nach.
Zahl und Art naiv-kindlicher Angaben sind bei den Mädchen
bis zur Oberstufe hin weit ausgeprägter als bei ihren männlichen
Altersgenossen. In den Angaben logisch-wissenschaftlichen
Charakters versagen die Mädchen nahezu ganz, wir finden
nur einige abgeblaßte Angaben. Wie ganz anders der Knabe I
Dem gibt die Natur Rätsel auf, er verweilt staunend (Stufe
V — II) hernach kritisch (Stufe II — I) bei konkreten Vorgängen.
Dem Mädchen in diesen Lebensjahren ist das alles nicht rätsel-
haft. Es ninmit das hin, was ihm gefällt, es kritisiert nicht,
sondern bleibt im Erstaunen stecken. Das Wunderbare ist
bei den Mädchen inuner stark betont durch das : mir angenehm.
Sie treten nicht aktiv den Dingen imd Vorgängen gegenüber,
sondern passiv genießend, auswählend das, was ihnen schmeckt.
V.
Individuelle Besonderheiten.
Diese können nur mit großer Vorsicht herausgestellt
werden. Ich will mich damit begnügen, zu erwägen, ob und
welcherlei Einfluß sich konstatieren läßt zwischen dem je-
weiligen Gedächtnis- imd Memoriertypus und den Kinderidealen
in Spiel, Unterrichtsfach, Beschäftigung, Buch, Tier, Pflanze,
Berufswahl. Man wird schon aus der Erwägung heraus ge-
neigt sein, in bejahendem Sinne zu antworten, daß das Gesetz
der Krafterspamis auch von dem Kinde naiv befolgt wird,
wenn es nicht durch unnatürlichen Zwang daran gehindert
wird. Es gehorcht den Dispositionen, die ihm die leichtesten
imd besten Erfolge sichern; kurz es treibt das am liebsten,
worin es von Hause aus veranlagt ist. Es ist zweifelsohne,
daß ein ausgesprochener Motoriker andere Neigungen, Be-
schäftigungen, Wunschideale hat als der Akustiker oder Optiker.
5*
492
Marx Lobsien,
Er wird sich andere Spiele, Beschäftigungen, wenn man ihn
nicht zwingt, einen andern Beruf wählen als diese. Zu be-
sorgen ist aber, daß bei den Mischtypen sich diese Spuren
nicht immer werden klar verfolgen lassen.
Meine Ausbeute ist gering. Ich beschränkte mich auf die
beiden Oberklassen der Knaben- und Mädchenschule, weil hier
die Neigungen, insonderheit bezüglich des Berufs wesentlich
konstanter sind als auf den unteren Stufen. Hier mußte ich
mich leider auf drei Memoriertypen beschränken, weil die
andern so stark in der Minderzahl waren, daß weitere
Schlüsse sich verboten. Die Typen sind folgende: ao, mo,
m. Vergleicht man die Ergebnisse bei m mit denen bei mo,
so läßt sich der Einfluß von o, vergleicht man ferner mo mit
ao, so läßt sich auch einigermaßen der von a erkennen, wenn
auch weniger deutlich. Um einen Vergleich zu ermöglichen,
mußten selbstredend die Werte auf eine gleiche Zahl verrechnet
werden, ich wählte 30, die Häufigkeitszahl für den ersten Typus.
Ich fand so folgende Werte:
Unterrichtsgegenstand:
Ge-
schlecht
Typns ao
Knaben
4 X Tnmen
5 X Zeichnen
2 X Lesen
2 X Natnrlehre.
Mädchen
2 X Tomen
4 X Handarbeit
8 X Geschichte.
1. Unterrichtsfach:
Ge-
Typus
schlecht
ao
mo
m
Knaben
4 X Tomen
5 X Zeichnen
2 X Lesen
2 X Natnrlehre
7 X Tomen
3 X Zeichnen
2 X Schreiben
4 X Tomen
6 X Zeichnen
Mfidchen
2 X Tomen
4 X Handarbeit
8 X Geschichte
3 X Handarbeit
3 X Geschichte
4 X Handarbeit
4 X Geachichte
KmderideaU,
493
2.
Spiel:
Ge-
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Typus
schlecht
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mo
m
Knaben
9 X BaU
2 X Lotto
9 X Bau
2 X Versteck
2 X Indianer
12 X Ball
10 X Versteck
Mädchen
5 > Ball
8 X BaU
2 X Versteck
4 X Ball
10 X Versteck.
3. Beschäftigung:
Ge-
Typus
schlecht
ao
mo
m
Knaben
7 X Bad
2 X Spiel
2 X Bad
3 X Fahren
2 X Schnitzen
4 X Malen
6 X Spiel
Mädchen
15 X Handarbeit
18 X Handarbeit
19 X Handarbeit
4.
Beruf:
Ge-
ao
Typus
schlecht
mo
m
Knaben
3 X Zimmermann
3 X Zimmermann
3 X Techniker
2 X Seemann
4 X Maurer
5 X Schlosser
Mädchen
V
3 X Köchin
3 X Schneiderin
2Xl>ienstmädchen
4 X Köchin
4 X Schneiderin
4Xl>ien8tmädchen
Außer Betrachtung blieben alle Fälle, da nur ein Beruf
gewählt wurde usw. Am ausgeprägtesten ist der Einfluß von
m auf allen vier Gebieten, er bedingt überall ein starkes Hin-
neigen zu mechanischen Beschäftigungen und zwar dort am
stärksten, wo er am reinlichsten betont ist. Weiteres ist aus
den Tabellen unmittelbar zu vergleichen, ich kann darum auf
weitere Ausführungen verzichten.
Ich möchte die vorliegenden Untersuchungen nicht ohne
eine kurze Bemerkung schließen. Manchem möchte die Aus-
404 ^orx Lobskn,
beute gering erscheinen. Vielleicht ist er nach den einleitenden
Worten arg enttäuscht worden. Das wird einmal nur bestätigen,
daß Kinderideale auf ganz engem Raimie liegen und während
der Zeit vom 9. bis 13./14. Lebensjahre nur schwach beschwingt
sind. Zum andern aber ist zu bemerken, daß diese Zeilen
ein Moment außer Betrachtimg lassen mußten, das ihnen erst
vollen Wert verleiht: Ich denke an das persönliche Moment,
die Bekanntschaft mit den Zöglingen. Diese verleiht Unter-
suchungen, wie den vorliegenden, ein ungemein hohes Interesse.
Ich kann nur dringend empfehlen, in gewissen Zeitabständen
ähnliche Versuche zu wiederholen, der Gewinn für den Leh-
renden ist nicht gering.
Sitzungsberichte.
Psychologisclie Geseilschaft zu Berlin.
Arbeitsplan
für das
Winter- Halbjahr
1903/04.
1903.
Donnerstag, den 22. Oktober:
Herr Dr. Ferd. Jak. Schmidt: „Psychologie und Philosophie."
Donnerstag, den ö. November:
Herr Dr. Franz Oppenheimer: „Das Gesetz der Strömung in der
Nationalökonomie.'*
Donnerstag, den 19. November:
Herr Dr. Pappenheim: „Sehen und Darstellen."
Donnerstag, den 3. Dezember:
Herr Dr. med. Wilhelm Stern: „Über den Begriff der Handlung."
1904.
Donnerstag, den 7. Januar:
Herr Dr. B e r t h o 1 d : „Forensische Psychologie.**
Donnerstag, den 21. Januar:
Herr Dr. med. Treitel: „Wann entstehen bei kleinen Kindern Begriffe?*'
Donnerstag, den 4. Februar:
Herr Dr. Henning: „Das Wesen der Synopsien mit besonderer Berück-
sichtigung des Farbenhörens.'*
Donnerstag, den 18. Febn^u*:
Herr Kriminalkommissar von Manteuffel: „Psychologische Momente in
der Falschspielerei.**
Donnerstag, den 3. März:
Herr Geh. Medizinalrat Professor Dr. Eulenburg: „Selbstmorde im
jugendlichen Alter.**
4Q5 SütungsberichU.
Sitzung vom 22. Oktober 1903.
Beginn 8 Uhr 20 Minuten.
Vorsitzender : Herr Moll.
Schriftführer : Herr Martens.
In den Verein neu aufgenommen sind die Herren:
Medizinalrat Dr. M i 1 1 e n z w e i g, Steglitz, Filandastr. 32,
Dr. Winternitz, SW., Dessauerstr. 15,
Oberlandesgerichtsrat a. D. Petrich, W., Pallasstr. 7/8.
Rechtsanwalt Dr. B i e b c r , C, Kaiser-Wilhehnstr. 39.
Zur Aufnahme gemeldet sind die Herren:
Rechtsanwalt Westmann, C, Niederwallstr. 37,
Dr. H a 1 p e r n , Wilmersdorf, Kaiserplatz 4a,
Notar und Rechtsanwalt Dr. Kallinowsky, Bernau.
Herr Ferd. Jak. Schmidt hält den angekündigten Vortrag :
„Psychologie und Philosophie.**
Das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie ist heute eine viel er-
örterte Frage. Während die Einen der psychologischen Forschung überhaupt
die Möglichkeit abstreiten, jemals Wissenschaft im strengen Sinne zu werden,
behaupten andere, nicht nur daß sich Philosophie schlechthin in Psychologie
auflösen müsse, sondern daß diese die Grundlage der Geisteswissenschaften,
ja aller Wissenschaft überhaupt sei. So erklärt Kant, daß empirische
Seelenlehre jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden
Naturwissenschaft schon deshalb entfernt bleiben muß, weil Mathematik
auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze nicht anwendbar ist.
W u n d t dagegen meint : „Die Aufgabe der Psychologie als einer allge-
meinen, der Naturwissenschaft koordinierten und sie ergänzenden empi-
rischen Wissenschaft findet ihre Bestätigung in der Betrachtungsweise der
sämtlichen Geisteswissenschaften, denen die Psychologie als Grundlage
dient. — Dies Verfahren der psychologischen Interpretation in den einzelnen
Geisteswissenschaften muß demnach auch das Verfahren der Psychologie
selbst sein, wie es durch ihren Gegenstand, die unmittelbare Wirklichkeit
der Erfahrung, gefordert wird.** Nun kann jedenfalls nicht in Abrede ge-
stellt werden, daß sich die Psychologie selbst in der Tat auf der Grundlage
der Physiologie als ein Zweig der empirischen Wissenschaft konstituiert hat,
und ebenso muß ferner zugegeben werden, daß die psychologischen Vor-
aussetzungen allerdings einen Hauptfaktor der geisteswissenschaftlichen Me-
thode auf dem Gebiete der theologischen, juristischen, philolog^hen
Forschung ausmachen, — aber damit ist die gekennzeichnete Streitfrage
noch nicht im mindesten entschieden. Denn die Psychologie, wie sie von
Weber und F e c h n e r als empirische Wissenschaft begründet worden
ist, ist streng genommen nicht mehr und nicht weniger als eine Hilfswissen-
schaft der Physiologie, und andererseits ist diese physiologische Psychologie
keineswegs dasselbe, was die Theologen, Juristen, Philologen usw. bei
ihren Untersuchungen unter psychologischer Grundlage verstehen. Dazu
kommt, daß die Geisteswissenschaften unserer Tage auch so noch viel
weniger durch die psychologische, als durch die historische Empirie be-
SitsungibericJiU. 497
stimmt sind. Es muß daher als ein Irrtum bezeichnet werden, wenn
W u n d t u. a. die physiologische Psychologie als Gnmdwissenschaft der
Geisteswissenschaften ausgeben.
Will man aus diesen einseitigen Gegensätzen herauskommen, so muß
man einsehen lernen, daß die Wissenschaft als Ganzes zweier verschiedener
Forschungsarten bedarf. Die eine ist die Empirie oder Tatsachenerkenntnis,
und sie hat es zu tun mit der Unterscheidung, Beschreibung, Bestimmung
des Besonderen und der besonderen Erscheinungszusammenhänge. Ein
solches Besonderes sind auch die subjektiven, unmittelbaren Erfahrungs-
prozesse des menschlichen Individuums, und insofern ist auch die psychische
Erfahrungskunde eine empirische Forschungsart. Alle bloße Tatsachen-
erkenntnis aber gibt nur ein Wissen und noch keine Wissenschaft, denn zu
dieser gehört, daß ihre Erkenntnisse notwendig und allgemeingiltig seien,
und einen solchen Charakter hat das bloß empirische Wissen niemals.
Zu dieser Untersuchungsart muß daher noch die andere hinzutreten, welche
erst die Verwandlung des Wissens in Wissenschaft ermöglicht. Diese ist
nicht auf das Einzelne, Besondere, Unterscheidende, Mannigfaltige des Er-
fahrungszusammenhanges gerichtet, sondern auf das aller nur möglichen
Erfahrung schlechthin Gemeinsame, Unveränderhche, Einheitliche. Was aber
als solches erkannt wird, das muß als notwendig und allgemeingiltig
eingesehen werden und bildet so das wahrhafte Fundament aller Wissenschaft
überhaupt. So ist der Raum die Grundbestimmung aller äußeren fr-
fahrungszusammenhänge durchweg. Was daher die Mathematik von dem
Raum als solchem als notwendig nachweist, das muß auch von den einzelnen
räumlichen Gegenständen unbedingt gelten, und eben deswegen ist die
Mathematik die Grundwissenschaft aller echten Naturwissenschaft. Nun
muß es aber ein noch Alljgemeineres geben, was die äußere und innere
Erfahrung zugleich konstituierend durchdringt, und demnach muß es
auch eine Wissenschaft geben, welche sich mit der Ermittlung dieses letzten
und höchsten Gemeinsamen aller möglichen Erfahrung überhaupt befaßt.
Diese Wissenschaft muß zugleich die Grundwissenschaft aller anderen sein,
und das ist die Philosophie. Diejenige Erfahrungsfunktion aber, durch
welche die Einheit und das durchgängig Gemeinsame des unendlichen Er-
fahrungszusammenhanges erfaßt wird, ist das denkende Begreifen; was
daher von diesem gilt, muß eine notwendige Bestimmtheit aller nur mög-
lichen Erfahnmg sein, und daher kann es Wissenschaft nur geben, sofern
eine Tatsachenerkenntnis begrifflich konstituiert wird. Ganz in diesem
Sinne sagt einer der größten Naturforscher, Justus Liebig: „Da die
ganze Anzahl der Bedingungen oder Teile aller Naturerscheinungen be-
grenzt und verhälti^smäßig klein ist, so gelingt es zuletzt, alle Naturer-
scheinungen in Begriffe aufzulösen. Tausend Tatsachen für sich ändern den
Standpunkt der Wissenschaft nicht, und eine davon, welche begrifflich
geworden ist, wiegt, in der Zeit, den Wert aller andern auf.**
Daraus folgt aber unwiderleglich, daß die physiologische Psychologie
und die Philosophie sich ergänzende, aber als solche entgegengesetzte
Forschungsarten sind, so daß keine auf die andere zurückgeführt werden kann.
Jene hat es mit der Erforschung der empirischen Tatsachenerkenntnis
zu tun, diese mit der Einheit und durchgehenden Gemeinsamkeit der Er-
498 SittungsberichU,
fahningskonstitution überhaupt, kurz mit dem Begriff der Erfahrung. Ist
die Psychologie außerdem eine Hilfswissenschaft der Physiologie, so g^
hört sie in das Gebiet der empirischen Naturwissenschaften, und es kann
nur eine Beeinträchtigung ihrer selbst sein, wenn sie nach altem aka-
demischem Gebrauch noch immer wie die rationale Psychologie bloß tun
dieses Namens willen mit der Philosophie zusammengekettet wird. Bildet
aber nicht das empirische Tatsachenwissen, sondern der konstituierende Tat-
sachenbeg^f das Fundament der Wissenschaft, so ist die Philosophie,
nicht die Psychologie wie von altersher die Grundlage aller wissenschaft-
lichen Erkenntnis überhaupt. Die Aufgabe der Psychologie ist die Er-
weiterung und genauere Bestimmung des seelischen Tatsachenwissens.
(Autorreferat.)
Eine Diskussion fand nicht statt.
Schluß der Sitzung 97, Uhr.
Sitzung vom 5. November 1903.
Beginn 8V4 Uhr.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr Martens.
Es wurden neu aufgenommen die Herren : Dr. H a^ 1 p e r n , Rechts-
anwalt Westmann, Notar und Rechtsanwalt K a 1 1 i n o w s k y.
Neu angemeldet wurden die Herren:
Regierungsreferendar Schienther, W., Tauenzienstr. 24.
Rentier Klär mann, W., Rankestr. 24.
Herr Franz Oppenheimer hielt den angekündigten Vortrag :
„Das Gesetz der Strömung in der Nationalökonomie."
Es ist nicht möglich, Soziologie mit Sozialpsychologie zu identifizieren.
Denn es gibt immerhin einige Erscheinungen, die nicht unmittelbar sozial-
psychologischer Natur sind, so z. B. ist die Tuberkulose als Massenerschei-
nung sicherlich eine soziale Krankheit. Indessen läßt sich auch diese Er-
scheinung in letzter Linie auf sozialpsychologische Faktoren zurückführen,
und so mag denn mit einer gewissen reservatio gelten, daß alle Soziologie
auch Sozialpsychologie ist.
Die alte klassische Nationalökonomie glaubte ihr ganzes Gebiet be-
herrscht von einem psychologischen Trieb, den mian verschieden bezeichnet
hat als das Prinzip des wirtschaftlichen Eigennutzes, als das Selbstinteresse,
als das Prinzip des kleinsten Mittels und das ich zum Zweck größerer An-
schaulichkeit in eine neue Form geprägt habe als das Gesetz der Strömung
mit dem Inhalt : die Menschen strömen vom Orte höheren Druckes zum Orte
geringeren Druckes auf der Linie des geringsten Widerstandes.
Daß dieses Gesetz die Wiirtschaft beherrschte, daran hat in der Zeit
der klassischen Nationalökonomie und ihrer Nachfolger niemand gezweifelt.
Und bekanntlich erwarteten die alten Nationalökonomen das Eintreten der
sozialen Gesellschaft — damals sagte man Harmonie der Interessen — von
dem Augenblick an, wo dem Gesetz der Strömung keinerlei ernste Hindcr-
Sitmftg^^rkkU*
499
Bisse rnchi bereitet sein würden. Sie fordeiten damals die Beseidg^ng alles
defsen« was man damals Monopole nannte, was ich varschlage, besser als
feudale Machtposition zu betrachten, und erreichten in der Tat in den
westeuit^paischen Kulturländern die ziemlich radikale B^seitigmig alles dessen,
was man als Monopole erkennen konnte* Nun konnte die Harmonie der
Interessen kommen^ wenn sie wollte; aber sie wollte nicht. Es ist bekannt,
daß die Anfänge des Kapitalismus tmsagbares Elend anstatt des vorausge-
sagten Glückes aller brachten.
Der Unter schied jtwischen der wissenschaftlich berechneten Voraussage
des vtra der klassischen Nationalökonomie empfohlenen Experiments und
seinem tatsächlichen Erfolge kann auf zweierlei Weise erklärt werden;
entweder war eine Prämisse falsch oder es waren noch nicht alle Macht-
positionen beseitigt. Der ersten Ansicht sind die bisher herrschenden Schulen
der Nationalökonomie. Der Staatssozialismus und der Historismus leugnen^
daß die Menschen vom Gesetze der Strömung beherrscht werden. Es wirken
auf sie außer dem natürlich nicht geleugneten wirtschaftlichen Eigemmci
noch eine ganze Menge anderer Triebkräfte ein: die Triebe des Familien-
sinns, der Vaterlandsliebe, des Ehrgeizes, der Geschlechtsliebe, der Mildtätig-
keit usw, usw. und zwar jeweilig in ganz verschiedener Stärke; und so
sei CS denn ganx unmöglich, eine Berechnung anzustellen, wie sich der Durch-
schnittsmensch im Durchschnitt verhalten werde, womit dann glücklich
eine Basis gewonnen war, von der aus Nationalökonomie als Wissenschaft
überhaupt unmöglich ist, da jeder Versuch einer quanLttativen Abschätzung
der miteinander konkurrierenden Kräfte a Jimine abgelehnt wird.
Marx erklärte die Diff cremt zwischen Voraussage und Ergebnis des
über all stischen Experiments anders. Nach ihm unter! ic^n zwar die Men-
schen dem Gesetze der Strömung, aber das Gesetz der Strömung führt
nach Beseitigung aller feudalen Machtpositionen automatisch tut Heraus-
bildung einer nicht feudalen, der kapitalistischen Machtposition, die die
Volkswirtschaft mindestens so fälscht, wie jene alten Monopole es getan.
Einmal durch außerökonomische Gewalt gesetzt, muß sich nach ihm das
Klassenverhältnis zwischen Kapitalbesitzer und kapitallosem Arbeiter, das
Kapital Verhältnis immer wieder automatisch im Produktionsprozeß selbst
^^eprodtuieren, und so kann es nicht eher zur Harmonie der Interessen kom-
^^■nen, als bis die Wirtschaft der freien Konkurrenz, die Marktwirtschaft,
^B^ch überlebt hat und bis der Schmetterling der markt losen Zukunftsg^sell-
^H^haft aus dem durchbrochenen Kokon auskriecht.
^H Diesen beiden Erklärungen setze ich eine andere gegenüber. Ich be*
^^paupte, daß nicht alle feudalen Machtpositionen beseitigt sind und daß nach
^^pcseitigtmg der letzten wichtigsten, des Großgnmdeigentums, dennoch die
* Harmonie der Interessen eintreten wird, die der alte Sozialliberalismus prophe-
^ieit hat. Das Großgrun^eigentumj, das übrigens schon Adam Smith hier
^■^nd da als Monopol erkannte und anerkamite, ist durch außerökonomische
^"Gewalt entstanden und konnte nicht andeiB als durch atißeröfconotnische Ge-
I walt entstehen. Daß es tatsäclilich die Ursache der mangelhaften volks-
^^riftscliaftlichen Verteilung ist, wird erstens durch die Statistik rrharirt,
^HUe klar nachweist, daß die Armee freier t\rbeitcr» ohne deren Vorhanden-
^K^n das Kapitalverhältnis nicht existieren könnte, sich in der für den
500 Sütungsberükte.
Fortbestand des Kapitalismus notwendigen großen Zahl ausschließlich in
den Bezirken des Grundeigentums rekrutiert, beweist die Wirtschaftsge-
schichte, indem sie zeigt, daß in den Ländern oder in Zeiträumen, in denen
kein Großgrundeigentum existierte, sozial gesunde Verhältnisse mit großer
Gleichheit der Klassen- und Vermögensbedingungen vorhanden sind (Deutsch-
land vom 11. — 14. Jahrhundert, China, Utah usw.) und beweist schließ-
lich die deduktive Rechnung. Es ist mir gelungen, rein durch mathematische
Berechnung aus dem Gesetz der Strömung den heutigen Zustand der west-
lichen Kulturwelt bis ins letzte Detail abzuleiten und zwar folgendermaßen:
Ich ging von der gewöhnlichen grundfalschen Konstruktion aus, wo-
nach die Völker als eine Gesellschaft von freien imd gleichen Genossen
in die Geschichte eintreten, nur mit dem Unterschied, daß ich mir der Un-
wirklichkeit der Konstruktion bewußt war. Nimmt man hier friedliche Ver-
hältnisse und Wachstum der Bevölkerung an, so muß es schließlich zu
einer arbeitsteiligen, in städtische Industrie und ländliche Urproduktion
gegliederten Volkswirtschaft kommen, in der die volle Harmonie aller wir!
schaftlichen Interessen besteht, in der grobe Verschiedenheiten des Grund
eigentums ebensowenig existieren können, wie grobe Verschiedenheiten des
Kapitaleinkommens usw. Hier gibt es keine freien Arbeiter, infolgedessen
kann Geld niemals zu Kapital, d. h. Mehrwert heckendem Wert werden
und deswegen steigt der Lohn aller Arbeiterklassen — und erhält jeder
Arbeiter mit der steigenden Arbeitsteilung und der im Zusammenhang da-
mit aufblühenden Technik seinen Anteil an der gesteigerten Güterproduk-
tion, und steigender Wohlstand der ganzen Linie bei vernünftiger Gleich-
heit aller Einkommen ist für die Dauer verbürgt.
Jetzt führe ich aber in diese Rechnung die feudale Machtposition des
Großgrundeigentums in genügendem Umfang ein, d. h. eines Instituts, das
sich unter dem Gesichtspunkt der volkswirtschaftlichen Verteilung charak-
terisieren läßt als ein Stück landwirtschaftlich genutzten Bodens, von dessen
Ertrag die Bebauer ein wenig veränderliches Fixum, der Titulareigentümer
aber den gesamten mit der volkswirtschaftlichen Produktivität stark steigenden
Rest erhält. Dann tritt das Gesetz des einseitig wachsenden Druckes in
Kraft. Ein ungeheuer viel größerer Teil des Nachwuchses der Landarbeiter-
bevölkerung strömt in die Städte, Geld wird Kapital, der Mehrwert entsteht
und es entwickeln sich sämtliche Erscheinungen des Kapitalismus samt
der kapitalistischen Verkäuferpsychologie, aus der u. a. die Phänomene
des kranken Wettbewerbes und der Krisen direkt folgen.
Derart ist bis zur Widerlegung dieser meiner Ausführungen grundsätzlich
die Meinung der altklassischen Schule, des sozialen Liberalismus wieder
hergestellt, wonach nach Beseitigung aller Monopole die soziale Harmonie
sich durch das Walten des Gesetzes der Strömung herstellen muß. Der
Fehler steckt nicht im Ansatz des Rechenexempels, sondern in seiner Aus-
rechnung. Man hatte eine feudale Machtposition für ein legitimes Produkt
der ökonomischen Differenzierung angesehen. Und so stellt sich als Auf-
gabe der Sozialpolitik die Ausscheidung dieser Machtposition aus dem Wiit-
schaftskörper dar oder vielmehr die Beförderung der unwiderstehlichen Ten-
denz, die im Wege der Selbstheilung auf Ausstoßung dieses feudahrecht-
lichen Fremdkörpers in der tauschrechtlichen Gesellschaftsorganbation der
SüzungsbeiickU, 501
Gegenwart hindrängt. Das Großgrimdeigentum geht auch ohne Mitwirkung
praktischer Volkswirte an seinem Einfluß auf die Wanderbewegung zu
Grunde. Die Auswanderung, die es verschuldet hat, hat die überseeische
Konkurrenz hervorgerufen und dadurch die Preise seiner Produkte nieder-
geworfen, und die inländische Abwanderung, die ebenfalls mit seinem Wesen
notwendig verknüpft ist, erhöht in unaufhaltsam steigender Kurve die Arbeits-
löhne, die es zu zahlen hat. So wird die Gnmdrente die ratio essendi des
Großgrundeigentums von zwei Seiten her unaufhaltsam vermindern und
der Zeitpunkt ist deutlich abzusehen, wo dieser letzte Rest der uralten
Staatsbildung der außerökonomischen Gewalt zusammenbrechen und
verschwinden wird. Dann wird mit der reinen Wirtschaft die soziale
Harmonie eintreten können, und so behält die klassische Schule schließlich
dennoch Recht; denn die von ihr geforderte und durchgesetzte Freizügig-
keit hat in dem Prozeß der Krankheit, den wir Kapitalismus nennen —
jeder Prozeß der Krankheit ist zugleich Prozeß der Heilung — die Ausstoßung
des letzten Monopols vollzogen und derart den Zustand der sozialen Ge-
rechtigkeit und Vernunft vorbereitet. (Autorreferat.)
Diskussion.
Herr Wilhelm Stern macht darauf aufmerksam, daß es psycho-
logisch nicht zutreffend sei, zu sagen, alle Handlungen des Menschen
fließen aus Trieben. Denn es gfibt einerseits Handlungen, die von einem
bestimmten einzelnen Wollen hervorgerufen werden und vollständig bewußt
s^d, d. h. nicht bloß in ihren einzelnen Phasen, sondern auch ihrem Sinne,^
Ziele oder Zwecke nach bewußt sind, und andererseits Handlungen, die
aus Trieben fließen und unbewußt sind, d. h. zwar in ihren einzeln eh
Phasen bewußt, ihrem Sinne, Ziele oder Zwecke nach aber unbewußt sind.
Femer kann Herr Stern dem Herrn Vortragenden darin nicht Recht
geben, daß der Kern der Aufstellungen von Robert Malthus so ganz
zurückzuweisen sei. Er zeigt dies an folgendem Beispiel: Dia Bevölkerungs-
zahl Deutschlands wächst jährlich um ungefähr IVa^- Hiemach müßte
Deutschland in 200 Jahren eine Einwohnerzahl von imgefähr 240 Mill.
haben. Daß aber ein Land, welches zwischen den Breitengraden liegt,
zwischen welchen Deutschland liegt, selbst wenn die Agrikultur noch so
sehr fortschreiten sollte, nicht jährlich 2 oder 3 Emten bringen kann, ist
klar. Es ist also nicht einzusehen, wie dieses Land 240 Millionen Menschen
sollte ernähren können.
Endlich kann Herr Stern dem Vortragenden nicht darin Recht geben,
daß der Staat hervorgegangen sei aus dem Verlangen eines stärkeren Teils
der Bevölkerung, auf Kosten des schwächeren Teils eine Bodenrente zu er-
langen. Der Staat ist vielmehr, wie er in seiner „Kritischen Grundlegung der
Ethik als positiver Wissenschaft'* (Berlin, 1897) dargelegt hat, entstanden
ans dem Verlangen der Einzelnen, Schutz zu finden hauptsächlich gegen
Angriffe äußerer Feinde und auch gegen schädliche Eingriffe in ihr Recht
von Innen her, d. h. von Seiten der mit ihnen zusammenlebenden Menschen.
Diese beiden egoistischen Motive, zu welchen aber wohl noch als drittes.
Motiv das ideale oder sittliche Verlangen hinzukommt, da bei der Selbst-
hilfe die so schwer einzuhaltende Grenze leicht überschritten wird, diese
502 Sitzungsberichte,
Selbsthilfe unnötig zu machen und, abgesehen von der Notwehr, die Ab-
wehr der Wiederholung des Unrechts und die Ausgleichung des geschehenen
Unrechts in die Hand eines objektiven Richters zu legen, bestimmten die
Einzelnen, gemeinschaftlich in eine staatliche Verbindung einzutreten. Dies
ist der Entstehungsgrund des Staates. Verschieden von diesem ist die histo-
rische Entstehungsweise des Staates, die wohl in den meisten Fällen
auf das Bedürfnis, einen Anführer im Kriege, also einen geeigneten Ver-
teidiger gegen äußere Feinde zu haben, zurückzuführen ist. „Sub hasta",
d. h. also im Kriege ist der Staat meistens entstanden. Der erste Soldat
war der erste König.
Herr Privatdozent Dr. Weber (als Gast) : Oppenheimers Hypo-
these laute: Der Mensch handle nach dem Gesetz des kleinsten Übels.
Das Großgrundeigentum sei nicht die ausschließliche Ursache der Stö-
nmg der allgemeinen Interessenharmonie, vielmehr nur eine einzelne der
Ursachen. Die Quelle des sozialen Übels liege in den Monopolen überhaupt,
in deren Schaffung und Erhaltung die Existenzbedingung feudaler Herrschaft
besteht. Es gebe aber außer dem Großgrundeigeitfum noch andere Mono-
pole mit den gleichen üblen Folgeerscheinungen, so das Bergwerkseigentum,
Sachkapitalien, große Hüttenwerke, Kartelle. Der sachliche Kapitalbesitz
sei tatsächlich wegen der Schwierigkeit seines Erwerbs, seiner Erhaltung
und seiner Vermehrung ein Monopolbesitz.
In Frankreich und der Schweiz spiele der Großgrundbesitz keine erheb-
liche Rolle, trotzdem sei die soziale Knechtschaft des Volkes dort kaum
geringer als in Deutschland. Allerdings sei der „freie Arbeiter** die wesent-
liche Voraussetzung für die Heorschaft des Kapitals, wie dies zuerst Marx
gelehrt habe, aber er rekrutiere sich keineswegs ausschließlich aus dem Groß-
grundbesitz, die ersten kapitalistischen Industrien seien auf den Gebirgen
Deutschlands, in Thüringen, entstanden.
Herr Kantorowicz: Während die klassische Schule ihre Theorie des
absoluten Egoismus nur zur Annäherung an die Wirklichkeit benutzte,
behauptet Oppenheimer mit ihm die Wirklichkeit selbst erklären zu können.
Es gelingt ihm aber nur dadurch scheinbar, daß er da, wo er ung^ünstige
wirtschaftliche Erscheinungen deduziert, tmbewußt die Tatsache des Irrtums
in die Rechnung einführt. So bedeutet ja die Duldung des aufkommenden
Großgrunideigentums — der Wurzel alles Übels nach Oppenheimer -- nur
einen Spezialfall der Unfähigkeit der Völker, ihr Recht zu erkennen, „in's
Minimum des Drucks zu strömen.** Wo er aber als Optimist die Zukunft
auf Grund seiner Reformvorschläge deduziert, da sieht er von allen Störungen
imd Reibungen ab. Deshalb ist auf seine Prophdzeihungen und Erklärungen
nicht zu bauen, obwohl immerhin seine Konstruktion eine erhebliche Be-
reicherung der ökonomischen Einsicht darstellt.
Herr Oppenheimer: Die Einwände, wonach nicht nur das private
Eigentum am Grund und Boden, sondern auch das private Eigentum an den
eigentlichen Produktionsgütem die Schuld an den sozialen Komplikationen
tragen, sind „fetischistische**. Alle Schulen der Nationalökonomie sind sich
darüber einig, daß ein Stamm von produzierten Produktionsmitteln nur
unter der Voraussetzung zu Kapital werden, d. h. Mehrwert abwerfen kann,
daß freie Arbeiter in genügender Anzahl vorhanden sind. Wenn man, wie
SiUungsberichU. 503
Herr Dr. Weber, sowohl die Erklärung der Nachklassiker verwirft, wo-
nach die Reservearmee freier Arbeiter durch ein Übermaß von Geburten
produziert wird (Malthusianismus) ; und ebenso die von Marx gegebene
statistisch unhaltbare Erklänmg, wonach die Maschinerie den Arbeiter über-
zählig macht, dann muß man entweder die von mir gegebene Erklärung
acceptieren, wonach die feudalrechtlich geschaffene Grundbesitzverteilung
die Ursache der Entstehung dieser Arbeiterarmee ist — oder man mub
eine eigene Erklärung zutage bringen. Und das dürfte gegenüber der
imzweifelhaften Eindeutigkeit aller statistischen Ziffern außerordentlich schwer
sein. Ich halte die Formel aufrecht, die ich zur besseren Verdeutlichung des
Sachverhalts aufgestellt habe, ohne damit etwa eine exakte Quantitäts-
bestimmung behaupten zu wollen: „Die Wanderbewegung wächst im Qua-
drat des Großgrundeigentums r* Ohne Großgnmdeigentum keine Massen-
wanderung, keine freien Arbeiter im Überschuß in den Industriezentren,
kein Kapitalverhältnis und daher kein Mehrwert I
Der Einwand, daß in Ländern ohne Großgrundeigentum sich auch das
Kapitalverhältnis entwickelt, ist ohne jedes Gewicht. Ohne die Einwanderung
der Auswürflinge des europäischen Großgrundei^entums gäbe es in Nord-
amerika, in der Schweiz usw. weder Gnmdrente noch Kapitalprofit. Denn es
würden immer zwei Meister einem Arbeiter nachlaufen und sich überbieten.
Niu" die nach Millionen zählende Einwandenmg europäischer Landprole-
tarier konnte es zuwege bringen, daß hier immer zwei Arbeiter einem Meister
nachlaufen und sich unterbieten. Man wird sich also nach stärkeren Argu-
menten imisehen oder meine Erklärung acceptieren müssen, gegen die man
ja eigentlich weiter nichts ein^wenden hat, als daß sie zu einfach ist.
Es ist natürlich eine starke Zumutung an die Fachleute, eine so simple Er-
klärung annehmen zu sollen, nachdem sie Jahrzehnte lang mit den kom-
pliziertesten Theorien die Dinge vergeblich zu begreifen versucht haben.
Aber bis ziu* Widerlegxmg meiner mit allen Mitteln der wirtschaftswissen-
schaftlichen Forschimg fundierten Behauptimg werde ich an dem Satze
festhalten: simplex sigillum veril
Schluß der Sitzung 11 Uhr.
Sitzung vom 19. November 1903.
Beginn 8 Uhr 20 Minuten.
Vorsitzender: Herr Moll.
Schriftführer: Herr Martens.
Neu aufgenommen sind die Herren:
Regierungsreferendar Schienther und
Rentier Klär mann.
Neu angemeldet ist:
Herr Rechtsanwalt Dr. Börne, Kleinbeerenstr. 5.
Herr Dr. Pappenheim hält den angekündigten Vortrag :
„Sehen und Darstellen."
1. Die Darstellungen der Kinder sind anzusehen als Beobachtungs-
protokolle. Sie enthalten die Aufzählung des Bemerkenswertesten, darge*
504 Sitzungsbericht.
stellt durch typische Gebilde (typische Linien und typische Formen),
die das Kind teils erlernt, teils erfunden hat.
2. Die Fertigkeit im Darstellen wächst entsprechend der Kenntnis der
Begriffe, die typische Gebilde ausdrücken (typische Begriffe).
3. Die dem Kinde an sich uninteressanten typischen Gebilde haben
als Kategorien der Körperwelt großen Bildungswert, sind daher möglichst
früh dem Kinde nahe zu bringen (Friedrich Fröbel — John Clark).
4. Die kindlichen Darstellungen einzelner Dinge sind nur so weit ver-
ständlich und unterrichtlich verwertbar, wie in ihnen — bewußt oder un-
bewußt — typische Gebilde zum Ausdruck gekommen sind.
5. Da sich auch die bildenden Künstler dieser typischen Gebilde von
jeher mit Erfolg bedient haben, ist es unwahrscheinlich, daß Kinder durch
die Kenntnis dieser Hilfsmittel des Auffassens und Darstellens in ihrer
eigenartigen künstlerischen Entwicklung schädlich beeinflußt werden.
6. Die Kindespsychologie lehrt uns Entwicklungsgänge des Beobachtens
und Darstellens normaler Kinder. Diese Tatsachen lassen sich dazu ver-
wenden, die Entwicklung dieser Fähigkeiten planmäßig zu beeinflussen
(Unterrichtsmethode).
7. Bei dem Beobachtungsunterricht empfiehlt es sich vor und neben
dem schematischen Zeichnen das schematische Modellieren zur
Bildung klarer Formvorstellungen und der entsprechenden Formbegriffe
anzuwenden.
8. Der Inhalt des Darzustellenden ergibt sich in erster Linie aus dem
Interesse des Kindes. Für die Wahl des Darstellungsmittels ist zunächst
das Verständnis und das technische Können des Kindes maßgebend, ferner
aber das augenblickliche Ziel.
9. Je einfacher das Darstellungsmittel ist, desto mehr wird das Kind
genötigt sein, wesentliche Teile hervorzuheben („kategorisch" zu verfahren).
10. Linien eignen sich besser zum Ausdruck von Richtungs- und Längen-
\'ierhältrüssen als Flächen, da letztere diese Beziehung leicht verwischen.
Linientypen von Menschen und Tieren in verschiedenen Stel-
lungen (C. E. von B a e r - A. Kuli).
11. Aufgabe des zoolog. Unterrichtes ist die Anleitung zur systematischen
und biologischen Betrachtung der Tiere. (Dabei wird einer ästhetischen Be-
trachtung oft bewußt vorgearbeitet). Wenn nun auch hierbei ein Zergliedern
der Organismen nicht zu umgehen ist, so wird immer wieder auf das Tier
als harmonisches Ganze zurückgegangen. Die Linien- und Flächenschemata
ganzer Tiere erleichtem diese Betrachtung und ermöglichen dem Schüler eine
korrekte Nachbildung des vom Unterricht Geforderten. (Autorreferat.)
Diskussion:
Herr Baerwald hob hervor, daß die Reform des Zeichenunterrichts
diese Disziplin in weit höherem Maße als früher der Ausbildung der Beob-
achtungsgabe dienstbar gemacht habe. Sei ehedem das Auge nur in der
Schätzung von Lageverhältnissen, von Winkeln und Distanzen geübt worden,,
so bilde die Verwendung des „malenden Zeichnens" unmittelbar die analy-
sierende Beobachtung, die Fähigkeit, viele Einzelheiten im Wahmehmongs-
objekt zu bemerken.
Berichte und Besprechungen. 505
Herr M a r t e n s gibt zu bedenken, daß mit der Möglichkeit einer
Phantasiebeeinflussung, die das Kind von dem gegebenen Objekte ablenke,
zu rechnen sei. Einzelne der Zeichnungen, die Pferde darstellen sollten,
erinnern an die bekannten Bilderbogen vom „lustigen Esel** etc. Er fragt
den Herrn Vortragenden, ob über die beim Zeichnen mitsprechende Phantasie-
tätigkeit Erwägungen, resp. Beobachtungen angestellt seien.
Schluß der Sitzung lO^/^ Uhr.
Berichte und Besprechungen.
Lay, W. A., Dr., Experimentelle Didaktik. Ihre Grund-
legung mit besonderer Rücksicht auf Muskelsinn,
Wille und Tat. Erster allgemeiner Teil. Wiesbaden
1903. Verlag von Otto Nemnich. Preis geh. M. 9,
in ganz Leinen gebunden M. 10.
Die sehr beachtenswerte Arbeit zeigt die Möglichkeit, ja Notwendigkeit
einer experimentellen Didaktik auf theoretischem und praktischem Wege.
Der bis jetzt vorliegende erste allgemeine Teil enthält die dazu nötigen Vor-
aussetzimgen, das Wesen, die Bedeutung und die Durchführung der experi-
mentellen Forschimgsmethode auf dem Gebiet der Didaktik, indem er
zunächst von kinderpsychologischen, psychologischen und erkenntnistheore-
tischen, ethischen, ästhetischen imd religiösen, pathologischen und hygienischen
Tatsachen und Literaturangaben, insofern sie als Grundlagen des Unterrichts
und seiner experimentellen Erforschung gelten können, ausgeht. Hierbei
ist außer der deutschen auch die einschlägige französische, englische und
nordamerikanische Literatur in ausgiebigem Maße benutzt und zum ersten
Male — gerade dieser Umstand erhöht den Wert der Arbeit wesentlich —
unter besonderer Berücksichtigimg der motorischen Prozesse, namentlich der
Bewegtmgsvorstellungen eine innige Verknüpfung der neueren Psychologie
mit der Didaktik gewonnen.
Besonders gewinnbringend und klar sind die vom Verfasser weiter
angegebesten Resultate experimenteller Forschung und sehr wertvoll die
von ihm bezeichneten Mittel imd Wege zur Lösung didaktischer Probleme
durch Beobachtimg tmd Experiment; auch erscheinen die mitgeteilten typi-
schen Beispiele von zahlreichen didaktischen Versuchen recht dankenswert.
Der Stoff des umfangreichen, gegen 600 Seiten füllenden Buches ist
eingeteilt in folgende Abschnitte: Muskelsinn und Bewegungen im allge-
meinen, Triebbewegungen und Spiele des Kindes, Empfindungs- und Vor-
stellungsbewegungen, Prinzip der Anschauungen, Ausdrucksbewegungen, Ge-
fühle und Affekte, die Aufmerksamkeit und ihre Bewegimgen, Assoziation
und Assimilation, Sach- und Sprachunterricht, Anschauungs- und Gedächt-
nistypen, Phantasietätigkeit, Denktätigkeit, Suggestion, Übung und Ge-
dächtnis, Willensfähigkeit, Willensbildung, Einheit und Sachlichkeit, Natur-
Zdtsdirift fflr pidicogische Psychologie, Pathologie und Hygiene. 6
506 Berichte und Besprechungen,
und Kulturgemäßheit des Unterrichts, Wesen und Bedeutung der experi-
mentellen Didaktik.
Den Berichterstatter hat außer den beiden ersten und den vier letzten
Abschnitten hauptsächlich das Kapitel: ,,Anschauungs- und Gedächtnis-
typen*' interessiert, zumals es durchgehends ganz neue Gedanken und Ideen
enthält. Sehr zu beherzigen ist auch der Inhalt des Schlußkapitels, das vom
Wesen der experimentellen Didaktik handelt und die didaktische Beob-
achtung, Umfrage, Statistik sowie die Bedeutung des didaktischen Expe-
rimentes in trefflichen Ausführungen zur Anschauung bringt, auch mit Recht
die Notwendigkeit der Errichtung pädagogischer Lehrstühle an den Hoch-
schulen betont und die Pflege pädagogischer Forschungen an den Lehrer-
seminaren dringend anempfiehlt.
Jedenfalls wird durch die Veröffentlichung des höchst gediegenen Werkes
allmählich allen gewagten, ja unnützen pädagogischen Theorien und Speku-
lationen, an denen unsere Zeit so reich ist, mit aller £n)iergie entgegen-
getreten werden.
Bei dieser Gelegenheit wollen wir nicht unterlassen, noch einmal auf
die erste größere Schrift des Verfassers: „Methodik des naturgeschicht-
lichen Unterrichts und Kritik der Reformbestrebungen'* 1892 hinzuweisen,
da sie schon ganz klar den hohen Wert der physiologischen Psychologie
für die Pädagogik zeigt. Nicht minder beachtenswert sind des Verfassers
Arbeit über die Psychologie der Zahl und den ersten Rechennunterricht
sowie seine Aufsätze: „Physiologische Psychologie und Schulpraxis" in
der „Deutschen Schulpraxis."
Wollstein. KarlLöschhorn.
Versuche und Ergebnisse der Le h r e r v e r e i n ig u ng für
die Pflege der künstlerischen Bildung in Hamburg.
Alfred Jansen. Hamburg 1901.
Das Buch ist eingeleitet von dem um die Bestrebungen der Hamburger
Lehrervereinigung hochverdienten Prof. A. L i c h t w a r k. Er schildert in
großen Zügen die Entstehung und Entwickelung der Vereinigung, die im Jahre
1896 offiziell zusammengetreten ist, und gibt dann eine gedrängte Übersicht
über die gewonnenen Grundsätze. Das allgemeine Ziel für die praktische Päda-
gogik ist, neben dem Verstände auch die Empfindung zu bilden. Um in Bezug
auf das Was. Wie und Wieweit möglichst das Richtige zu treffen, hat die
Hamburger Lehrerschaft sich sachlich Rat und Tat erbeten bei den eigent-
lichen Fachleuten und das Erbetene auch im weitgehendsten Maße er-
halten. Rein Neues wurde im Unterrichte lücht geboten, sondern die schon
vorhandenen Stoffe wurden nur vertieft und bereichert. Das Gedächtnis
sollte nicht mehr mechanisches Werkzeug zur Bewältigung toten Stoffes,
sondern lebendige Kraft im Dienste des vergleichenden und prüfenden Ver-
standes sein. Aller Unterricht sollte eine Anleitung sein, der Welt selbst-
ständig und unabhängig gegenüberzutreten und in befestigter Gewohnheit das
erarbeitete Wissen zum Erwerb neuer Kenntnisse zu benutzen. Die Fähig*
BerichU und Besprechungen, 507
keit zu empfinden ist an einzelnen Gegenständen der Natur und an einzelnen
Kunstwerken zu üben. £s muß überall und beständig nicht von der Wissen-
schaft, dem Stoff, nicht von dem Vorstellungskreis der Erwachsenen, sondern
von der Natur des Kindes ausgegangen werden.
Nach dieser Einleitung Lichtwarks folgen in Einzeldarstellungen
von verschiedenen Verfassern die eingehenderen Mitteilungen über die Maß-
nahmen imd Leitsätze der Vereinigung. Wir greifen aus den mehr als
zwanzig dieser Abhandlungen und Berichte die wichtigsten heraus.
Zunächst gibt Otto Ernst (O. E. Schmidt) in einer Abhandlung
„Was soll und kann die Schule für die künstlerische Erziehung tun?** eine
Reihe von Grundsätzen, deren wesentlichste sind: Die Universalität ihres
Gebietes und die Totalität ihrer Wirkungen macht die Kunst, die für alle
da ist, zum Erziehungsmittel ersten Ranges. Das Verlangen nach Kunstgenuß
ist in der Masse vorhanden. Es ist die Sache des Lehrers, die Schatzhäuser
zu öffnen, die man Bibliotheken, Museen, Konzerthäuser und Theater nennt,
den Hauptschlüssel zu geben, die künstlerische Empfänglichkeit, das künst-
lerische Bedürfnis. O. E. fordert schließlich: In den Unterrichtsfächern,
die sich mit der Kunst befassen, sollen nun auch tatsächlich nach künst-
lerischen Grundsätzen behandelte künstlerische Stoffe den Ausschlag geben.
Es muß Wandel geschaffen werden im Literaturunterricht, im Gesang-,
Zeichen- und Turnunterricht (Tanz). Es sollen durchaus keine künst-
lerischen Leistungen, wohl aber künstlerische Empfänglichkeit erzielt werden.
Wie die Hamburger LehrerVereinigung bemüht gewesen ist, dieses
Ziel im Zeichenunterrichte zu erreichen, und nach welchen Grundsätzen da-
bei verfahren wurde, wird uns in einer Abhandlung von C. G o e t z e aus-
führlich dargestellt. G. schließt seine Ausführungen mit dem Satze: Das
Zeichnen ist als Erziehungsmittel allseitig auszunutzen im Dienste der künst-
lerischen Erziehung, um das Talent bis zur höchsten Leistung, die Durch-
schnittsbegabung aber so weit zu bilden, daß sie jeder großen Leistung
mit Empfindimg und Urteil zu begegnen vermag, zum andern im Dienste
jeder realistischen Bildung, die ohne ein geschultes Auge und eine geübte
Hand wertlos ist.
In zwei Abhandlungen schildern daran anschließend A. S i e b e 1 i s t
und C. Schwartz die von ihnen geleiteten Kurse, welche man zur
Heranbildung brauchbarer Lehrkräfte für den Zeichenunterricht einge-
richtet hat.
Über die Beziehungen der Schule zum Kunstgewerbemuseum veröffent-
licht der Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe, Justus Brinck-
m a n n einen Aufsatz, der, weil seine Ausführungen sich sehr wohl auf
jede auf gloichen Grundlagen beruhende öffentliche Sammlung verallge-
meinern lasse, allgemeinstes Interesse verdient. B. verurteilt zunächst
auf das schärfste die für die meisten Museen bestehende Anordnung : Kindern
ist der Zutritt nur in Begleitung Erwachsener gestattet. Seine Erfahrungen
haben ihm das durchaus Falsche einer derartigen Bestimmung erkennen
lassen. Er wendet sich dann seinem eigentlichen Thema zu mit der
Frage: Wie und was können Kinder in schulpflichtigem Alter in einem
kunstgewerblichen Museum lernen, und was kann die Schule hierzu bei-
6»
508 Berichte und Besprechungen.
tragen? Den zweiten Teil dieser Frage beantwortet B. dahin, daß dem
Lehrer die Aufgabe zufällt, die Schüler bei der Betx\achtung auf Wege
zu leiten, die ihrem Verständnis offen liegen und auf denen er zugleich
sicher ist, ihr Interesse zu wecken und wach zu erhalten. In dem, was
er zum ersten Teil seiner Frage zu sagen hat, hebt B. nachdrücklich
hervor, daß das Kind teilnahmlos den schönsten Erzeugnissen alten Kunst-
gewerbes gegenüberstehen wird, wenn diese nicht belebt werden durch die
Deutung ihrer Beziehung zum Leben.
Da es notwendig war, für jede Aufgabe, die sich die Vereinigung %tr
stellt, auch die erforderlichen Lehrer heranzubilden, so wurden auch Übungen
in der Betrachtung von Kunstwerken eingerichtet, über die uns ihr Leiter,
A. Lichtwark, Bericht erstattet. Wie solche Übimgen nüt Schülern
vorzunehmen sind, wurde den Lehrern demonstriert, indem L. in ihrem
Beisein die Übimgen an einer Schulklasse ausführte, wobei es sich zeigte,
daß die Kinder viel unmittelbarer beobachteten als die Lehrer selbst, so daß
diese zu der Überzeugung kamen, daß bei Erwachsenen aus Mangel an
Übung die Fähigkeit zu sehen zurückgehe. Bei diesen Übungen war
stets der leitende Gedanke : Die Kinder müssen selbst beobachten und finden.
Einen eigenen Kunstanschauungsunterricht einzuführen hält L. nicht für
erforderlich, da Zeichen- und Geschichtsunterricht oft Gelegenheit zu einem
solchen bieten. Als erstrebenswertes Ziel hat sich herausgestellt, dabei
einem jeden Kinde eine Reproduktion des betreffenden Werkes m die
Hand zu geben.
In einem Aufsatze „künstlerischer Bilderschmuck für Schulen** geht
der Verfasser, Dr. M. Spanier, von dem Grundsatze aus: Wir müssen
Kinder nicht nur über Kunst belehren, sondern in erster Linie an Kunst
gefwöhnen. Dies kann vornehmlich geschehen, indem wir die Kinder in
der Schule mit wahrhaft künstlerischem Bilderschmuck umgeben. Sp.
macht energisch Front gegen den Bilderschmuck der Schule, der nichts
als religiös, nichts als patriotisch, nichts als belehrend ist, sonst aber durch-
aus keinen künstlerischen Wert besitzt. So wie die Schule bestrebt ist,
zu guter Literatur zu führen, so soll sie auch gute Bilder ansehen lehren.
Stellt sie sich einmal in den Dienst der Geschmäckskultur, so ist auch
ihre eigentliche Hauptpflicht sehen lehren. Sp. erwartet davon mit Recht
eine Hebung des allgemeinen Niveaus künstlerischer Empfindung, eine
Steigerung der künstlerischen Kultur unseres Volkes. Die Frage, welche
Anforderimgen man an die Bilder für den Schulschmuck bei einer sorgfältigen
Auswahl zu stellen hat, beleuchtet Sp. sehr eingehend und berichtet im
Anschluß an seine sehr beachtenswerten Ausführungen über die Maßnahmen,
die die Lehrervereinigimg zur Pflege der künstlerischen Bildung ziu" Er-
langung eines brauchbaren Bilderschmuckes getroffen hat.
In manchen Punkten berührt sich mit dem von Dr. M. Spanier
Gesagten eine Abhandlung „Über Bilderbücher** von C. Weihrauch.
W. fordert von einem jeden Büderbuch, das der künstlerischen Bildung
dienen soll, daß es erstens von Künstlern geschaffen ist (was bisher durch-
aus nicht imm^r der Fall war) und daß es zweitens sich für Kinder
wirklich eigne. Ob letzteres bei einem Buche der Fall ist, ist durch die
BerichU unä B^preckungen. 50^
Erfahnmg festzustellen. Dieselben Forderungen gelten auch für die Illu-
stration in Jugendbüchern. W. weist dann hin auf die BUderbücher von
Speckter, Oskar Fletsch, Busch und namentlich auf die jeder
Anforderung genügenden von Ludwig Richter. Aus der Betrachtung
der diesbezüghchen Werke genannter Meister gewinnt W. folgende Leit-
sätze: Jedes Bild muß ein Kunstwerk sein. Das Bilderbuch muß als ein
einheitliches Ganzes erfaßt werden. Wünschenswert ist es, daß das einzelne
Bild den Anknüpfungspunkt für eine Handlimg bietet. Nachdem W.
Xioch darauf hingewiesen hat, welch vorzügliches Mittel zur Erziehung
des Farbensinnes das BUderbuch ist, bespricht er eine Reihe der in den
letzten Jahren in Deutschland erschienenen Bilderbücher, die die aufge-
stellten Forderungen im großen und ganzen erfüllen imd spricht zum Schluß
die Hoffnung aus, daß auch die g^ßen Meister unserer Zeit es nicht
unter ihrer Würde halten, Bilderbücher zu schaffen.
Gegen die Mißstande im Literatunmterricht an unsem Schulen wendet
sich Dr. J. Loewenberg. Man hat bei der Dichtung in der Schule
zn viel Nebenwerke gesucht: moralische, religiöse und patriotische. Man
darf diese Dinge nicht ab Hauptsache betrachten und der Dichtung etwas
unterlegen, was ihrem innersten Wesen fremd ist. Die Gedichte für Lese-
bücher sind nur nach rein ästhetischen und pädagogischen Rücksichten zu
wählen. — Viel, fast alles für die bleibende Wirkung eines Gedichtes hängt
davon ab, wie es dem Schüler vermittelt wird. Sicherlich falsch ist der
Weg, auf dem das Gedicht zerlegt, zerstückelt, zergliedert und zer-
klart wird. Dem Literaturlehrer muß unbedingt die Kunst des Vortrags
eigen sein. Was für Gedichte gilt, gilt auch für l^ramen. Zu diesem
Punkte gibt L. eine Reihe von Angaben darüber, wie man Dramen in der
Schule lesen soll. Aber nicht nur Gedichte und Dramen, sondern auch Er-
zähTimgen und Novellen gehören nach L. in die Schule. Als ein wichtiges
Mittel zur Bildung des künstlerischen Geschmackes bei gereifteren Schülern
empfiehlt L. die Kritik: Nicht Kritik des Guten, wohl aber des Schlechten.
Als Endziel eines jeden Literaturunterrichts stellt L. den Satz auf: Unsere
Jugend ist so zu erriehen, daß sie nur an musterhaft guter Dichtung Ge-
fallen findet.
Der Erreichung dieses Zieles wird es sicherlich förderlich sein, wenn die
Kinder die Dramen, die sie im Literatutunterricht gelesen, auch im Theater
sehen. Eine viel weitergehende Bedeutimg noch räumt H.Witt in einem Auf-
satze: „Theateraufführungen für Kinder'* der Schaubühne für unsere Jugend
eih. An erster Stelle imtersucht und beantwortet er die Frage, welche
Wirkungen eigentlich Theateraufführungen haben und wie diese Wirkungen
entstehen. Er konmit dabei zu dem Schlüsse, daß Schüleraufführungen
eine unbedingte Notwendigkeit sind, ein Schluß, den der Versuch bestätigt
hat. Es hat sich eben gezeigt, daß die Wirkung der Lektüije auf die
Schüler lange nicht die der wirklichen Aufführung erreicht. Anschließend
gibt W. dann einen Bericht über die Schülervorstelltmgen im Hamburger
Stadttheater.
Unter den zahlreichen Ausschüssen der Hamb. Lehrervereinigung ist
auch ein „Ausschuß für das Studium der Kindheit". tn>er seine Tädgküeit
berichtet uns R. Roß. Eingesetzt wurde dieser Ausschuß, um die Maß-
510 Berichte und Bespt echungen.
nahmen, die zur Heranbildung eines kunstsinnigen und schönheitsfreudigen
Geschlechts als geeignet erscheinen, psychologisch zu beg^ründen und zwar
unter besonderer Berücksichtigung der psychischen Eigenart der Kindes-
natur. Am dringendsten verlangte die Frage des Zeichenunterrichtes nach
einer psychologischen Behandlung. Der Ausschuß hat 1898 in Verbindung
mit der Zeichenkommission eine Ausstellung von freien Kinderzeichnungen
veranstaltet, in deren Katalog „Das Kind als Künstler" C. Götze eine
instruktive Übersicht über die einschlägigen Forschungen gegeben hat.
Im Anschluß daran versucht R., etwas tiefer in das Verständnis der Kinder-
zeichnungen und der damit zusammenhängenden Fragen einzudringen. Am
Schluß seiner Abhandlung stellt R. den Satz auf: Die ästhetische Bildung
muß als gleichberechtigt mit der logischen und sittlichen Bildung anerkannt
werden.
Man hat der Hamburger Lehr erver einigung oft den Vorwurf gemacht,
daß sie einem gewissen Ästhetizismus huldige. Wer ihre „Versuche und
Ergebnisse" gelesen hat, der wird ohne weiteres zugeben müssen, daß die
Vereinigung den pädagogischen Gesichtspunkten den breitesten Raum gibt.
Mit dem von ihr erzielten Gesamtergebnis kann die Vereinigimg' sehr wohl
zufrieden sein. Nachdem sie einmal erkannt hatte, daß die Erziehung zum
Kunstgenuß neben der intellektuellen und moralischen Heranbildung ein
wesentlicher oder gar gleichberechtigter Faktor bei der Erziehung unserer
Jugend ist, hat sie keine Gefahr und keine Mühe gescheut, um alle Schwierig-
keiten aus dem Wiege zu räumen und dem vorgesteckten Ziele näher zu
kommen. Mögen ihre „Ergebnisse und Versuche**, die 1901 zum letzten
Male in zweiter Auflage erschienen sind, ihr in noch recht vielen weiteren
Auflagen zahlreiche Helfer und Freunde werben und so beitragen zur Aus-
breitung ihrer noch oft nicht verstandenen und verkannten Ideen und
Cirundsätze.
Berlin. A. Grünspan.
Gesunde Jugend. Zeitschrift für Gesundheitspflege
in Schule und Haus. Organ des Allgemeinen deut-
schen Vereins für Schulgcsundheitspflege. Im
Auftrage des Vorstandes herausgegeben von
Gricsbach, Dr. med. u. phil., Professor in Mühi-
hausen, Schotten. Dr. phil., Direktor der Oberrcal-
schule in Halle, Pabst, Geh. Regierungsrat Ober-
bürgermeister in Weimar und Korman, Dr. med.
prakt. Arzt in Leipzig. Druck und Verlag von B. C».
Teubner in Leipzig. L Jahrgang 1901, Heft 1—6.
8*. 2 5 6 S.
In einem kurzen Artikel „An die Leser" berichtet Herrn. Grics-
bach, Vorsitzender des , .Allgemeinen Deutschen Vereins für Schulgesund-
heitspflege'" über die Gründung des Vereins und die Ziele, die er verfolgt,
nämlich die Verbreitung der Hygiene in den Schulen. Damit soll gesagt
sein, alle diejenigen, welche direkt oder indirekt an dem Gedeihen der Schule
BeriehU und Bestechungen. 5 1 {
Anteil nehmen, Lehrer und Eltern, Ärzte und Verwaltungen aufzufordern,
zur Förderung hygienischer Grundsätze in den Schulen nach Kräften bei^
zutragen. Ferner bespricht er noch die Grundsätze, nach welchen die vor-
liegende Zeitschrift geleitet werden soll.
Auf einige der Originalabhandlungen wollen wir hier kurz eingehen.
Die Aufgaben der Schulhygiene von Prof. Dr. med. u.
phil. Griesbach. Der Verfasser erzählt, dass es schon im Altertum der-
artige Bestrebungen gegeben hat, jedoch wurde im Mittelalter, zur Zeit der
Scholastik und Patristik, die Schulhygiene arg vernachlässigt und erst im
16. 17. und 18. Jahrhundert sind wieder Männer für die Gesundheit der
Schuljugend eingetreten. Die moderne Schulhygiene hat sich
zu einem speziellen Zweige der hygienischen Wissenschaft ausgewachsen,
und da nicht nur die Art des Unterrichtes schädigend auf den Organismus
wirkt, sondern auch rein äusserliche Verhältnisse, nämlich die Einrichtungen
der Gebäude und Utensilien, ferner das tägliche Zusammensein einer grossen
Zahl von Individuen, derartige Wirkungen ausüben können, so hat sie ihre
Untersuchungen auf sämtliche Einrichtungen der Schule, d. h. auf die ge-
samte Schulordnung auszudehnen. Er teilt die Aufgaben, welche ihr behufs
Bekämpfung der Schulkrankheiten zufallen, in 3 Gruppen ein, 1) die, welche
ihr aus dem Unterrichtssystem und den Unterrichtsmethoden, 2) die, welche
ihr aus den Mängeln der Schulgebäude und deren Einrichtungen erwachsen,
und 3) die, welche sich über die hygienische Aufsicht, d. h. über die An-
stellung, die Dienstvorschriften und das Wirkungsgebiet von Schulärzten
erstrecken.
Bei der Besprechung der Aufgaben der 1. Gruppe sagt er, dass man
in den Mittelpunkt des Unterrichts nur den Menschen, seine Entwicklung,
seine gesellschaftliche und staatenbildende Kraft und seine Ethik stellen
könne. Das sei auch schon im allgemeinen anerkannt, nur stellt man in
vielen höheren Schulen den antiken Menschen als das Menschheitsideal
hin und vergisst, dass der antike Mensch schon längst ausgestorben sei,
dass wir moderne Menschen, besonders dass wir Deutsche sind, dass
deutsche Denkweise und Sprache, deutscher Idealismus im Jugendunter-
richt die erste Stelle einnehmen müsse. Deshalb bekämpft er den fremd-
sprachlichen Unterricht besonders den lateinischen in den unteren Klassen,
denn eine richtige Denkmethode lässt sich nur im Anschluss an eine klare
und deutliche Begriffsbildung erzielen, und der Sprachunterricht kann nur
dazu dienen, die durch die Sinnestätigkeit erlangten Begriffe klar und deut-
lich auszudrücken. Dazu jedoch sind die lebenden, insbesondere die Mutter-
sprache am geeignetsten, weshalb Griesbach den fremdsprachlichen
Unterricht auf das reifere Alter verlegt haben will, wie es eben die sogen.
Reformschulen beabsichtigen. Aber er verlangt nicht nur eine Reduktion
des fremdsprachlichen Unterrichts und einen gemeinsamen Unterbau aller
höheren Lehranstalten, sondern auch eine Verminderung des Unterrichts-
stoffes, der Unterrichtszeit und eine Herabsetzung der Ziele. Nachdem er
noch vorübergehend die Schulexamina als einen wunden Punkt des herr-
schenden Schulsystems bezeichnet, verlangt er energisch die Beseitigung des
wissenschaftlichen Nachmittagsunterrichtes, der eines der grössten Gifte
im Schulbetriebe ist; weil arbeitende Organe viel Blut benötigen, so wer-
512 Berichte und Besprechungen.
den nach der Hauptmahlzeit die Verdauungsorgane Blut an sich ziehen,
welches sie anderen Organen, so auch dem Gehirn, entziehen, wodurch ein
normales Arbeiten desselben illusorisch wird. — Er geht dann auf die
Lage und die Einrichtungen der Schulgebäude ein und empfiehlt als beste
künstliche Beleuchtung der Klassen das elektrische Glühlicht, als beste
Heizungsanlage die Niederdruck-Dampf-Luftheizung. Nachdem er noch
kurz auf die Subsellienfrage eingegangen ist und auch für die Steilschrift
eine Lanze gebrochen hat, geht er auf den dritten Punkt, die ärztliche Auf-
sicht der Schulen, ein und gibt seiner Freude darüber Ausdruck, dass viele
Städte die Theorie schon in die Praxis umgesetzt haben. Sein Ideal wäre,
wenn der Schularzt zum Lehrkörper der Anstalt gehörte. Er spricht dann
noch ausführlich über die Dienstvorschriften der Schulärzte und gibt zum
Schluss der Hoffnung Ausdruck, dass auch die Schulgesundheitspflege voo
dem Verständnis, das man jetzt allgemein der öffentlichen Gesundheits-
pflege entgegenbringt, ihren Vorteil haben wird.
Zur Frage des Nachmittagsunterrichts, von Dr.
H. Schotten, Halle a. S. Der Direktor der hallenser Oberrealschale
verfolgt mit diesem Aufsatz keine Lösung dieser Frage, sondern will uns
nur darüber orientieren, was in dieser Beziehung schon früher geschrieben
und gesagt worden ist, damit so die Frage, die jetzt wieder auftaucht, gründ-
lich behandelt werden könne. Ehe er jedoch auf das Historische eingeht,
erörtert er einige allgemeine Gesichtspunkte und sagt, bei der Besprechung
der Frage müsste ein Unterschied zwischen den unteren, mittleren nnd
oberen Klassen gemacht werden, ferner müssten sich Betrachtungen über
die klimatischen Verhältnisse, abgesehen von den rein lokalen, und über die
Lage der Ferien anschliessen. Diese Erwägungen rechnet er alle znr
Gruppe der pädagogischen, denen sich die der sozialen und sanitären
koordinieren. Bei der Besprechung der ersten Gruppe, der weitaus wich-
tigsten der Erwägungen, kommt er zuerst auf die Möglichkeit der Ver-
teilung der 38 Unterrichtsstunden der oberen Klassen der Oberrealschule
auf die 0 Tage zu sprechen und macht den Vorschlag an 4 Tagen 4 Vor-
mittagsstunden und 3 Nachmittagsstunden, am Mittwoch und Sonn-
abend je 5 Vormittagsstunden zu erteilen. Ferner schlägt er vor, diese
Stunden im Sommer auf die Zeit von 7 — 11 und von 3 — 6, resp. Mittwoch
und Sonnabend von 8 — 1 zu verteilen. Bei dieser Einteilung würde
zwischen Vormittags- und Nachmittagsunterricht eine Pause von im Sonuner
4, im Winter 3 Stunden fallen: doch gewiss ausreichend, um völlige Er-
holung zu sichern und auch zu vermeiden, dass allzubald nach dem Mittags-
mahl schon wieder das Sitzen in der Schule anginge. Zwei Nachmittage
aber blieben — ausser dem Sonntag — in jeder Woche für einigermassen
grössere Spaziergänge übrig, was doch wohl auch als ausreichend an-
gesehen werden dürfte. Weiter geht er auf die Pausenordnung ein und
verlangt ganz energisch die Einrichtung von viertelstündigen Pausen
zwischen den einzelnen Stunden. Direktor Schotten kommt nun anf
die historische Entwicklung der Frage zu sprechen, wie sich, nachdena
anfänglich je 3 Vormittags- und Nachmittagsstunden angesetzt waren, der
Gebrauch herausgebildet hatte, auf den Vormittag 4, auf den Nachmittag
2 Stunden zu legen, und dabei altem Herkommen gemäss die Mittwoch-
Beruhte und Besprechungen. 513
und Sonnabendnachmittage frei waren. Gegen diesen allgemeinen Ge-
brauch wurde nun von Berlin aus in den sechziger Jahren angekämpft, die
Grossstadt stellte ihre Forderungen und die Gründe, die sie für die Ab-
schaffung des Nachmittagsunterrichts geltend macht, sind zum Teil als
soziale zu bezeichnen, denen sich die sanitären zur Seite stellen und mit
ihnen gleichwertig behandelt werden müssen. Bei der sehr eingehenden
Besprechung der Gründe für und wider die Abschaffung des Nachmittags-»
Unterrichtes hält er sich an die Verhandlungen und die Referate der ver-
schiedenen Direktorenkonferenzen der Provinz Preusscn im Jahre 1877,
Posen 1879 und der Provinz Sachsen 1889, die sich alle mit diesem Thema
sehr eingehend beschäftigt hatten. Er konstatiert schliesslich, dass durch
alle Erörterungen ein Zug geht, der auch noch in unseren Tagen für die
Besprechung von Fragen charakteristisch ist: was nämlich hier und da ein-
mal eintreten kann und auch eintritt, das soll von bestimmendem Einfluss
für das Ganze sein, die Rücksicht auf Minoritäten führt zur Vergewaltigung
der Majoritäten. Und man verschliesst sich förmlich gegen die natürlichen
Heil- und Auskunftsmittel und sucht künstliche und widernatürliche auf.
Er ist immer wieder der Ansicht, dass durch seinen Vorschlag, den Nach-
mittagsunterricht erst um 3 Uhr beginnen zu lassen, die meisten Gründe,
die für die Abschaffung desselben ins Feld geführt werden, aufgehoben
würden.
In einem kurzen Aufsatz über: Die Luxferprismen und
ihre elektrolytische Bindung teilt uns F. S. Archen-
hold, Direktor der Treptower Sternwarte, einiges Interessante
über diese amerikanische Erfindung mit, die für alle Gebiete des
öffentlichen Lebens von einschneidender Bedeutung werden wird,
da sie eine intensivere Beleuchtung dunkler Räume durch
Brechung und bessere Verteilung des Tageslichtes vermittels Prismen
ermöglicht. Zwei dem Text beigegebene Reproduktionen von photo-
graphischen Aufnahmen des Maschinenraumes der Königl. Münze mit und
ohne diese Luxferprismen geben eine sprechende Illustration für ihre über-
raschenden Wirkungen. Diese Erfindung hat demnach eine materielle und
hygienische Bedeutung.
Durch einen kurzen Bericht werden wir über die Vorgänge auf der
Sitzung des Allgemeinen deutschen Vereins für
Schulgesundheitspflege auf der 7 2. Versammlung
deutscher Naturforscher und Ärzte in Aachen am 16.
September 1900 unterrichtet. In dieser Sitzung sprachen Dr. med.
Gerhardi- Lüdcnscheidt über „Psychologie in Bezug auf Pädagogik
and Schulhygiene", Dr. Korman- Leipzig über „Samaritereinrichtungen
im Dienste der Schule", Dr. Schmidt- Monnard, Kinderarzt in
Halle über „Die Ursachen der Minderbegabung von Schulkindern".
Mit einem Abdruck der Satzungen des Vereins, seiner Mitgliederliste,
einem Bericht über die Gründung eines Zweigvereins in Mühlhausen i. E.
und mit Besprechungen einzelner Erscheinungen der einschlägigen Litera-
tur schliesst das 1. u. 2. Heft.
Das 8. und 4. Heft bringt uns einen sehr genauen Bericht über die
Verhandlungen der II. Jahresversammlung des All-
514 Berichte und Besprechungen.
gemeinen Deutschen Vereins für Schulgesundheit >
pflege am Freitag den 31. Mai 1901 im Weissen Saal des Karhauses zu
Wiesbaden. Nach den bei solchen Gelegenheiten üblichen Begrüssungs-
reden stand auf der Tagesordnung noch Geschäftliches und Vortrage, von
denen folgende von Bedeutung sind.
Die neue preussische Schulreform in Beziehung
• zurSchulhygiene.
1. Referent Oberrealschuldirektor Dr. H. Schotten- Halle. Er
gibt uns erst einen kurzen historischen Rückblick über die Reformarbeit
im Schulsystem und geht besonders auf die Verhandlungen der beiden am*
Veranlassung unseres jetzigen Kaisers zu diesem Zweck berufenen
preussischen Schulkonferenzen in den Jahren 1890 u. 1900 und die von ihnen
beiden aufgestellten Thesen ein. Hieran schliesst er dann seine Betrach-
tungen an und führt aus, dass er es nicht für richtig halten könne, dass man
die Schulreform auf die sogenannten höheren Lehranstalten beschränk:
hat. Gerade die hygienischen Forderungen müssen dazu führen, auch die
Vorschulen mit in den Kreis der Untersuchungen zu ziehen. Denn hier
in dem zarten Alter ist schon vielfach der Grund für spätere Übel, wie
Kurzsichtigkeit etc., zu suchen. Auch wird in Fragen des Unterrichts und
der Hygiene viel zu viel generalisiert, und dadurch vielfach das Recht der
Minorität in den Vordergrund gestellt. Ferner warnt er noch davor, zu-
viel auf einmal zu unternehmen, und stellt als nächste Aufgabe, neben der
Schularztfrage, für den Verein die Regelung der Ferien hin und damit in
Verbindung die Verlegung des Beginnes des Schuljahres nach den grossen
Ferien, also etwa Mitte September. Am Ende seiner kritischen Be-
merkungen über die Möglichkeit der Durchführung dieser Thesen weist er
noch energisch die Ansicht zurück, dass die Schule allein verantwortlich
gemacht werden solle, sondern auch in Haus und Familie müsse Interesse
und Verständnis für die Gesundheitspflege der Jugend geweckt werden.
Der 2. Referent, Dr. med. K o r m a n , prakt. Arzt in Leipzig, sprach
über dieses Thema vom medizinischen Standpunkt aus und zieht zuerst
gegen die antike Dressur und Frisur und das Monopol der Gymnasien los,
befürwortet mit warmen Worten die Gleichberechtigung aller höheren Lehr-
anstalten und macht seinem Unmut darüber Luft, dass die Gleich-
berechtigung nicht so durchgeführt wird, wie sie beabsichtigt war, sondern
an den Sonderinteressen einzelner Stände scheitert. Er kommt dann auf
die Prüfungen zu sprechen, verwirft sie vollkommen und hofft, dass be-
sonders die Abiturientenprüfung bald abgeschafft werden möchte. Nach-
dem er noch die Kürzung der Winterferien und Verlängerung der Sommer-
ferien und die Verschiebung des Endes des Schuljahres an das Ende der
}j:rossen Sommerferien besprochen hat, fasst er zum Schluss seine Forde-
rungen in 8 Leitsätzen zusammen. Die sich an diese Vorträge anschliessende,
sehr ausgedehnte Debatte war recht lebhaft.
Der nächste Vortrag war über .,D ieschulhygienischenEin-
richtungen der Stadt Wiesbaden" von dem Standpunkt dei
Schulmannes, des Schularztes und des Schultechnikers und Schulbau-
meisters aus.
Berichte und Besprechungen, 515
Als Schulmann sprach Stadtschulinspektor Kinkel- Wiesbaden; er
entwickelte die Schulverhältnisse der Stadt und zwar nur für die Volks- und
Mittelschulen, berichtete über die Klassenfrequenz und ging besonders ein-
gehend auf die Schulbäder ein, die in jeder Schule eingerichtet sind, und
wie die Benutzung derselben gehandhabt wird. In Bezug auf die Schul-
arztfrage, die er streift, wünscht er noch eine Erweiterung der Macht-
befugnisse der Schulärzte. Zum Schluss seiner Ausführungen stellt er
einige Betrachtungen über die Erfolge dieser Einrichtungen, besonders der
Anstellung von Schulärzten, an und teilt mit, dass obwohl noch nicht mal
eine Schulgeneration unter ärztlicher Überwachung durch die Schule ge-
gangen ist, doch schon vieles in Bezug auf die Reinlichkeit der Schüler an
Körper und Kleidern und die Schulluft besser geworden ist. Aber leider
liege ja das Übel viel tiefer in den Schäden unseres Volkslebens, und da
müsste die Sozialhygiene mit allem Nachdruck einsetzen, denn solange
noch Kinder geboren werden, die von schwächlichen, kranken, erblich be-
lasteten, von Alkohol vergifteten Eltern abstammen, Kinder, die von ge-
wissenlosen Eltern in den ersten Lebensjahren geistig und leiblich vernach-
lässigt und verwahrlost werden, solange wird es eine gesunde Schuljugend
trotz aller Schulärzte und hygienischen Einrichtungen nicht geben.
Als Schularzt sprach Dr. F. C u n t z - Wiesbaden über dieses Thema;
er gibt uns an der Hand der Dienstordnung einen Bericht über die Tätigkeit
des Schularztes in Wiesbaden, so über die Untersuchungen der Schulkinder
beim Eintritt und im 3., 5. und 8. (letzten) Schuljahre, über die Ein-
richtung und Ausfüllung des Gesundheitsscheines eines jeden Kindes,
über die ständig abgehaltenen Sprechstunden und die eventuellen Mit-
teilungen an die Eltern. Die bei den Rundgängen sich herausstellenden
Mängel in bautechnischen Angelegenheiten werden vom Arzt in ein
„Hygienebuch" eingetragen und vom Rektor der zuständigen Behörde ge-
meldet. Er bespricht dann auch noch die Einrichtung der Schulhygiene-
kommission, die aus 2 Mitgliedern des Magistrats, 2 Stadtverordneten, dem
städtischen Schulinspektor und einem Schularzt besteht, deren Sitzungen
aber auch der Regierungsmedizinalrat, der Kreisphysikus und erforderlichen
Falles sämtliche Schulärzte beiwohnen.
Als 3. Referent sprach Baurat Genzmer- Wiesbaden als Schul-
techniker und Schulbaumeister über die Lage des Schulhauses zur Himmels-
richtung, über die Grösse des Schulraumes, um einer schädlichen Luft-
verderbnis wirksam entgegen zu arbeiten, über die künstliche Erwärmung
und genügende Ventilation der Räume. Nach kurzer Besprechung der
Subsellien und anderer inneren Einrichtungen der Unterrichtsräume, geht
er auf die Bedürfnisanstalten, die Brausebäder und den Bodenbelag in
Korridoren und Zimmern ein.
Darauf folgte ein Vortrag „Die Einführung einer einheit-
lichen Schreib- und Druckschrift" von Rektor Müller-
Wiesbaden, in dem er sich mit beredten Worten gegen die „Doppelwährung"
in unserer Schrift wendet, zumal es ja nicht etwa nur 2 Alphabete sind, die
gerade unsere Abcschützen lernen müssen, sondern 8, nämlich die deutsche
Schreibschrift klein und g^oss, deutsche Druckschrift klein und gross, la-
teinische Druckschrift klein und gross und lateinische Schreibschrift klein
515 Berichte und Besprechungen,
und gross. Aus diesem Grunde der Überbürdung und einigen anderen tritt
er für die Beschränkung auf ein Alphabet ein, nur frag^ es sich, welches
soll fallen. Er spricht sich nun ganz entschieden für die Beibehaltung der
lateinischen Schrift, der Antiqua, aus, weil das die ursprüngliche sei, und
die sogenannte deutsche Schrift erst nach dem 12. Jahrhundert durch vcr-
schnörkelnde Schreibweise der französischen Mönche aus ersterer ent-
standen sei, ferner sei ja auch die Antiqua die internationale Schrift
Vom Standpunkt des Augenarztes aus sprach Dr. Gerloff- Wies-
baden über dieses Thema. Er zeigt uns, welche Arbeit das Auge leisten
muss beim Lesen und ganz besonders beim Schreiben der Frakturschrift
im Gregensatz zur Antiqua, die in allen Typen einfacher, weniger ver-
schnörkelt und deshalb auch bedeutend übersichtlicher ist als jene. Be-
sonders schwer ist die Arbeit des Lesens für die Kinder, die ja noch nicht
wie die Erwachsenen das ganze Wort überblicken, sondern jeden einzelnen
Buchstaben mit den Augen abtasten und sich erst das Wort bilden. Des-
halb wird das Auge durch die Frakturschrift mehr angespannt, dem Objekt
unwillkürlich mehr genähert und dadurch die unheilbare Krankheit der
Kurzsichtigkeit, die ja anerkanntermassen durch Naharbeit entsteht, erst
hervorgerufen bezw. vermehrt. Diese Gründe fügt er noch denen des ersten
Redners hinzu und fordert auf, mitzukämpfen für die Einführung der la-
teinischen Schrift. Als beredter Beweis für seine Ausführungen waren auf
2 Seiten nebeneinander dieselben Sätze in grosser Fraktur- und grosser
Antiquaschrift abgedruckt, woraus jeder Mensch bei einem Versuch zu
lesen mit zwingender Notwendigkeit ersehen muss, wie unendlich viel über-
sichtlicher die lateinische als die deutsche Schrift ist.
In die sich an diese Vorträge anschliessende, sehr lebhafte Debatte
wurde auch noch die Orthographiefrage mithineingezogen. Den Schloss
der 2. Jahresversammlung bildete ein im Kurhaus veranstaltetes Festmahl
mit Damen mit daran anschliessendem Gartenfest.
Das 5. und 6, Heft wird eingeleitet durch einen Aufruf zur Bildung
eines Zweigvereins für Schulgesundheitspflege in Berlin.
Herr Dr. L. Borne mann- Hamburg gibt uns eine kurze Be-
schreibung der Hamburger Reformschul-Bank, die für die
vom Verein Frauenwohl in Hamburg errichtete „Reformschule" gewählt
worden ist, und im Grossen und Ganzen dem von Sophie Möller und
Einar Sörensen auf der Ausstellung in Bergen (1898) vorgeführten
Bankmodell nachgebildet ist.
In einem etwas längeren Aufsatz bespricht derselbe, Dr. L. Borne-
mann, den Streit der Meinungen in Hamburg über die
sexuelle Belehrung. Er ist der Meinung, dass die Frage nicht
einseitig, etwa nur hygienisch, behandelt werden dürfe. Sie betrifft den
ganzen Menschen und geht zugleich ebenso sehr die Familie wie den Staat
an. Er berichtet, wie ein von der Vorsitzenden des Hamburger Zweig-
vereins der Internationalen Föderation im Volksschullehrerinncnvcrein und
vor schulentlassenen Mädchen gehaltener durchaus sachlicher Vortrag
(„Aufklärung über das sexuelle Leben und hygienische Ratschläge für die
heranwachsende Jugend") von den verschiedenen Seiten aufgenommen
Berichte und Besprechungen, 517
worden ist. Viele waren mit dem Tun der Dame einverstanden, doch
machte die Schulbehörde Hamburgs dagegen Front und drückte ihr Miss-
fallen darüber aus. So kam diese Angelegenheit in die weitere Öffentlichkeit
und auch in die Tagespresse. Es machten sich Stimmen geltend, die eine
Aufklärung durch die Schule schon in den frühesten Jahren verlangen, andere,
die dies nur für ein privates Recht der Familien halten und die Aufklärung
nur durch die Mutter und den Vater erteilt wissen wollen. Ein anderer
Vorschlag geht dahin, in den Fällen, wo es die Familie wegen der
Schwierigkeit dieser Angelegenheit nicht übernehmen wolle, sollen sich
mehrere zusammentun und einen hygienischen Kursus bilden; jedoch ein-
facher und natürlicher geschehe das Erforderliche im Schosse der einzelnen
Familie durch Vater und Mutter; und auf die Frage „Wie soll das ge-
schehen", wird das Büchlein „Die Vermehrung des Lebens" von Direktor
Koch, eines Württemberger Arztes, empfohlen. Die Mehrheit spricht sich
für eine Aufklärung so oder so aus, jedoch fehlt es auch nicht an Stimmen,
die dieses Vorgehen als ein „Grosszüchten" der infolge der „Verwahrlosung
der Familie" und infolge der Aufklärung durch die Tagespresse bereits er-
zeugten „Schamlosigkeit" ansehen. .
In einer Abhandlung „Der Gesundheitszustand der Ele-
mentarschüler in den Dresdener Volksschulen und
die Schularztfrage" von G. Schanze wird von dem Verfasser in
dem ersten Teil seiner Arbeit nachgewiesen, dass der Gesundheitszustand
der Dresdener Elementarschüler ein sehr ungünstiger sei. Zu diesem
Schluss kommt Schanze durch Betrachtungen der ihm zu diesem Zwecke
zur Verfügung gestellten Aufzeichnungen über die Ergebnisse der schul-
ärztlichen Untersuchungen der Schüler. Aus den Tabellen, die er daraus
zusammengestellt hat, geht seine Behauptung klar erwiesen hervor; er
sagt auch noch weiter, dass der Gesundheitszustand der Kinder im wesent-
lichen mit durch die soziale bezw. wirtschaftliche Lage der Eltern bedingt
wird. In dem zweiten Teil seines Themas, die Schularztfrage, verlangt er,
dass die erste schulärztliche Untersuchung des körperlichen Zustandes der
Kinder kurz nach Ostern, allgemein und nach einheitlichen Gesichtspunkten
vorgenommen werden möchte, weiter, dass das Gesundheitszeugnis für
jedes Kind durch die ganze Schulzeit hindurch geführt werden solle. Die
schulärztlichen Untersuchungen müssen öfters wiederholt werden, denn
der Zustand der Kinder kann sich bessern, er kann sich auch verschlimmern,
es können sogar Krankheiten in der Schule erst erworben werden, und
Schule und Pädagogik hätten doch ein lebhaftes Interesse daran, die volle
Wahrheit über den Gesundheitszustand unserer Kleinen, in denen ja die
Zukunft ruht, zu erfahren.
In einem Aufsatz, überschrieben „Der Dresdner Lehrer-
verein erbittet Schulbäder" beruft sich der Verfasser, Ober-
bürgermeister Paul am Ende- Dresden, auf die Ausführungen des
Lehrers G. Schanze und tritt ganz energfisch für die Einrichtung von
Brausebädern, denen er den Vorzug vor dem Bassinbad gibt, in den Schulen
ein und hofft, dass der Lehrerverein Erfolg haben möge mit seinen Be-
strebungen, obwohl im April 1899 ein dahingehender Antrag des Rates von
den Stadtverordneten Dresdens abgelehnt wurde.
5 1 g BerichU und Besprechungen.
Dr. med. I. Steinhardt, Kinderarzt und städt. Schularzt in
Nürnberg, berichtet über den „Fünften Deutschen Kongress
fürVolks- undjugendspicl e", der am 7. u. 8. Juli 1901 in Nüni-
berg tagte. Es hielt zuerst der Leiter, Freiherr vonSchenckcndorff,
seinen Vortrag „Zehn Jahre unserer Arbeit", nach ihm sprach Hofrat Dr.
med. Stich- Nürnberg über „Wert und Bedeutung der Leibesübungen''.
Weitere Vorträge wurden noch gehalten von Dr. med. Schmidt- Bonn
über „Inwiefern tragen die Bewegungsspiele zur Bekämpfung der Volks-
krankheiten, vornehmlich der Tuberkulose, bei?"; von Turninspektor Her-
mann- Braunschweig über „Sind die Bewegungsspiele der Mädchen
künftig noch entschiedener zu fördern, und nach welchen Grundsätzen sind
sie zu leiten?"; von Stadtschulrat P 1 a t e n - Magdeburg über den Satz
„Was kann auch der Zentralausschuss für Volks- und Jugendspiele zur
Fürsorge für die schulentlassene Jugend tun?" Der letzte Vortrag war von
Dr. Koch- Blankenburg a. H. „Über die Notwendigkeit der weiteren
Schaffung von Spielplätzen in Deutschland, und welche Anforderungen sind
an dieselben zu stellen?"
Zum Schluss dieses 5. und 6. Heftes sind noch eine Petition des heraus^
j^ebenden Vereins an das Kaiserl. Staatsministerium von Elsas s-Lothringen,
betreffend die Einführung von Realgymnasien in den Reichslanden, und die
Erleichterung der Reifeprüfung an dortigen höheren Lehranstalten und
diesbezügliche Wünsche von Familienvätern der Stadt Mülhausen ab-
gedruckt.
Unter den „Besprechungen", die den Heften am Ende angefügt sind,
werden die verschiedensten neueren Erscheinungen auf dem Gebiete der
Schulhygiene eingehend besprochen.
Berlin. H. d u B o i s.
Mitteilungen.
Preisausschreiben.
Der „Deutsche Verein gegen den Mißbrauch geistiger
Getränke" wünscht zwei für deutsche Volksschul- Lesebücher geeignete
Lesestücke zu erwerben. Das für die Oberstufe bestimmte Stück soll über
den Alkohol-Mißbrauch tmd seine Bekämpfung in gesundheitlicher, sittlicher,
haus- und volkswirtschaftlicher Hinsicht belehren. Das für die Mittelstufe
passende Stück soll in Form eines Lebensbildes oder einer Geschichte ge-
halten sein. Der Umfang jedes Stückes darf drei Oktav-Druckseiten nicht
Überschreiten.
Jede Arbeit soll ein Motto tragen, das sich auf dem geschlossenen
Briefumschlage befindet, in welchem die genaue Adresse des Verfassers mit-
geteilt wird. Die Einlieferung an die Geschäftsstelle des Vereins, Berlin
W. 15, Fasanenstraße 74, wird bis zum 29. Februar 1904 erwartet.
Die Beurteilung der eingegangenen Arbeiten hat eine aus folgenden
Mitgliedern bestehende Kommission übernommen:
1. Herr Professor Dr. A 1 b r e c h t , Groß-Lichterfelde,
2. Herr Dir. Dr. Alt, Uchtspringe,
3. Herr Rektor Hack, Cöln a. Rh.,
4. Herr Redakteur und Rektor O. J a n k e , Berlin,
5. Herr Rektor Kutsche, Laurahütte,
6. Herr Geh. Reg.- und Schulrat Saß, Schleswig.
Für jedes der beiden Lesestücke sind zwei Preise ausgesetzt. Der erste
beträgt 200 Mark, der zweite 100 Mark. Sollte der Ausfall des Wettbewerbes
dies nötig machen, so kann der Vereinsvorstand auf Antrag der Kommission
eine Zusanmienlegung oder Teilung der vier Preise beschließen. Die preis-
gekrönten Arbeiten gehen zu beliebiger Verwendung in den Besitz des
Vereins über. Das Ergebnis dieses Preisausschreibens wird in den „Mäßig-
keits-Blättern** seinerzeit veröffentlicht.
Blnladang zu eiaem Kongress für experimentelle Psychologie In Qlessen
vom 18. bis 20. Aphl 1904.
Obwohl die experimentelle Psychologie nun schon seit mehr als zwei
Dezennien in Deutschland ihre Pflege findet und überhaupt erst von Deutsch-
land aus ihren Weg genommen hat, so fehlt doch bei uns den psychologischen
Bestrebungen noch ein Vereinigungspunkt, wie ihn sämtliche naturwissen-
schaftliche Disziplinen in ihren Spezialkongressen oder in der allgemeinen
520 Müteäungtn.
deutschen Naturforscherversammlung und ihren besonderen Sektionen b^
sitzen und wie ihn die amerikanischen Psychologen bereits in einem jähiM
stattfindenden Kongresse haben. Ein solcher Vereinigungspunkt ist aber
für die Psychologie nicht weniger ein Bedürfnis wie für die anderen wissea-
schaftlichen Disziplinen. Denn bei der Mannigfaltigkeit der speziellen Foc-
schungsrichtungen, die schon bis jetzt in der Psychologie zu Tage getretcs
sind, und bei der wachsenden Zahl der Aufgaben und Fragen, die von dea
verschiedensten Gebieten menschlichen Wissens, Handelns und Empfindens
aus an die Psychologie gestellt werden, ist es dringend angezeigt, daß den-
jenigen, die an der Arbeit auf dem Gebiete der Psychologie beteiligt sind,
Gelegenheit gegeben werde, durch wissenschaftliche Zusammenkünfte und
persönlichen Verkehr eine leichtere und vollständigere Einsicht in die ad
diesem Gebiete sich regenden Richtungen und erworbenen Anschannngefl
zu erhalten und durch Austausch von Erfahrungen und Gedanken sich Üb-
sichtlich der Methode imd der Zielpunkte ihres Forschens gegenseitig in
fördern.
In der Erkenntnis dieses Bedürfnisses und in der Überzeugung, daß die
experimentelle Psychologie das Zentrum darstellt, an welches sich afle
übrigen psychologischen Bestrebungen mehr oder weniger eng anzuschließa
haben, sind die Unterzeichneten zu dem Entschlüsse gelangt, ihre Mit-
arbeiter auf dem Gebiete der Psychologie zur Beteiligung an einem Koo
gresse für experimentelle Psychologie aufzufordern. Dieser
Kongreß, dessen Verhandlungssprache ausschließlich die deutsche Spradie
sein soll, wird vom 18.-— 20. April 1904 zu Gießen abgehalten werden. G^
nauere Mitteilungen hierüber werden später erfolgen.
Ebbinghaus- Breslau. S. E x n e r - Wien. G r o o s - Gießen.
Hering- Leipzig, von K r i e s - Freiburg i. Br. K ü 1 p e - Würzburg.
M e u m a n n • Zürich. E. Müller- Göttingen. Schumann- Berlin.
S i e b e c k - Gießen. Sommer- Gießen. Stumpf- Berlin.
Ziehen- Halle a. S.
Das Lokal - C o mi 1 6:
Groos. Siebeck. Sommer.
Gefällige Antwort mit Ankündigung von Vorträgen und Demonstradonei
wird erbeten an Prof. Dr. Sommer.
Gießen, Oktober 1903.
Es ist angeregt worden, mit dem Kongreß eine Ausstellung von
Apparaten und sonstigen Hilfsmitteln zu verbinden, die 7ur Ver-
anschaulichung in der Psychophysik imd experimentellen Psy-
chologie benutzter Methoden dienen. Dies kann mit der Einschränkung
geschehen, daß im Wesentlichen nur Apparate und Methoden be-
rücksichtigt werden, welche entweder neu oder in weiteren Kreisen
noch nicht genügend bekannt sind, während eine massenhafte
Ansammlung von beliebigen Instrumenten zu dem Plan des Kongresses nicht
paßt. Es empfiehlt sich, neben den rein physikalischen Hilfs-
mitteln der psychologischen Forschung auch solche Methoden zn
berücksichtigen, die ohne mechanische Instrumente geeignet sind,
MtUgäungm. 521
bei planmäßiger Anwendung Einblick: in die psychologischen Vorgänge zu
ennoglichen. Manche von diesen Methoden könnten durch übersichtliche
Zusammenstellung des damit erhaltenen Beobachtungsmaterials am besten
mastriert werden.
Im Gebiet der technischen Hilfsmittel scheint es erwünscht, daß
nicht nur einzelne Instrumente, sondern ganze Versuchsanord-
nungen zu bestimmten Zwecken in zusammenhängender Weise darge-
stellt werden, daß besonders auch die praktisch wichtige Frage der Ein-
richtung psy chophysischer Laboratorien, z. B. in Form von
Plänen mit Andeutung der Leitungen, der Einordnung der Instrumente u. s. f.
mr Behandlung kommt.
Zur Beteiligung werden hierdurch nur die voraussichtlichen Besucher des
Kongresses, sowie wissenschaftliche Institute und bekannte Universitäts-
Mechaniker eingeladen.
Die Transportkosten müssen von dem Aussteller getragen werden, die
Aufstellung würde durch die psychiatrische Klinik in Gießen geschehen.
Um Anmeldung zu der geplanten „Ausstellung von Apparaten und
Methoden aus dem Gebiet der experimentellen Psychologie" wird ge-
beten an Prof. Dr. Sommer.
Gießen, November 1903.
Es haben bisher Vorträge und Demonstrationen angemeldet :
1. A c h - Göttingen :
1) Über das Hippsche Chronoskop.
2) Experimentelles über die Willcnstätigkeit.
2. A m e n t - Würzburg :
Das psychologische Experiment an Kindern.
3. A s h e r - Bern :
Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergie.
4. B e n u s s i - Graz :
Ein neuer Beweis der spezifischen Helligkeit (bezw. Dunkelheit) der
Farben. Mit Demonstrationen.
5. D e s s o i r - Berlin :
Experimentelle Untersuchungen über die sogenannten Gemein-
empfindungen.
6. Ebbinghaus- Breslau :
Über die geometrisch-optischen Täuschungen.
7. Elsenhans- Heidelberg :
1) Die Aufgabe einer Psychologie der Deutung als Grundlage der
Geisteswissenschaften.
2) Bemerkungen über die Generalisation der Gefühle.
8. G r o o s - Gießen :
Die Anfänge der Kunst und die Theorie Darwins.
9. Henri- Paris :
Über die Koordination von Bewegimgen.
10. Kohnstamm- Königstein L T.:
Ausdrucksdeterminanten und Ausdrucksbewegungen.
Zdtachrift ffir pldagogische Psychologie, Pübologie und Hygioie. 7
522 MiUeUung^H,
11. Külpc-Würzburg:
Versuche über die Abstraktion.
12. L a y - Karlsruhe :
Das Wesen und die Bedeutung der experimentellen Didaktik.
13. Marbe-Würzburg:
Über den Rhythmus der Prosa.
14. Marti US -Kiel:
1) Zur Untersuchung des Einflusses psychischer Vorgänge auf M
imd Atmung.
2) Demonstration des Apparates zur Lichtunterbrechung.
15. M e u m a n n - Zürich :
1) Eine Erweiterung der experimentellen Gedachtnismcthodcn.
2) Grundlagen der Individualpsychologie.
16. E. Müller- Göttingen :
1) Bericht über Untersuchimgen an einem ungewöhnlichen (^
dächtnis (nebst Demonstrationsversuchen an der betreff endeo Vl^
Suchsperson).
2) Die Theorie der Gegenfarben und die Farbenblindheit.
17. Schumann- Berlin :
1) Ein ungewöhnlicher Fall von Farbenblindheit.
2) Die Erkennung von Buchstaben und Worten bei momcoM
Beleuchtung.
18. Sieb eck -Gießen:
Zur Psychologie des Musikalischen.
19. Sommer- Gießen :
1) Objektive Psychopathologie. <
2) Demonstrationen: a) Umsetzung des Pulses in Töne; b) Elek»
motorische Wirkungen an den Fingern.
20. Stumpf -Berlin:
Über Zurechnung.
21. T sc her mak- Halle a. S.:
Neue Untersuchungen über Tiefenwahmehmung mit besonderer R«^
sieht auf deren angeborene Grundlage.
22. Watt- Würzburg:
Mitteilungen über Reaktions versuche.
23. Weygan dt -Würzburg:
Beiträge zur Psychologie des Schlafes.
24. Wreschner- Zürich :
Experimentelles über Association von Vorstellungen.
26. Ziehen- Halle a. S.:
Messung der Reaktionszeiten bei Geisteskranken und Geistesgesoodei'
Femer werden voraussichtlich Vorträge halten die Herren: Alrnl«'
Upsala, Kiesow- Turin, Rausch b urg- Budapest, W. Stern-BrcslA
möglicherweise auch E 1 1 1 i n g e r - München, S. £ x n e r - Wien, Wit»-
s e k - Graz.
Für die Ausstellung von Apparaten und Methodea
bisher in Aussicht gestellt:
kiüt€üungen. 523
1. Hoef 1er -Prag:
Apparate für 100 psychologische Schul versuche.
2. L a y • Karlsruhe :
Experimentelle Untersuchungsmethoden und Ergebnisse aus dem Ge-
biet der Schulpraxis (Rechtschreiben, Entstehung der Zahlrorstellun-
gen, Gedächtnistypen, psychische Energie).
3. M a r b e - Würzburg :
Serie photographisch hergestellter grauer Papiere.
4. Martins- Kiel:
Apparat zur Lichtunterbrechung.
5. Nagel- Berlin :
1) Apparat zur Demonstration der Vokalkurven.
2) Apparat zur Feststellung der beiden Arten Rotgrünblinder.
6. Oehmke-Berlin (durch Prof. Schumann):
Apparat zur Demonstration des Pulses.
7. Sommer- Gießen:
1) Psychophysiologische Apparate.
2) Zählung von psychopathischen Symptomen.
S. Stern- Breslau und Mechaniker T i e s s e n :
Tonvariator.
9. T i c s s e n - Berlin (durch Prof. Schumann):
Einfacher Kontrollapparat für das Hippsche Chronoskop.
10. T s c h e r m a k . Halle a. S. :
Ein Tierperimeter.
11. Psychologisches Institut in Berlin :
1) Tachistoskop nach Prof. Schumann.
2) Chronograph von Oehmke.
3) Kymographion für Motorbetrieb.
Vielleicht auch :
4) Elektromotor mit Zentrifugalregulator.
5) Serie kleiner Pfeifen.
6) Apparat zur Untersuchung des Einflusses der Accomodation auf
die monoculare Tiefenschätzung.
7) Modell zur Demonstration des Vertikalhoropters.
Im definitiven Programm, das Anfang März zur Versendung kodunt,
wird der Stoff inhaltlich geordnet werden.
Auf verschiedene Anfragen wird mitgeteilt, daß für Demonstrationszwecke
xur Verfügimg stehen: Elektrischer Strom von 110 Volt Spannung, Elektro-
motor von 1 H. P., Batterien für Reaktions versuche, Hippsches Chrono-
skop, Kymographion, Zeissscher Projektionsapparat mit optischer Bank,
Phonograph mit elektromotorischem Antrieb usw.
Um weitere Anmeldungen bis zum 20. Februar wird gebeten.
Prof. Dr. E. Müller, Prof. Dr. Sommer,
Göttingen. Gießen.
Leo Hirscklafl
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Strebvm^em, Grmmd^esetxe des seelisckea Gesckekem&)
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Schriftleitung : F. Kemsies, Schöneberg, Hauptstr. 106 und L. Hirschlaff, Berlin W., Litiowslr. 88b.
Verkg von Hemunn Walther, Verlagsbuchhandl., O. m. b. H., Berlin SW., KoiiiiiwiidaBtCBft 14.
Drude: Deutsche Buch- und Kunstdruckerei, O. m. b. H., Zossen— Berlin SW. 11.
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